Heute ist der 80. Jahrestag des Gründungskongresses der Vierten Internationale, der am 3. September 1938 stattfand. Die Gründung der Vierten Internationale unter der Führung Leo Trotzkis ist ein Ereignis von großer historischer Bedeutung und Aktualität. In den nächsten drei Monaten wird die World Socialist Web Site dieses Jubiläum mit einer Reihe von Veröffentlichungen und Veranstaltungen feiern, die die Bedeutung der Vierten Internationale erklären.
Heute veröffentlichen wir einen Bericht von David North, dem Vorsitzenden der Socialist Equality Party und Chefredakteur der WSWS. North hielt den Vortrag anlässlich des 70. Jahrestags am 1. November 2008 in Ann Arbor, Michigan, am Vorabend der US-Präsidentschaftswahlen, in denen Barack Obama gewann. Zehn Jahre später hat sich die Analyse der politischen Situation, die der Bericht gibt, sowohl in Bezug auf die Politik der Obama-Regierung als auch auf die gegenwärtige politische Krise in den Vereinigten Staaten als absolut richtig erwiesen.
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Es ist etwas mehr als 70 Jahre her, dass die Vierte Internationale in einem Vorort von Paris am 3. September 1938 ihren Gründungskongress abhielt. Wegen "der illegalen Umstände, unter denen der Kongress abgehalten werden musste" - so hält es das Protokoll fest - konnte der Kongress nur einen Tag dauern. Mit den "illegalen Umstände", auf die das Protokoll verwies, waren die unablässige Verfolgung der trotzkistischen Bewegung durch die Polizei des bürgerlich demokratischen Staates in Frankreich, die bewaffneten faschistischen Banden, die ungestraft in großen Teilen Europas agieren konnten und vor allem die brutalen Mörder der sowjetischen Geheimpolizei, der GPU, gemeint, die Stalins Befehle ausführten, Trotzki und seine engsten Mitarbeiter physisch zu liquidieren.
Einen Eindruck von dem Belagerungszustand, unter dem der Kongress abgehalten wurde, vermitteln die Bemerkungen, mit denen Pierre Naville, der damals Anhänger der Vierten Internationale war, die Versammlung eröffnete:
Wegen des tragischen Todes von Klement könne es keinen formellen Bericht geben: Klement hatte einen ausführlichen schriftlichen Bericht vorbereitet, der herumgeschickt werden sollte, aber dieser war zusammen mit seinen gesamten Papieren verschwunden. Daher werde dieser Bericht nur eine kurze Zusammenfassung sein.[1]
Bei dem Toten, von dem Naville sprach, handelte es sich um Rudolf Klement, den verstorbenen Sekretär der Vierten Internationale, der im Juli 1938, weniger als zwei Monate vor der Konferenz von stalinistischen Agenten entführt und ermordet worden war. Er war die vierte leitende Persönlichkeit der trotzkistischen Bewegung, die in dem Jahr vor dem Gründungskongress ermordet worden waren: (1) Erwin Wolf im Juli 1937 in Spanien, (2) Ignaz Reiss im September 1937 in der Schweiz, (3) Leon Sedow, Trotzkis Sohn, im Februar 1938 in Paris und (4) Klement. Naville wusste nicht und konnte nicht wissen, dass ein GPU-Agent, der eine Schlüsselrolle bei der Durchführung dieser vier Morde gespielt hatte, an der Konferenz teilnahm und als Repräsentant der russischen Sektion der Vierten Internationale auftrat - Mark Zborowski.
Diese Morde waren Bestandteil der Kampagne des politischen Genozids, der sich gegen die noch lebenden revolutionären Arbeiter, sozialistischen Intellektuellen Führer der Bolschewiki richtete, die in der Oktoberrevolution von 1917 eine wichtige Rolle gespielt hatten. Auf Anweisung Stalins wurden in Moskau von August 1936 bis März 1938 drei Schauprozesse durchgeführt. Diese bildeten den öffentlichen Teil einer massiven Vernichtungsaktion gegen den Einfluss der Trotzkisten, d. h. der Marxisten in der UdSSR.
