Am Sonntag erzielten Andrés Manuel López Obrador (genannt AMLO), seine Partei Morena (Bewegung für Nationale Erneuerung) sowie ihre Koalitionspartner, die Arbeiterpartei (PT) und die konservativ-evangelikale Partei der Sozialen Bewegung (PES), bei den Nationalwahlen in Mexiko einen Erdrutschsieg. Die bürgerliche Presse bezeichnete ihn größtenteils als Tsunami. López Obrador wird am 1. Dezember sein Amt antreten.
Das Wahlbündnis Morena erhielt zusammen mehr als 53 Prozent der Stimmen. Damit übertraf es die Koalition der PAN (Partei der Nationalen Aktion) um 31 Prozentpunkte und die PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution) von Präsident Enrique Peña Nieto um 37 Prozentpunkte. Ein solcher Stimmenvorsprung ist beispiellos in der Geschichte des Landes – in den letzten drei Jahrzehnten hat kein Präsident mit mehr als 18 Prozentpunkten Vorsprung gewonnen.
Die Morena-Koalition erhielt auch in beiden Kammern des mexikanischen Kongresses eine deutliche Mehrheit – mehr als 60 Prozent der 100 Sitze im Senat und 217 Sitze bzw. 72 Prozent der 300 Sitze in der Abgeordnetenkammer.
Die PAN und ihre Koalitionspartner, AMLOs ehemalige Partei PRD (Partei der Demokratischen Revolution) und die MC (Bürgerbewegung), die lange mit der PRD verbündet war, werden vermutlich 29 Prozent der Sitze im Senat und 63 Sitze bzw. 23 Prozent in der Abgeordnetenkammer erobern.
Die PRI und ihre Koalitionspartner, die PVEM (Ökologische Grüne Partei) und die PANAL (Neue Allianz) gewannen nur 13 Sitze im Senat und 15 Sitze bzw. fünf Prozent im Unterhaus.
Die Morena-Koalition hat auch die wichtige Wahl zum Bürgermeister von Mexiko-Stadt sowie vier der acht zur Wahl stehenden Gouverneursposten gewonnen. Die PAN-Koalition gewann drei Gouverneursposten. Ihr Koalitionspartner MC setzte sich in der Gouverneurswahl im Bundesstaat Jalisco durch, in dem sich Mexikos zweitgrößte Metropolregion Guadalajara befindet.
Die Wahlergebnisse sind geradezu ein Debakel für die PRI, deren Herrschaft seit 1929 nur von 2000 bis 2012 durch zwei Amtszeiten der PAN unterbrochen wurde. Sollte die PRI dies überleben, dann nur als kleine Oppositionspartei.
Die PRI war allgemein verhasst wegen ihrer Korruption auf allen politischen Ebenen, dem unerträglichen Maß an Gewalt und Unsicherheit im Land, dem geringen Wirtschaftswachstum, der wachsenden Armut und sozialen Ungleichheit. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung, d.h. 53 Millionen, leben am Existenzminimum, während die Milliardäre und Ultrareichen einen immer größeren Anteil am Volksvermögen für sich beanspruchten.
Beispielhaft für die Politik der PRI war Peña Nietos Gesetzespaket „Pakt für Mexiko“, das von der PAN und der PRD unterstützt wurde. Es beinhaltete die Privatisierung der mexikanischen Energie- und Telekommunikationsbranche, umfassende Arbeitsmarkt- und Marktwirtschafts-„Reformen“ auf Kosten der Arbeiterklasse sowie die Umgestaltung des staatlichen Bildungssystems durch Angriffe auf die Qualifikation, Anstellung und Gehälter der Lehrer.
Genauso wurde die rechte PAN bei der Wahl abgestraft. Sie ist für ihre Rolle bei den sozialen Angriffen und ihrer eigene Korruption ebenso verhasst.
Die früher „links der Mitte“ verortete PRD ist praktisch ausgelöscht. In den Wahlen 2006 und 2012 war AMLO für sie als Präsidentschaftskandidat angetreten, hatte dann aber mit Morena seine eigene Partei gegründet, da die PRD den Pakt für Mexiko unterstützt und Wahlbündnisse mit der PAN eingegangen war.
Diese Umwälzungen sind ein Ausdruck der tiefen Krise der bürgerlichen Herrschaft in Mexiko. Sie zeigen die Erwartungen der arbeitenden Bevölkerungsmasse auf einen neuen Kurs.
