Gewerkschaften, Unternehmerverbände und Staat feiern „100 Jahre Sozialpartnerschaft“

Am 16. Oktober fand im Schlüterhof des Deutschen Historischen Museums eine Veranstaltung ganz besonderer Art statt. Die Spitzen von Gewerkschaften und Unternehmerbänden feierten „100 Jahre Sozialpartnerschaft“. Die Festrede hielt der erste Repräsentant des Staates, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

Eingeladen zu dem Festakt hatten Ingo Kramer, Präsident des Bunds Deutscher Arbeitgeber (BDA), und Reiner Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Unter den illustren Gästen saßen Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD), Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) und die französische Arbeitsministerin Muriel Pénicaud.

Bemerkenswert ist vor allem das Datum, das die Veranstalter zum Ursprung der „Sozialpartnerschaft“ erklärten: das Stinnes-Legien-Abkommen vom 15. November 1918. Man hätte dafür auch etliche Ereignisse der Nachkriegszeit finden können. Etwa die „Konzertierte Aktion“, die 1967 gegründet wurde, um die Kontrolle über die aufbrechenden Arbeitskämpfe und Jugendrevolten aufrecht zu erhalten. Sie hätte es erlaubt, unter Verweis auf die damals zugestandenen Lohnerhöhungen und Sozialreformen ein paar blasse Erinnerungen an einen steigenden Lebensstandard wachzurufen. Doch den Veranstaltern ging es nicht um solche Erinnerungen. Sie entschieden sich für ein Ereignis, das verheerende Folgen für die Arbeiterklasse hatte und das deutlich macht, welche reaktionären Ziele die „Sozialpartnerschaft“ heute verfolgt.

Das Stinnes-Legien-Abkommen stellte die Weichen für die blutige Niederschlagung der revolutionären Aufstände, die sich nicht mit dem Sturz des Kaisers zufrieden geben wollten und eine sozialistische Gesellschaft anstrebten. Es setzte die verhängnisvolle Entwicklung in Gang, die 1933 in der Nazi-Barbarei gipfelte. Die Feier im Schlüterhof ist ein unmissverständliches Signal, dass sich Gewerkschaften, Unternehmerverbände und Staat darauf vorbereiten, wieder mit derselben Brutalität gegen die Arbeiterklasse vorzugehen.

Das Stinnes-Legien-Abkommen wurde sechs Tage nach dem Kieler Matrosenaufstand, dem Beginn der deutschen Novemberrevolution, von 21 Arbeitgeberverbänden und sieben Gewerkschaften in Mühlheim/Ruhr vereinbart. Es hatte die Aufgabe, der revolutionären Welle die Spitze zu brechen und die Forderung nach Sozialisierung abzuwehren, die in der Arbeiterklasse weit verbreitet war.

Millionen von Arbeitern waren in den vorangegangenen Tagen aus den Betrieben auf die Straßen großer und kleiner Städte geströmt. Nach vier Jahren blutigen Gemetzels für die Eroberungsziele der deutschen Banken und Großindustriellen machten sie den Kapitalismus für die zwei Millionen Gefallenen, vier Millionen Verwundeten und eine Million zivilen Opfer von kriegsbedingten Hungersnöten und Seuchen verantwortlich und forderten die Enteignung der Konzerne, die Arbeiterkontrolle in den Betrieben und die Übergabe der politischen Macht an die neu gebildeten Arbeiter- und Soldatenräte.

Diese revolutionäre Bewegung im Keim zu ersticken war das gemeinsame Ziel von Stinnes und Legien und der zur Vertragsunterzeichnung nach Mülheim/Ruhr geeilten Konzern- und Gewerkschaftsführer. Die Gewerkschaften sicherten den um ihre Reichtümer bangenden Herren des Kapitals zu, dass sie energisch gegen alle sozialistischen Bestrebungen in der Arbeiterklasse vorgehen und das Privateigentum an den Produktionsmitteln verteidigen werden. Dafür bekamen sie ein Linsengericht – die Anerkennung der Gewerkschaften als Vertreter der Arbeiterschaft, die Einführung von Betriebsräten in Großbetrieben und den Achtstundentag. Und selbst diese Zugeständnisse waren im Vertrag mit so viel Einschränkungen versehen, dass sie zu nichts verpflichteten. [1]

Schon bei seiner Unterzeichnung 1918 war das Abkommen aus Sicht der Unternehmer 1918 „eine ganz kolossale Errungenschaft“ und seine Bedingungen „viel günstiger als erwartet“. [2] In den nächsten Wochen wurde diese Einschätzung auf furchtbare Weise bestätigt. Die vom sozialdemokratischen Reichskanzler Friedrich Ebert und Reichswehrminister Gustav Noske (SPD) auf die Arbeitermassen gehetzte mörderische Soldateska leistete ganze Arbeit. Zehn Jahre später bildete sie den Kern von Hitlers Sturmabteilung (SA) gegen die Arbeiterklasse.

Der reaktionäre Charakter des „Festaktes“ im Schlüterhof wird besonders deutlich, wenn man einen Blick auf die Biografie der Namensgeber des Stinnes-Legien-Abkommens wirft.

Carl Legien (1861-1920) war seit dem Fall der Sozialistengesetze 1890 Vorsitzender der Generalkommission der Deutschen Gewerkschaften (vergleichbar dem heutigen DGB). In dieser Funktion trug er die Hauptverantwortung für die bedingungslose Unterstützung der Gewerkschaften für den Ersten Weltkrieg. Diese hatten bereits am 2. August 1914, zwei Tage vor der Kriegserklärung der deutschen Reichsregierung, ihren Burgfrieden mit dem Kapital verkündet und zwei Wochen später formell zugesagt, für die Dauer des Krieges jeden Streik und alle anderen Formen von Klassenkampf und politischer Opposition zu unterdrücken.

In den letzten Kriegsjahren, als sich Widerstand, offener Protest und Streiks gegen den Krieg ausbreiteten, arbeiteten die Gewerkschaftsfunktionäre als Betriebspolizisten eng mit den Polizei- und Militärbehörden zusammen. In den Fabriken identifizierten sie Teilnehmer und Anführer dieses Widerstands, die umgehend an die Front geschickt wurden. Den Belegschaften trichterten sie die Kriegsziele der Obersten Heeresleitung als die nationalen Ziele der Arbeiterbewegung ein.

Unter der Militärdiktatur von Generalfeldmarschall Paul Hindenburg, General Erich Ludendorff und General Groener ab 1916 nahmen Gewerkschaftsführer verantwortliche Positionen in den zentralen Ämtern der Kriegsführung ein, im Kriegswirtschaftsamt, im Kriegsernährungsamt und sogar im obersten, rein militärischen Kriegsamt der Obersten Heeresleitung (OHL). [3] Sie sorgten dafür, dass jeder Aspekt des täglichen Lebens der Arbeiter den Kriegszielen des deutschen Imperialismus untergeordnet wurde.

Legien arbeitete bereits damals auch persönlich eng mit General Groener und Vertretern der Industrie zusammen. Auf allen Ebenen der Industrie wirkten die durch das Hilfsdienstgesetz zum ersten Mal staatlich anerkannten Gewerkschaften und ihre Funktionäre in Kriegsausschüssen und Schlichtungsstellen mit der OHL und den Unternehmern zusammen, um für eine effiziente Verteilung der Arbeitskräfte zwischen Schützengräben und Werkbänken sowie einen reibungslosen Nachschub von Munition und Lebensmitteln an die Front zu sorgen.

Hugo Stinnes (1870-1924) war einer der wichtigsten Industriemagnaten des untergehenden Kaiserreiches. Als Kriegsgewinnler und Kriegstreiber personifizierte er die hemmungslose, über Millionen Leichen gehende Gier des Kapitals. Mit seinen zahlreichen, eng miteinander verflochtenen Betrieben der Montan-, Schwer- und Metallverarbeitungsindustrie und Energiegewinnung war er gleich nach Kriegsbeginn zum wichtigsten Lieferanten des Heeres aufgestiegen. Er unterstützte die weitreichenden Pläne, die Eisen- und Kohlereviere in Belgien, Luxemburg und im französischen Lothringen, aber auch Gebiete in Osteuropa, dem Baltikum und der Ukraine zu annektieren, wie Fritz Fischer in seinem Werk „Griff nach der Weltmacht“ dokumentiert hat. [4]

Angesichts der unerwartet langen Fortdauer des Kriegs ohne den erhofften Endsieg forderte Stinnes energisch die Deportation Zehntausender männlicher Arbeiter und Jugendlicher aus dem besetzten Belgien nach Deutschland zur Ausbeutung in seinen Betrieben – und er bekam sie!

Vier Wochen nach der Unterzeichnung des Vertrags mit Legien empfing Stinnes Waldemar Pabst, den Befehlshaber der Garde-Kavallerie-Schützen-Division (GKSD), in seiner Villa in Müheim/Ruhr zu einer persönlichen Unterredung. Er sicherte ihm die großzügige Finanzierung seiner brutalen Truppe zu. Einen weiteren Monat später, am 15. Januar 1919, ermordeten Pabst und seine Soldateska die KPD-Führer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.

Stinnes Generaldirektor Friedrich Minoux hielt auch später ständig Verbindung zu Pabst und sorgte für die wirtschaftliche Absicherung von dessen Aktivitäten – beim Kapp-Putsch, in der Organisation Consul (OC) sowie bei der Ermordung des Zentrumspolitikers Matthias Erzberger und des Außenministers Walther Rathenau, wo Pabst die Hände im Spiel hatte. [5]

Aber auch die anderen, von Reichskanzler Friedrich Ebert (SPD) und Reichswehrminister Gustav Noske (ebenfalls SPD) zur blutigen Niederschlagung der Revolution nach Berlin gerufenen Freikorps wollten finanziert sein. Am 10. Januar 1919 gründete Stinnes zu diesem Zweck mit Spitzenvertretern der deutschen Wirtschaft den „Antibolschewistenfonds“ in Höhe von 500 Millionen Reichsmark. Gleichzeitig beteiligte er sich mit einem Millionenbetrag an der Finanzierung des Medienkonzerns von Alfred Hugenberg, der seine Leser mit nationalistischer und faschistischer Ideologie aufhetzte. Nur ein Jahrzehnt später sollte diese Propagandamaschine dann vollständig Hitler und der NSDAP zur Verfügung stehen.

1923 wurde Stinnes als „Inflationskönig“ berüchtigt. Während die breiten Bevölkerungsmassen durch die Inflation in Not und Elend gestoßen wurden, raffte er mit riesigen Krediten, die er wenig später durch inzwischen wertlos gewordenes Geld zurückzahlte, ungeheure Reichtümer in Form von Konzernanteilen und Immobilien zusammen. Ein Jahr später war er an mehr als 4500 Betrieben des Maschinen-, Schiff- und Fahrzeugbaus, des Zeitungswesens und der Stromversorgung beteiligt. Große Kartelle der Montan- und Schwerindustrie standen unter seiner Führung.

Diese Gestalten sind von den im Schlüterhof versammelten „Spitzen der Gesellschaft“ gefeiert worden. Bundespräsident Steinmeier stellte Stinnes und Legien in seiner Rede als leuchtende Vorbilder dar. „Was mit dem Stinnes-Legien-Abkommen vor 100 Jahren begonnen hat, ist historisch weder erledigt noch erschöpft“, sagte er.

Er forderte Unternehmer und Gewerkschaften auf, die damals begonnene Zusammenarbeit für die Zukunft „stark zu machen“. Dies sei zwingend erforderlich, und zwar nicht einfach aufgrund einer „abstrakten Theorie“: „Denken Sie nur an die größte Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre, vom Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers in Amerika bis zur Dramatik der Staatschuldenkrise in Europa. Diese Krise hatte enorme Auswirkungen auch auf die deutsche Wirtschaft, von den Banken über die Dienstleister bis hinein in den Mittelstand und die klassische Industrie.“

In der Tat ist es diese weltweite, unlösbare Krise des Kapitalismus, die die Vertreter von Unternehmern, Gewerkschaften und Staat zum Schwur auf ein gemeinsames konterrevolutionäres Handeln zusammengetrieben hat. Weltweit nehmen seit der Finanzkrise 2008 die Konflikte zwischen den imperialistischen Großmächten dramatisch zu; auch innerhalb Europas verschärfen sich die Auseinandersetzungen. Die herrschenden Kreise Deutschlands rüsten erneut zum „Griff nach der Weltmacht“. Frank-Walter Steinmeier, vormals Bundesaußenminister, gehört zu den Architekten der Rückkehr des deutschen Militarismus.

Diese kriegerische Außenpolitik geht untrennbar mit einer Verschärfung des Klassenkriegs im Inneren einher. Die in der Nachkriegszeit zugestandenen sozialen Reformen müssen wieder zerstört und ein Polizeistaatsregime errichtet werden. Und erneut stehen damit revolutionäre Klassenkämpfe oder, wie Steinmeier es formulierte, „die Gefahr von Enteignung und Verstaatlichung ganz konkret im Raum“. Die Menschheit steht damit wieder vor der Alternative Sozialismus oder Barbarei.

Anmerkungen

1) Der Achtstundentag sollte in den verschiedenen Industriezweigen nur „entsprechend den Verhältnissen des betreffenden Gewerbes“ eingeführt werden. Ein unveröffentlichtes Geheimprotokoll des Vertrages legte sogar fest, dass der Achtstundentag nur gelten solle, wenn sich auch die Nachbarländer Deutschlands zu seiner Einführung bereit erklärten (Siehe Gerald D. Feldmann, Armee, Industrie und Arbeiterschaft in Deutschland 1914 bis 1918, Berlin/Bonn 1985, S. 418 f.). Er wurde bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs nie verwirklicht.

[2] Bergwerksdirektor Geheimrat Ewald Hilger auf den Beratungen des Vereins der Eisen- und Stahlindustriellen (VdESI) einen Tag vor Unterzeichnung des Abkommens, zitiert nach Gerald D. Feldmann, ebda.

Hilger war bis zu diesem Tage ein erbitterter Gegner der Anerkennung der Gewerkschaften als offizielle Vertreter der Arbeiterschaft gewesen. Er erklärte in derselben Beratung: „Meine Herren. Ich stehe heute vor Ihnen als ein aus einem Saulus gewordener Paulus. Wir kommen heute ohne die Verhandlungen mit den Gewerkschaften nicht weiter. Ja, meine Herren, wir wollen froh darüber sein, dass die Gewerkschaften in der Weise, wie sie es getan haben, sich noch bereitfinden, mit uns zu verhandeln, denn nur durch die Verhandlungen speziell mit den Gewerkschaften, durch unser Abkommen mit den Gewerkschaften können wir Anarchie, Bolschewismus, Spartakusherrschaft und Chaos – wie man das nennen will – verhindern.“ (zit. nach ebda.)

[3] Alexander Schlick, Vorsitzender der Metallarbeitergewerkschaft von Berlin, arbeitete im Kriegsamt in hoher verantwortlicher Position.

[4] Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht – Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18. Düsseldorf 1961, Neuauflage 2013, S. 143 ff.

[5] Siehe dazu ausführlich Klaus Gietinger, Der Konterrevolutionär. Waldemar Pabst – eine deutsche Karriere. Hamburg 2009.

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