Zeitgenössische bürgerliche Historiker beharren mit wenigen Ausnahmen auf der Ansicht, dass der stalinistische Terror wenig mit Trotzki oder dem Trotzkismus zu tun hatte. Stalin, so behaupten sie, habe keinen Grund gehabt, Trotzki zu fürchten, den er 1929 aus der Sowjetunion verbannt hatte. Dessen Einfluss sei zu vernachlässigen. Dieser oberflächlichen Einschätzung widersprach der verstorbene sowjetisch/russische Historiker Dmitri Wolkogonow, der trotz seiner eigenen feindlichen Einstellung zu Trotzki betonte, dass Stalin sich von dem "Geist" des ins Exil gejagten Revolutionärs verfolgt fühlte:
Stalin hasste Trotzki nun mehr als vor dessen Ausweisung. Stalin fürchtete ihn nach wie vor, und ihn beunruhigte das Gefühl, dass er niemals würde loskommen können von diesem Phantom...Stalin erinnerte sich an Trotzki mit Ingrimm. Während er den Reden Molotows, Kaganowitschs, Chrustschows oder Schdanows zuhörte, wird er gedacht haben, wie viel klüger war doch Trotzki als diese Funktionäre! Keiner seiner Mitarbeiter war mit Trotzki zu vergleichen. Weder als Organisator noch als Redner, noch als Publizist. Und Trotzki war klüger und talentierter als er selbst. Im Kreis seiner Vertrauten hat er einmal gesagt, es sei der größte Fehler seines Lebens gewesen Trotzki aus der Sowjetunion herausgelassen zu haben....
Besonders schmerzhaft traf Stalin, dass Trotzki beanspruchte, auch im Namen jener zu sprechen, die in der Sowjetunion zum Schweigen gebracht worden waren. Wenn Stalin die Übersetzungen von Trotzkis Büchern las, [wie Stalins Schule der Fälschung, Ein offener Brief an die Mitglieder der Bolschewistischen Partei oder Der stalinistische Thermidor ], muss ihn der Zorn ergriffen haben. ... Stalin las die Übersetzung des Buches [ Die verratene Revolution ] in einer Nacht. In ihm kochte die Wut. Und in ihm reiften zwei Entscheidungen heran. Erstens: Trotzki musste aus der politischen Arena verschwinden - koste es, was es wolle. Er wusste, dass jegliche Tarnung eines Mordanschlags sinnlos sein würde. Alle würden wissen, dass er diesen Mord organisiert hatte. Zweitens: Alle, wirklich alle potentiellen Feinde seiner Diktatur innerhalb des Landes mussten liquidiert werden.[2]
Trotzki wusste sehr gut um die physische Macht seiner Feinde und das Ausmaß der Gefahren, die ihm und seinen Anhängern drohten. Aber er war von außerordentlicher Zuversicht durch, dass sie schließlich siegreich sein werde: Die Vierte Internationale würde das Instrument der sozialistischen Weltrevolution sein. Er feierte die Gründung der Vierten Internationale am 18. Oktober 1938 mit den Worten:
Die Henker glauben in ihrer Dummheit und in ihrem Zynismus, uns ängstigen zu können. Sie irren! Im Sturm werden wir noch stärker. Die bestialische Politik Stalins ist nur eine Politik der Verzweiflung. Es ist möglich, einzelne Soldaten unserer Armee zu töten, aber man kann uns nicht einschüchtern. Freunde, und besonders ihr meine jungen Freunde, wir werden an diesem Feiertag wiederholen... es ist nicht möglich, uns einzuschüchtern ! [3]
Der Ursprung der Vierten Internationale liegt in dem Kampf, den Trotzki und die Linke Opposition im Oktober 1923 gegen die zunehmende Bürokratisierung des Sowjetstaates und der Kommunistischen Partei der Sowjetunion begannen. Dieser politische Kampf wurde bereits aufgenommen, noch bevor Stalin zu Trotzkis wichtigstem Widersacher und Führer der Kommunistischen Partei wurde. Für Trotzki war Stalins Aufstieg zur Macht nicht der Grund für die Degeneration des Sowjetstaates und der Kommunistischen Partei, sondern vielmehr ein politischer Ausdruck dafür, dass die politische Reaktion in der Sowjetunion stärker wurde. Der Grund dafür waren die Niederlagen, die die Arbeiterklasse in Westeuropa nach der Oktoberrevolution erlitten hatte. Für Lenin und Trotzki hing das Schicksal des Sozialismus in der Sowjetunion vom Sieg der sozialistischen Weltrevolution ab. Die Idee, dass der Sozialismus allein innerhalb Russlands, einem isolierten und rückständigen Land, aufgebaut werden könne, war nicht vereinbar mit den grundlegendsten Voraussetzungen der marxistischen Theorie.
Stalins Ende 1924 aufgestellte Behauptung, der Sozialismus könne in einem Land aufgebaut werden, machte die im Wesentlichen nationalistische Orientierung der Perspektive und des Programms der herrschenden Bürokratie deutlich. Diese Behauptung bedeutet, die Sowjetunion könne den Sozialismus unabhängig vom Ausgang der Kämpfe der internationalen Arbeiterklasse außerhalb der UdSSR, insbesondere in Westeuropa und Nordamerika, erreichen. Unter "Sozialismus" verstand die Bürokratie - unter Josef Stalins Führung - ein System nationaler wirtschaftlicher Autarkie, die das Einkommen und die Privilegien schützte, derer sie sich auf der Grundlage des staatlichen Eigentums an den Produktionsmitteln erfreute.
Die Verfolgung Trotzkis und der Linken Opposition durch die Bürokratie gingen mit der Verfälschung und Zurückweisung der marxistischen und internationalistischen Grundlagen der bolschewistischen Partei einher. Immer offener und ungeschminkter unterwarf das stalinistische Regime die Interessen der internationalen revolutionären Bewegung den Bedürfnissen der Bürokratie. Das Ergebnis dieses Verrats am Programm der sozialistischen Weltrevolution waren eine Reihe von politischen Niederlagen der internationalen Arbeiterklasse - in Großbritannien 1926, in China 1927 und die schlimmste in Deutschland 1933. Stalins katastrophale Fehlorientierung der Kommunistischen Partei Deutschlands ermöglichte Hitler im Januar 1933 an die Macht zu gelangen. Dieses Ereignis wiederum setzte Ereignisse in Bewegung, die zum Zweiten Weltkrieg und dem Tod von vielen Millionen Menschen führten.
Nach Hitlers Sieg änderten Trotzki und die Internationale Linke Opposition ihre bisherige Politik, die bis dahin die Reform der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und der Dritten (Kommunistischen) Internationale angestrebt hatte. Trotzki rief nun zum Aufbau einer neuen Internationale und einer politischen Revolution in der Sowjetunion auf. Er definierte die stalinistische Bürokratie innerhalb der UdSSR als Agentur des Imperialismus in der Arbeiterbewegung.
Die Jahre von 1933 bis 1938 waren vor allem der theoretischen und politischen Vorbereitung des Gründungskongresses der Vierten Internationale gewidmet. Trotzki schätzte, wie er 1935 schrieb, diese Arbeit als die wichtigste in seinem Leben ein - sogar als wichtiger als seine Rolle in der Oktoberrevolution und bei der Gründung und Chef der Roten Armee. Trotzki rechtfertigte diese Einschätzung mit dem Argument, dass, selbst wenn er abwesend gewesen wäre, Lenins Führung 1917 vollkommen ausgereicht hätte, um die politische Opposition innerhalb der bolschewistischen Partei zu überwinden und die Entscheidung durchzusetzen, die Macht zu übernehmen. Jetzt aber (in den 1930er Jahren) habe es niemand anderen gegeben, um einen neuen revolutionären Kader auszubilden und die Kontinuität der marxistischen Bewegung aufrecht zu erhalten. Trotzki erkannte, dass er zu diesem Zeitpunkt unersetzbar war und fünf Jahre benötigen würde, um die Kontinuität des marxistischen Erbes zu sichern. Als er diese Einschätzung traf, hatte Trotzki noch genau fünf Jahre zu leben - und er konnte sein Ziel erreichen.
Es ist notwendig zu verstehen, weshalb Trotzkis Arbeit unersetzbar war, Es reicht nicht aus, auf seine Genialität zu verweisen. Drei Elemente seiner intellektuellen und politischen Persönlichkeit müssen hervorgehoben werden.
Zunächst einmal war Trotzki der letzte große Vertreter des "klassischen Marxismus" - das heißt, er vertrat eine theoretische und politische Lehre und Tradition, die direkt auf Marx und Engels zurückging und die revolutionäre Massenbewegung der Arbeiter ausgebildet und begeistert hatte, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entstanden war. Wie wir in Die historischen und internationalen Grundlagen der Socialist Equality Party erklärt haben, verkörperte Trotzki "eine Auffassung der revolutionären Theorie, die ihre philosophischen Wurzeln im Materialismus hatte, sich auf die Erkenntnis der objektiven Realität richtet und zum Ziel hat, die Arbeiterklasse auszubilden und politisch zu mobilisieren und die der Strategie des revolutionären Kampfs gegen den Kapitalismus verpflichtet ist."[4]
Zweitens begriff Trotzki gründlicher als jeder andere politische Denker des 20. Jahrhunderts die weltweiten Dimensionen und die Dynamik der sozialistischen Revolution, die Dialektik der internationalen sozioökonomischen Prozesse und die historische Begrenztheit der nationalen Bedingungen. Dieses Verständnis fand seinen Ausdruck in der Theorie der permanenten Revolution, die Trotzki erstmals als Antwort auf Probleme formulierte, die die Revolution von 1905 in Russland aufgeworfen hatte. Darin erklärte er das Verhältnis zwischen den traditionellen bürgerlich-demokratischen Aufgaben in einem rückständigen Land und den in der Arbeiterklasse vorhandenen sozialistischen Bestrebungen in einer Weise, die bisherigen Auffassungen widersprach und ein neues theoretisches Paradigma erforderte.
Drittens hatte sich Trotzki die entscheidenden Lehren aus Lenins Kampf gegen den Opportunismus der Menschewiki zwischen der Spaltung 1903 und dem Ausbruch der revolutionären Ereignisse von 1917 angeeignet. Nachdem er in dieser entscheidenden und prägenden Periode mit Lenin heftig über Fragen der politischen Prinzipien gestritten hatte, verstand und schätzte Trotzki Lenins außerordentlichen Weitblick, der sich in seinem Kampf gegen jegliche Form von Opportunismus in der Russischen Sozialdemokratischen Partei und, nach dem Ausbruch des imperialistischen Krieges, in der Zweiten Internationale 1914 ausdrückte. Die Lehren, die Trotzki aus diesen historischen Erfahrungen zog, bildeten einen wesentlichen Teil des Fundaments für den Kampf, die Vierte Internationale aufzubauen.
Jedes dieser Elemente in Trotzkis intellektueller und politischer Biografie verdiente eine genauere Darstellung. Aber die Kürze der Zeit verlangt ein konzentriertes Vorgehen. Lasst uns daher die Frage des "klassischen" Marxismus betrachten. Selbst unter denen, die Trotzkis Fähigkeiten als revolutionärer Stratege schätzen, sind allzu wenige zu finden, die auch in ausreichendem Maße die theoretischen Grundlagen seines politischen Denkens würdigen. Obwohl Trotzki darauf bestand, dass der dialektische Materialismus die Hauptquelle revolutionären Denkens ist, halten selbst ihm wohlgesonnene Kommentatoren derartige Bekenntnisse philosophischer Überzeugung für obskur und unwesentlich. So fragt zum Beispiel ein Wissenschaftler und Spezialist für Trotzkis gesellschaftliches und politisches Denken nach dem Zitieren einer Passage, in der Trotzki die Grundelemente des dialektischen Materialismus darlegt, offensichtlich verzweifelt: "Was in aller Welt hat all dies mit dem Studium der Gesellschaft und der Formulierung marxistischer revolutionärer Politik und Strategie zu tun?" [5] Die Frage verrät ein unzureichendes Verständnis der Beziehung zwischen der philosophischen Anschauung und Methode auf der einen Seite und dem politischen Denken und der Praxis auf der anderen. Sie zeugt auch von einem beschränkten Verständnis des Inhalts und der Implikationen des Widerspruchs zwischen dem marxistischen Materialismus und den verschiedenen Schulen des philosophischen Idealismus, womit Trotzki sehr vertraut war.
Während eine Menge über die politischen Auseinandersetzungen innerhalb der vielen einander widersprechenden Richtungen der europäischen (und insbesondere der russischen) sozialistischen Bewegung vor dem Ersten Weltkrieg geschrieben wurde, wurde den theoretischen Konflikten weit weniger Aufmerksamkeit gewidmet. Selbst der Konflikt mit Eduard Bernstein ist weitgehend nur unter dem Gesichtspunkt des politischen Programms und der Perspektive untersucht worden. Die Differenzen auf diesem Gebiet waren natürlich von immenser und anhaltender Bedeutung. Aber ein anderer Aspekt dieses entscheidenden Konflikts zwischen Marxismus und Revisionismus muss betont werden - das ist die philosophische Dimension dieser Auseinandersetzung. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, war Bernstein - ein Neokantianer - Teil einer größeren intellektuellen Richtung, deren Opposition zum Marxismus philosophisch in verschiedenen Spielarten des subjektiven Idealismus beheimatet war.
Kurz gesagt lehnten diese Strömungen den philosophischen und historischen Materialismus ab, der vom Primat der Materie über das Bewusstsein ausgeht. Auf dieser Grundlage wiesen sie die Auffassung zurück, dass sich die menschliche Gesellschaft einschließlich der Entfaltung ihrer geistigen Fähigkeiten in Übereinstimmung mit den Gesetzmäßigkeiten entwickelt, die in der Wirtschaftsstruktur der Gesellschaft herrschen.
Es gab niemanden, der die materialistische Geschichtsauffassung entschiedener vertrat als Trotzki, dessen theoretische Ausbildung Ende der 1890er Jahre begann und in ständiger Auseinandersetzung mit den zunehmend an Einfluss gewinnenden Schulen des subjektiven Idealismus und dem irrationalen Denken vollzog. Fast am Ende seiner revolutionären Laufbahn erklärte Trotzki Marx’ materialistische Anschauung folgendermaßen:
Der Wissenschaft die Aufgabe des Erforschens der objektiven Erscheinungen der Natur stellend, bemüht sich der Mensch hartnäckig und eigensinnig. sich selbst der Wissenschaft zu entziehen und sich besondere Vorrechte zu sichern, sei es in der Form des Anspruches auf Beziehungen zu übernatürlichen Kräften (Religion) oder auf ewige moralische Gesetze (Idealismus). Marx hat dem Menschen endgültig diese widerwärtigen Vorrechte genommen, indem er ihn als natürliches Glied im Entwicklungsprozess der materiellen Natur erkannte, die menschliche Gesellschaft ansieht als Organisation der Produktion und Verteilung, den Kapitalismus als ein Stadium der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft....
Es ist absolut unmöglich, die Ursachen der Erscheinungen der kapitalistischen Gesellschaft im subjektiven Bewusstsein, in den Absichten oder Plänen Ihrer Mitglieder zu finden. Die objektiven Erscheinungen des Kapitalismus waren nicht zu erkennen, bevor nicht ernstes Studium auf sie verwendet wurde. Bis zum heutigen Tage kennt die große Mehrheit der Menschen nicht die Gesetze, welche die kapitalistische Gesellschaft beherrschen. Die große Überlegenheit der Methode von Marx bestand darin, die ökonomischen Erscheinungen nicht vom subjektiven Gesichtspunkt bestimmter Personen zu nehmen, sondern vom objektiven Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Entwicklung in Ihrer Gesamtheit, genau so, wie ein Naturforscher einen Bienenstock oder einen Ameisenhaufen vornimmt.
Für die wissenschaftliche Ökonomie hat entscheidende Bedeutung das, was die Menschen erzeugen und die Art und Weise, wie sie es erzeugen, und nicht, was sie selbst über ihr Handeln denken. Die Grundlage der Gesellschaft sind nicht Religion und Moral, sondern die natürlichen Hilfsquellen und die Arbeit. Die Marx’sche Methode ist materialistisch, weil sie vom Sein zum Bewusstsein geht und nicht umgekehrt. Die Methode Marx’s ist dialektisch, weil die Natur und Gesellschaft In ihrer Entwicklung betrachtet, und die Entwicklung selbst als beständigen Kampf der Gegensätze.[6]
Die Anwendung der materialistischen Anschauung von Marx auf dem Feld des politischen Kampfs setzt voraus, dass sich die revolutionäre Politik vor allem auf eine Analyse der objektiven sozioökonomischen Bedingungen gründet. Die revolutionäre Partei muss ihr Handeln nicht nach den vorherrschenden Stimmungen und Illusionen der Massen richten, sondern nach dem tatsächlich existierenden Ausmaß der sozioökonomischen Widersprüche des Kapitalismus. Die revolutionäre Partei kann diese Stimmungen nur in dem Maße überwinden, in dem sie in der Arbeiterklasse für ein korrektes Verständnis der kapitalistischen Krise und ihrer politischen Implikationen kämpft.
In Diskussionen Trotzkis mit seinen amerikanischen Anhängern, die er im Mai 1938 am Vorabend des Gründungskongresses der Vierten Internationale führte, betonte Trotzki diesen objektiven Ausgangspunkt des revolutionären Programms:
Die politische Rückständigkeit der amerikanischen Arbeiterklasse ist sehr groß. Dies bedeutet, dass die Gefahr einer faschistischen Katastrophe sehr groß ist. Dies ist der Ausgangspunkt all unserer Aktivitäten. Das Programm muss eher die objektiven Aufgaben der Arbeiterklasse als die Rückständigkeit der Arbeiter ausdrücken. Es ist ein Werkzeug, die Rückständigkeit zu überwinden und zu besiegen. Deshalb müssen wir in unserem Programm die sozialen Krisen der kapitalistischen Gesellschaft einschließlich und gerade in den Vereinigten Staaten in ihrer ganzen Schärfe ausdrücken. Wir können die objektiven Bedingungen, die nicht von uns abhängen, nicht aufschieben oder modifizieren. Wir können nicht garantieren, dass die Massen die Krise lösen werden. Aber wir müssen die Sache so ausdrücken, wie sie ist, und das ist die Aufgabe des Programms.[7]
Diesen Worten kommt in der gegenwärtigen Situation große Bedeutung zu. Was sollte heute wohl der Ausgangspunkt für revolutionäre Politik sein - der objektive Charakter und die Implikationen der sich im amerikanischen und im Weltkapitalismus entfaltenden Krise, deren Tiefe und Schärfe seit der großen Depression der 1930er Jahre nicht ihresgleichen hat - oder das vorherrschende von Konfusion geprägte Bewusstsein der Arbeitermassen? Sollten wir unser Programm den Illusionen anpassen, die Arbeiter heute in die Wahkampfrhetorik Obamas hegen? Oder sollten wir die giftigen, aber honigsüßen Phrasen entlarven und die Massen auf die großen sozialen Konflikte vorbereiten, die mit der Verschärfung der Wirtschaftskrise unweigerlich auf sie zukommen?
Die Wahl wird in drei Tagen vorbei sein. Welche der bürgerlichen Parteien auch immer die Präsidentschafts- oder die Kongresswahlen gewinnen wird, sie wird mit den Konsequenzen der rasant in den Abgrund stürzenden Wirtschaft konfrontiert sein. Wenn Obama, was jetzt sehr wahrscheinlich ist, zum Präsidenten gewählt wird, dann wird er dafür verantwortlich sein, die nationalen und die internationalen Interessen der herrschenden Klasse Amerikas wahrzunehmen. Wie lange, glaubt Ihr, wird er in der Lage sein, die Illusion aufrecht zu erhalten, dass die Krise alle Klassen der Bevölkerung gleichermaßen betrifft, dass "das amerikanische Volk sie gemeinsam anpacken muss" und dass "Opfer" von allen erbracht werden können und müssen und dass die Interessen der Armen die gleichen seien wie die der Reichen? Wie lange wird es dauern bis der unbezähmbare Drang der Finanzaristokratie, die Möglichkeiten auszunutzen, die die Krise für ihre eigene Bereicherung bietet, den arbeitenden Massen schmerzlich bewusst wird. Oder wann werden sie die Machtlosigkeit eines Präsidenten Obama erkennen, diesen Bestrebungen Einhalt zu gebieten, selbst wenn er dies wollte?
Es lohnt sich, Trotzkis Bemerkungen zum New Deal der Roosevelt Regierung von 1939 in Erinnerung zu rufen. Dieses Programm wird von Historikern im Allgemeinen als der Gipfel regierungsamtlicher Radikalität dargestellt. Trotzki kommentierte die Ineffektivität von Roosevelts Auseinandersetzungen mit der amerikanischen Bourgeoisie ziemlich sarkastisch:
Nach Marx "ist die Regierung der geschäftsführende Ausschuss der herrschenden Klasse." Diese Regierung kann nicht dermaßen gegen die Monopole im Allgemeinen kämpfen, das heißt, gegen die Klasse, mit deren Willen sie regiert. Während sie bestimmte Monopole attackiert, ist die Regierung genötigt, Verbündete in anderen Monopolen zu suchen. In Allianz mit den Banken und der Leichtindustrie kann sie gelegentlich einen Schlag gegen die Trusts der Schwerindustrie führen, die deshalb nicht aufhören, unterdessen phantastische Gewinne zusammenzuraffen.[8]
Wird Präsident Obama das gleiche Schicksal treffen? Werden die Mauern des amerikanischen Kapitalismus zusammenstürzen unter den rhetorischen Posaunen des Mr. "Yes we can"? Nein, das werden sie nicht tun. Sein Auftritt, ganz abgesehen von dem McCains, anlässlich der Verhandlungen über den Rettungsschirm für die Banken lieferte in der Tat ein deutliches Zeichen dafür, wie eine Regierung unter Obama handeln wird, wenn sie mit den Forderungen der herrschenden Aristokratie konfrontiert wird,
Letztlich wird die Politik einer Obama-Regierung bestimmt werden von den objektiven Bedingungen, in denen sich der amerikanische Kapitalismus befindet. Und an diesem Punkt muss klar unterschieden werden zwischen der Epoche, in der sich die Vereinigten Staaten zur Zeit Roosevelts befunden haben und der, in der Obama die Regierung übernimmt. Ein dreiviertel Jahrhundert ist vergangen, seit Franklin Roosevelt erstmals den Schwur als Präsident leistete und verkündigte, die Vereinigten Staaten hätten nichts zu fürchten als sich selbst. Er sprach als Führer einer kapitalistischen Nation, die trotz aller wirtschaftlichen Probleme immer noch über gewaltige Ressourcen verfügte. Im Vergleich zur Industriemacht der Vereinigten Staaten waren alle anderen Nationen Zwerge. Diese Tage sind lange vorbei. Die Vereinigten Staaten befinden sich seit Jahrzehnten im ökonomischen Niedergang. Sie haben gewaltige Schulden angehäuft und ihre Industrien befinden sich im Verfall. Die wichtigste Ursache der Wirtschaftskrise liegt tatsächlich in der Loslösung des Prozesses der Wertschöpfung vom materiellen Produktionsprozess. Am Vorabend der Explosion der Wirtschaftskrise machten Gewinne der US Finanzwirtschaft 40 Prozent aller Profite aus.
Obama wird der Arbeiterklasse als Präsident keinen "New Deal" anzubieten haben - wobei man sich daran erinnern sollte, dass auch der New Deal von Roosevelt sich als unzureichend erwies, um die Depression zu beenden. Die Wirtschaftskrise wurde durch den Zweiten Weltkrieg "gelöst". Außerdem waren alle Errungenschaften der 1930er Jahre nicht das Ergebnis der Reformen der Regierung oder wurden als Almosen gewährt, sondern durch gewaltige soziale Kämpfe der Arbeiterklasse gewonnen - wie dem Streik bei den Zündkerzenfabriken von Toledo, den Generalstreiks in Minneapolis und San Francisco, dem Sitzstreik in Flint und anderen großen und blutigen Klassenkämpfen.
Wie sind nun die Aussichten für den Sozialismus in den Vereinigten Staaten einzuschätzen? Dies war die Frage, über die Trotzki, der ein aufmerksamer Beobachter der amerikanischen Gesellschaft und ihrer wirtschaftlichen und politischen Struktur war, viel nachgedacht hat. Er verstand sehr gut die Macht und den Einfluss der kapitalistischen Ideologie im sogenannten "Land der unbegrenzten Möglichkeiten". Er schrieb 1939:
In den Vereinigten Staaten, wo ein Mensch, der eine Million besitzt, als jemand bezeichnet wird, der eine Million "wert" ist, ist das Marktdenken tiefer eingedrungen, als irgendwo anders. Noch vor kurzem schenkten die Amerikaner der Natur der ökonomischen Beziehungen sehr wenig Aufmerksamkeit. Im Lande des mächtigsten ökonomischen Systems blieb die wissenschaftliche Ökonomie extrem arm. Es war die heutige tiefe Krise der amerikanischen Wirtschaft nötig, um der öffentlichen Meinung mit aller Schärfe die fundamentalen Probleme der kapitalistischen Gesellschaft vor Augen zu führen.[9]
Der Prozess der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Aufklärung der Arbeiterklasse wurde vorzeitig beendet durch den Zweiten Weltkrieg, aus dem die Vereinigten Staaten als Sieger hervorgingen - nicht nur militärisch, sondern auch politisch und wirtschaftlich. Warum sollte man die Legitimität des Kapitalismus weiter in Frage zu stellen, wenn 75 Prozent der Industrieproduktion in den Vereinigten Staaten stattfanden und der Dollar "so gut wie Gold" war? Darüber hinaus fanden in der Nachkriegsperiode in den Vereinigten Staaten antikommunistische Hetzjagden statt, deren Ziel es war, das intellektuelle Leben zu ersticken und einer marxistischen Kritik am amerikanischen Kapitalismus jegliches Recht abzusprechen, ja sie vollständig zu kriminalisieren. In jüngster Zeit wurde der Zusammenbruch der stalinistischen Regimes in der UdSSR und Osteuropa Ende der 1980 und Anfang der 1990er Jahre als endgültiger Beweis für den unumkehrbaren Triumph des Kapitalismus und sogar als das "Ende der Geschichte" bejubelt.