López Obrador hatte im Wahlkampf die Politik der PRI, der PAN und der PRD angegriffen und damit in der Bevölkerung Illusionen geschürt, er biete einen Ausweg aus diesem Morast. Er konzentrierte sich auf das Versprechen, Korruption und Armut zu beseitigen, und behauptete sogar, sein Sieg würde zu einem vierten historischen „Übergang“ oder zur „Revolution“ in Mexiko führen. Damit stellt er sich in eine Reihe mit dem Kampf um die Unabhängigkeit von Spanien, um die liberalen Reformen unter Benito Juarez und die mexikanische Revolution von 1910, die stark von der Russischen Revolution beeinflusst war und zu einer Landreform für die Bauernschaft führte sowie die Ideologie des endlosen Fortschritts in den „volkstümlichen Bereichen“ Mexikos propagierte.
Doch in seiner Siegesrede am Sonntagabend äußerte sich AMLO äußerst vorsichtig gegenüber dem nationalen und internationalen Kapital. Er machte eindeutig klar, dass es keine tiefgreifenden Veränderungen der Sozial- oder Wirtschaftspolitik geben werde.
López Obrador betonte, Korruption und ihre Nichtbekämpfung seien die Hauptursachen für die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit sowie die Gewalt. Er bezeichnete den Kampf dagegen als „Hauptaufgabe“ seiner Regierung. Tiefgreifende Veränderungen der Wirtschaftspolitik seien nicht notwendig.
Es soll zwar in Zukunft keine Straffreiheit für Korruption mehr geben, allerdings eine „nationale Aussöhnung“ und keine „Vergeltung“. Das bedeutet, korrupte Politiker, darunter auch ehemalige Präsidenten und der Amtsinhaber Peña Nieto, müssen nicht mit einer Anklage rechnen. Es bedeutet auch, dass die Verantwortlichen für das Verschwinden und die mutmaßliche Ermordung von 43 Lehramtsstudenten aus Ayotzinapa sowie zahllose andere Massaker der staatlichen Sicherheitskräfte ungestraft bleiben.
López Obrador versicherte, dass sich alle, d.h. auch „die Reichen“, an seiner Aussöhnung aller Klassen und Bereiche der Gesellschaft beteiligen sollten. Es werde „unternehmerische Freiheit“ geben. Er schloss die Enteignung von Unternehmen oder die Beschlagnahme von Vermögen aus. Auch Steuererhöhungen schloss er aus. Die Finanz- und Haushaltsdisziplin solle gewahrt bleiben, die Staatsschulden nicht steigen. Die mexikanische Zentralbank solle unabhängig bleiben.
Anstatt seiner früheren Opposition gegen die Energiereform Taten Folgen zu lassen, werden die Erdölgewinnung und die Produktionsverträge mit ausländischen Unternehmen respektiert. Eine Ausnahme bilden dabei Verträge, die durch Korruption zustande kamen; diese sollen notfalls gesetzeskonform neu verhandelt werden.
Im Wahlkampf herrschte allgemein die Ansicht, AMLO würde diese Zusicherungen an Wirtschaftsmagnaten und internationale Banken und Investmentfonds nur machen, um ihren Widerstand gegen seine Kandidatur zu beschwichtigen. Doch nach seinem Wahlsieg wird klar, dass er diese Versprechen vollkommen ernst gemeint hat.
Nach der Stimmabgabe am Sonntag versicherte AMLO mehreren Wirtschaftstycoons bei einem privaten Treffen, wie ernst es ihm damit ist. Der ehemalige Präsident des mexikanischen Unternehmerverbandes und frühere Erzfeind von AMLO, Claudio X. González Laporte, erklärte hinterher vor der Presse, AMLO habe bei dem Treffen erklärt, er müsse „das Land beruhigen“. González erklärte begeistert: „Er ist derjenige, der es schaffen kann, weil er das Mandat dafür hat. Wir müssen dieses Mandat benutzen, um das Land zu beruhigen.“ Die Forderungen der Bevölkerung und ihre Unzufriedenheit zählen nichts.
