Am Montag und Dienstag hielt David North je einen Vortrag an der University of Michigan in Ann Arbor und der Wayne State University in Detroit. Der Leiter der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site, der auch Vorsitzender der Socialist Equality Party der Vereinigten Staaten ist, sprach vor einem großen Publikum von Studenten, Jugendlichen und Arbeitern.
Die Veranstaltungen sind Teil einer weltweiten Vortragsreihe, die das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) anlässlich des 80. Jahrestags der Gründung der Vierten Internationale durch Leo Trotzki 1938 organisiert. In den USA finden in einem Dutzend Städten im ganzen Land Veranstaltungen mit dem Titel „Der Klassenkampf, die Revolution und der Sozialismus im 21. Jahrhundert“ statt. Auch in Deutschland spricht North am 3. November auf einer Veranstaltung in Berlin zum Jahrestag der Vierten Internationale.
Wie North auf der Veranstaltung betonte, setzt die Entwicklung einer sozialistischen Bewegung ein Verständnis der Geschichte voraus. Er betonte die zentrale Bedeutung des Internationalismus und des Kampfs, den Trotzki und die Linke Opposition gegen die stalinistische Theorie des „Sozialismus in einem Land“ geführt hatten.
Im Gegensatz zur Politik der Pseudolinken, die die Arbeiterklasse als revolutionäre Kraft abgeschrieben haben, betonte North die reichhaltige Geschichte des Kampfs der Arbeiterklasse in den USA, vor allem nach der Russischen Revolution 1917. Er ging auf den Streik der Lastwagenfahrer ein, den Trotzkisten 1934 in Minneapolis angeführt hatten, und erwähnte den Sitzstreik in Flint 1936–1937 und das Massaker am Memorial Day 1937.
Wie North betonte, muss jeder, der die Gegenwart verstehen und eine sozialistische Bewegung aufbauen will, auch die Geschichte verstehen. In Ann Arbor erklärte er: „Es ist ein grundlegendes Problem für viele junge Menschen heute … dass ihnen bei der Orientierung die nötigen Kenntnisse der Geschichte fehlen.“
Weiter sagte er: „Die Jugend will herausfinden, was Sozialismus eigentlich ist. Wie ist er zu erreichen? Was ist sein grundsätzliches Ziel? Ohne sich mit der Geschichte zu beschäftigen, lässt sich keine dieser Fragen ernsthaft beantworten.“ North wies darauf hin, dass es im zwanzigsten Jahrhundert die gewaltigsten revolutionären Kämpfe der Geschichte gegeben hatte, sowie auch den Faschismus und zwei katastrophale Weltkriege. Er erklärte: „Wir erleben heute beileibe keine große Wiedergeburt des Kapitalismus, sondern eine Welt, die offensichtlich auf die Katastrophe zusteuert.“
North entlarvte die gefährliche Rolle der Postmoderne, die auf der Ablehnung der objektiven Wahrheit beruht. Die Campus-Zeitung The Michigan Daily hob dies in einer positiven Rezension des Vortrags besonders hervor.
North fuhr fort: „In den geisteswissenschaftlichen Fakultäten vieler Universitäten herrscht ein völlig reaktionäres Klima, auch an der University of Michigan. Die vorherrschende Philosophie ist die Postmoderne, die … aus dem Keller des bürgerlichen Denkens hervorgeholt wurde. Er ist die rückständigste, reaktionärste und unehrlichste aller Herangehensweisen an das Studium oder die Beschäftigung mit der Vergangenheit.“
Er analysierte detailliert die Vorstellungen aus Chantal Mouffes aktuellem Buch Für einen linken Populismus und zeigte den Zusammenhang zwischen den Konzeptionen der Postmoderne und der vorherrschenden Stellung der Identitätspolitik auf. Dazu erklärte er, dass diese pseudolinke Politik im Einklang mit den Interessen einer privilegierten Schicht des Kleinbürgertums steht.
Er sagte: „Die obersten zehn Prozent haben, im Vergleich zum Rest der Bevölkerung, eine äußerst privilegierte Stellung. Wenn man ein fest angestellter Professor ist, gehört man eindeutig zu den obersten zehn Prozent, vielleicht sogar zu den obersten fünf Prozent … Der Angriff auf den Marxismus und das intellektuelle Klima an so vielen Universität … ist Ausdruck der Interessen dieser sehr privilegierten Schicht.“ Identitätspolitik bezeichnete er „nicht als Kampf zur Verbesserung der Bedingungen der breiten Masse. Sie ist ein Kampf um die Verteilung des Reichtums im Umfeld der obersten zehn Prozent.“
Das Publikum nahm Norths Präsentation sehr gut auf. Unsere Reporter sprachen bei beiden Veranstaltungen mit mehreren Teilnehmern.
Aiden, Erstsemester an der University of Michigan in Flint, war über eine Stunde weit zu Norths Vortrag in Ann Arbor hergereist. Auf die Frage, was er an der Veranstaltung am interessantesten finde, antwortete er: „Das Thema Identitätspolitik ist sehr wichtig. Ich lehne sie ab. Der Vortrag hat meine bisherige Vorstellung bestätigt. Ich habe mehr über die Rolle gelernt, die Identitätspolitik bei der Entwaffnung des Klassenkampfes gespielt hat, und dass die Postmoderne heute die gleiche Rolle spielt.“
Aiden erklärte, warum er sich für Sozialismus interessiert: „Ich sehe mich schon als Kommunisten, seit ich dreizehn Jahre bin. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie. Der Kapitalismus ist ein System, das dafür sorgt, dass diejenigen, die die Produktionsmittel kontrollieren, alles haben. Die Arbeiter, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen, haben nichts.“
Weiter erklärte er sein Interesse an Geschichte und dem Schicksal der ehemaligen Sowjetunion. „Ursprünglich hat mein Großvater mein Interesse an Politik geweckt. Er hat im Zweiten Weltkrieg gekämpft, und es hat mich immer interessiert, was während des Kalten Krieges und der Auflösung der Sowjetunion passiert ist.“
Becca, eine weitere Teilnehmerin, arbeitet an der University of Michigan. Sie erklärte, sie habe vor zwei Monaten durch einen Freund von der World Socialist Web Site erfahren und lese sie seither. Sie nahm an dem Vortrag teil, um mehr über den Sozialismus zu erfahren.
Becca erklärte, ihr habe vor allem David Norths Antwort auf eine Frage zum Aufbau einer unabhängigen Arbeiterpartei, im Gegensatz zu einer Politik, die auf die bürgerlichen Parteien Druck ausüben würde, gefallen. North hatte erklärt, die einzige tragfähige Option bestehe darin, eine Massenpartei des Proletariats aufzubauen. Für Becca machte dies die größeren Fragen einer historischen Perspektive deutlich: „Reformen sind gescheitert und nicht mehr möglich“, sagte sie. „Der Sozialismus ist das einzige, was noch glaubwürdig ist.“
Auf die Frage nach dem politischen Klima an der Universität erwähnte Becca, dass beträchtlicher Druck in Richtung der Demokraten vorherrsche. Sie erklärte, wer die Demokraten nicht unterstütze, habe bei Diskussionen während der Arbeit „keine Stimme“.
Weiter erklärte sie, Norths Rede und die Berichterstattung der WSWS spreche sie in ihrer eigenen Situation an. Sie erklärte, sie habe Schwierigkeiten, ihre beiden Kinder zu versorgen, „und ich sehe, dass alle anderen auch [finanziell] kämpfen müssen … Die Demokraten und die Republikaner arbeiten nicht für die breite Masse. Ihnen geht es darum, die Reichen reicher zu machen.“
Dom, ein junger Student an der Wayne State University, erklärte, er sei zu der Veranstaltung gekommen, nachdem er am Tisch der IYSSE einen Handzettel über die Rolle von Bernie Sanders erhalten habe: „Ich war früher ein Anhänger von ihm. Es regt mich wirklich auf, dass er und andere Sozialdemokraten den Sozialismus verwässern. Sanders bezeichnet sich als Sozialisten, aber verteidigt den Kapitalismus. Auch die Außenpolitik der Demokraten dient den Interessen der herrschenden Klasse.“
Dom erklärte, er teile Norths Überzeugung, dass junge Menschen die Lehren aus den Kämpfen der Arbeiterklasse im zwanzigsten Jahrhundert studieren müssten, und bezeichnete dies als sehr wichtig.
Er erklärte weiter: „Ich studiere als Hauptfach Geschichte. Wir müssen die derzeitige Lage und die Bedingungen verstehen. Man muss die Geschichte verstehen, um für den Sozialismus kämpfen zu können. Wir müssen lernen, was funktioniert hat und was nicht. Die Sache mit der Volksfront, von der David gesprochen hat, war mir auch neu.
Ich glaube, was er über Identitätspolitik gesagt hat, war sehr aufschlussreich. [North] hat erwähnt, dass man bei College-Bewerbungen seine Hautfarbe angeben muss. Mein Vater ist weiß, meine Mutter Asiatin. Ich halte es für bescheuert, das auszufüllen. Meine Kämpfe haben mehr mit einem Arbeiter gemeinsam als mit einem, der nur den gleichen ethnischen Hintergrund hat wie ich.
Ich bin 21 und in einer Arbeiterfamilie aufgewachsen. Mein Vater arbeitete bei Ford in der Fabrik in Brownstown, bis er 2008 seine Stelle verlor. Dann wurde unser Haus zwangsversteigert. Im Jahr 2011 haben wir es verloren. Wir mussten ausziehen. Die nächsten fünf Jahre über haben wir in Mietwohnungen gelebt. Meine Eltern haben gerade erst ein neues Haus gekauft. Ich habe aus erster Hand erlebt, wie der Kapitalismus die Arbeitsplätze und Lebensbedingungen der Arbeiterklasse zerstört.“
Dom erklärte, dass ihn diese Erfahrung zur sozialistischen Politik gebracht habe: „Wenn man in der High School ist, weiß man nicht viel. Sanders ist angetreten, als ich noch nicht mit der High School fertig war. Damals habe ich mein Interesse an der Geschichte entdeckt. Man muss sich wirklich auf die Themen einlassen, u.a. darauf, was es für eine Klasse bedeutet, die Produktionsmittel zu besitzen.
Auf der Wayne State habe ich Geschichtskurse belegt, und mein Interesse an der Geschichte des Kommunismus ist gewachsen. Ich habe aber bisher ihre Bedeutung nicht verstanden. Ich dachte, 1917 kam bloß eine neue Regierung an die Macht, so als hätte man einfach einen König gestürzt und eine neue Regierung eingesetzt. Ich habe das nicht als massives Ereignis der Geschichte der Arbeiterklasse erkannt. Jetzt will ich mehr über den Konflikt zwischen Stalin und Trotzki wissen.“
Der Band „Die Frankfurter Schule, die Postmoderne und die Politik der Pseudolinken“ von David North ist hier erhältlich.