Aber was ist heute nach dem katastrophalen Versagen des Wirtschaftssystems vom Triumph des Kapitalismus übriggeblieben? Als Präsident Bush vor etwas mehr als einem Monat um öffentliche Unterstützung für seinen Rettungsplan für die Banken bat, erklärte er in seiner Rede an die Nation, dass sich das kapitalistische System in den Vereinigten Staaten am Rande des Zusammenbruchs befinde. Zwei Tage später meinte er vor Mitgliedern seines Kabinetts und führenden Kongressabgeordneten: "Der Laden geht den Bach runter!" Die gesamte Ideologie des amerikanischen Kapitalismus - von der Unfehlbarkeit des Marktes und der absoluten Unabhängigkeit des Marktes vom Staat - hat ihre Glaubwürdigkeit vollkommen verloren. Der Hohepriester des Marktkultes Alan Greenspan - der als "Maestro" der US-Notenbank gepriesen wurde - erschien vor einem Kongressausschuss als daherschlurfender verwirrter alter Mann am Rande der Senilität und bekannte sein Erstaunen darüber, dass sich die Märkte nicht so verhalten hatten, wie sie sich seiner Ansicht nach hätten verhalten müssen.
Vor dem Hintergrund dieser Krise ist das gefürchtete "S"-Wort im politischen Leben Amerikas wieder aufgetaucht. Eine unbedachte Äußerung Obamas, dass der Reichtum geteilt werden müsse, die von ihm vollkommen harmlos gemeint war, wurde von McCain und Palin als Beweis dafür aufgegriffen, dass Obama den Sozialismus in den USA einführen wolle. Senator Biden wurde im Fernsehen gefragt, ob Obama nicht wirklich insgeheim ein Marxist sei! Diese Episoden zeigen, welche Ängste die herrschende Klasse plagen. Obama und Biden werden von ihren Republikanischen Gegnern verhöhnt, weil sie planen "den Reichtum zu verteilen". Die Kandidaten der Demokraten weisen den Vorwurf entrüstet zurück. Aber werden die Massen der amerikanischen Arbeiter unter den Bedingungen wachsender Arbeitslosigkeit und Zwangsvollstreckungen es auch so schlimm finden, "den Reichtum zu verteilen"?
Das soziale Sein bestimmt das Bewusstsein. Die Krise bringt nicht nur alte Ideologien in Misskredit. Sie schafft auch Raum für Auffassungen, die mit der objektiven Realität übereinstimmen. Es wird nicht möglich sein, das halboffizielle Verbot des Marxismus in den Diskussionen über die Krise des amerikanischen und der Weltkapitalismus aufrecht zu erhalten. Wie Trotzki vorhersah, werden die objektiven Ereignisse eine grundlegende Veränderung im politischen Leben erzwingen. Was er 1939 schrieb, ist in der gegenwärtigen Situation von außerordentlicher Bedeutung:
Teilreformen und Flickschusterei führen zu nichts. Die historische Entwicklung ist an einer ihrer entscheidenden Etappen angelangt, wo einzig die direkte Intervention der Massen fähig ist, die reaktionären Hindernisse wegzufegen und die Grundlagen einer neuen Ordnung zu errichten. Die Abschaffung des Privatbesitzes an den Produktionsmitteln ist die erste Bedingung einer Ära der Planwirtschaft, das heißt der Intervention der Vernunft auf dem Gebiete der menschlichen Beziehungen, zuerst im nationalen Maßstab, und in der Folge im Weltmaßstab. .... Die befreite Menschheit wird ihrem höchsten Gipfel zustreben.
Anmerkungen:
1. Documents of the Fourth International (New York: Pathfinder Press, 1973), p. 284.
2. Dimitri Wolkogonow: Stalin - Triumph und Tragödie, Düsseldorf 1989, S. 359-363
3. Writings of Leon Trotsky 1938-39 (New York: Pathfinder Press, 1974), p. 94.
4. The Historical and International Foundations of the Socialist Equality Party (Mehring Books, 2008), p. 59.
5. Baruch Knei-Paz, The Social and Political Thought of Leon Trotsky (Oxford: Oxford University Press, 1978), pp. 487-88.
6. Leo Trotzki: Marxismus in unserer Zeit, http://trotsky.org/deutsch/archiv/trotzki/1939/04/marxismus.htm
7. Leo Trotzki: Das Übergangsprogramm und die Aufgaben der Vierten Internationale, Essen, 1997. S. 139f
8. Leo Trotzki: Marxismus in unserer Zeit http://trotsky.org/deutsch/archiv/trotzki/1939/04/marxismus.htm
9. Ibid.
10. ebd.