In seiner Rede am Sonntagabend kündigte López Obrador außerdem an, er werde ehemalige PRI- und PAN-Funktionäre auf Schlüsselpositionen in seinem Kabinett berufen. Diese Ankündigung verdeutlicht den im Grunde genommen rechten Charakter seines Wirtschaftsprogramms und garantiert die Fortsetzung der arbeiterfeindlichen Politik der beiden Parteien.
Alfonso Romo, Besitzer der riesigen Einzelhandelskette OXXO, der schon unter dem PAN-Präsidenten Vicente Fox Funktionär war, wird Koordinator des Präsidentenbüros. Carlos Manuel Urzúa, der ehemalige Finanzsekretär der Bezirksregierung und langjährige Berater der Weltbank, soll Finanzminister werden. In der Übergangsperiode sollen die beiden AMLOs Wirtschafts- und Finanzteam leiten.
Donald Trump, der nach Peña Nieto wohl der meistgehasste Mann in Mexiko ist, gratulierte López Obrador am Sonntagabend per Twitter und erklärte sich „bereit“, mit dem mexikanischen Präsidenten zum Nutzen beider Länder „zusammenzuarbeiten“. Am Montagmorgen telefonierten die beiden eine halbe Stunde miteinander.
AMLO berichtete später, er habe sich „respektvoll“ mit Trump „unterhalten“ und ihm vorgeschlagen, sie sollten ein „integrales Abkommen“ für Entwicklung erwägen, das in Mexiko Arbeitsplätze schaffen und damit die Zahl der Migranten verringern und die Sicherheit verbessern würde. Die beiden diskutierten außerdem über eine Erneuerung des Freihandelsabkommens NAFTA mit Kanada; alternativ könnte Mexiko auch ein eigenes Abkommen mit den USA aushandeln.
Trump erklärte vor der Presse im Weißen Haus, er und AMLO hätten eine „großartige Unterhaltung“ geführt, bei der sie über Grenzschutz, Handel und das NAFTA-Abkommen diskutiert hätten.
López Obrador gilt seit Langem im gesamten politischen Spektrum, einschließlich der Pseudolinken, als „Linker“. Jetzt ist jedoch nicht mehr zu übersehen, dass er und Morena die Interessen des Kapitalismus und der privilegierten Schichten des Kleinbürgertums vertreten.
López Obrador hat die Kämpfe der mexikanischen Arbeiter und Unterdrückten, u.a. die „Gasolinazo“-Proteste gegen steigende Energiekosten und die Streiks der Lehrer, abgelehnt und stattdessen versucht, sie mit Kritik oder zahnlosen Rufen nach Verhandlungen zu entschärfen.
López Obradors Regierung wird auf die zunehmenden wirtschaftlichen Turbulenzen und die Forderungen der Arbeiterklasse nicht mit beträchtlichen Zugeständnissen reagieren, sondern mit Angriffen zur Verteidigung der Interessen der Finanzelite, die sich jetzt hinter ihn stellt. Dies kann nur zu einer deutlichen Verschärfung der Krisen führen, unter denen Mexiko leidet, und zu neuen Gefahren für die Arbeiterklasse.
Wer sich als links oder sozialistisch bezeichnet und López Obrador offen oder „kritisch“ unterstützt, führt die mexikanischen Arbeiter in eine Falle.
Zu denjenigen, die am aktivsten solche Illusionen verbreiten, gehört Morenas Koalitionspartner PT, deren Ergebnisse bei der Kongresswahl ihr die Mehrheit gesichert hat.
Die PT wurde von selbsterklärten Maoisten gegründet. Trotz AMLOs kapitalistischer Ideologie bezeichnet sich die PT als antikapitalistisch und antiimperialistisch und behauptet, sie verfolge das politische Programm des „Sozialismus im 21. Jahrhundert“. Damit meint sie eine Politik nach dem Vorbild von lateinamerikanischen Staatschefs wie Hugo Chavez (Venezuela), Rafael Correa (Ecuador) und Evo Morales (Bolivien). Letzten Endes dient eine solche Politik jedoch nur den Interessen des Kapitalismus und Imperialismus.
Für die Arbeiterklasse ist die einzige Alternative der Aufbau einer neuen revolutionären Partei. Diese muss unabhängig von allen bürgerlichen Kräften dafür kämpfen, die mexikanische Arbeiterklasse mit den Arbeitern in den USA und dem ganzen Kontinent zu vereinen, um den Kapitalismus zu überwinden. Dies bedeutet den Aufbau einer mexikanischen Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale.