Perspektive

Soziale Ungleichheit und Oligarchie in den USA und Europa

Der französische Ökonom Thomas Piketty veröffentlichte im März eine Studie, aus der hervorgeht, dass es sich bei den „demokratischen“ politischen Systemen in den USA, Frankreich und Großbritannien um Oligarchien handelt. Alle großen Parteien sind Werkzeuge der Superreichen, in deren Auftrag sie die Bevölkerung manipulieren und Widerstand von unten niederhalten.

Die Studie mit dem Titel „Brahmin Left vs. Merchant Right: Rising Inequality and the Changing Structure of Political Conflict“ zeigt, dass die traditionellen „linken“ Parteien des politischen Establishments – die Demokratische Partei in den USA, die Labour Party in Großbritannien und die Parti Socialiste (PS) in Frankreich –zu den bevorzugten Parteien bedeutender Teile der herrschenden Eliten geworden sind und sich von Sozialreformen verabschiedet haben. Andere Parteien wie die SPD in Deutschland, die Partido Socialista in Spanien oder die Partito Democratico in Italien werden zwar nicht namentlich erwähnt, doch der Prozess, den Piketty beschreibt, vollzieht sich überall.

Piketty schreibt: „Die allgemeine Schlussfolgerung ist eindeutig: Wir sind im Laufe der Zeit von einem System mit klassenbasierten Parteien zu einem System übergegangen, für das ich den Begriff ,Multi-Eliten-Parteisystem‘ vorschlage. In den 1950ern und 1960ern war das Parteiensystem nach Klassenzugehörigkeit definiert: Die linken Parteien wurden mit Wählern mit niedrigem Bildungsstand und niedrigem Einkommen in Zusammenhang gebracht, die rechten Parteien mit Wählern mit hohem Bildungsstand und hohem Einkommen.“

Diese Zeiten sind vorbei. Heute haben die politischen Systeme in den drei untersuchten Ländern „wenig mit dem Parteiensystem ,links‘ gegen ,rechts‘ wie in den 1950ern und 1960ern zu tun“, weil die ehemals „Linken“ heute die soziale Basis und das Programm ihrer Gegner, der Republikaner, Gaullisten und Tories, übernommen haben. Piketty schreibt: „Die beiden Regierungskoalitionen, die abwechselnd an der Macht sind, vertreten tendenziell die Ansichten und Interessen unterschiedlicher Eliten.“

Dass keine große Partei nennenswerten Rückhalt in der Arbeiterklasse genießt, „erklärt teilweise die wachsende Ungleichheit“. Es gibt keine Mechanismen, durch die die Arbeiterklasse die Regierungspolitik beeinflussen kann. Das Ergebnis ist eine allgegenwärtige Desillusionierung, die laut Piketty für die zunehmende Wahlenthaltung und die Stärkung des Rechtspopulismus verantwortlich ist, da sich „Wähler mit niedrigem Bildungsstand und niedrigem Einkommen im Stich gelassen fühlen“.

Die unten abgebildete Tabelle vergleicht im Zeitverlauf, welcher Anteil der Wähler in den obersten 10 Prozent und in den unteren 90 Prozent der Einkommensskala in den USA die Demokratische Partei gewählt hat.

In den 1940ern und bis Anfang der 1970er Jahre haben Wähler aus der Arbeiterklasse mit deutlich größerer Wahrscheinlichkeit für den Präsidentschaftskandidaten der Demokraten gestimmt. Die Veränderung setzte Mitte der 1970er ein und verschärfte sich drastisch während der Präsidentschaft Obamas. Höhepunkt dieser Entwicklung war die Wahl 2016, in der die Zahl der Demokraten-Wähler im obersten Zehntel um 10 Prozent höher war als bei den unteren 90 Prozent.

Die nächste Tabelle zeigt den Anteil der Demokraten-Wähler nach Einkommensdezilen von den Präsidentschaftswahlen 1948 bis 2016. Die rote Linie steht für den Anteil der Demokraten-Wähler im Jahr 2016. Unter den obersten 10, 5 und 1 Prozent haben fast 60 Prozent für die Demokratische Partei gestimmt, d. h. erstmals hat eine Mehrheit der Reichen und Begüterten die Kandidatin der Demokraten gewählt. Alleine in den 1990ern und 2000ern haben die Demokraten mehr als 40 Prozent der Stimmen unter den Reichen dazugewonnen. In den 1950ern und bis in die 1970er haben die obersten 10, 5 und 1 Prozent mehrheitlich für Republikaner gestimmt. Die Abstände reichten von 70:30 Prozent bis hin zu 85:15 Prozent.

In Frankreich ist ein ähnlicher Prozess erkennbar. Bei der Wahl 2017 haben erstmals in der Geschichte der Fünften Republik Wähler aus den obersten 10 Prozent der Einkommensskala mit größerer Wahrscheinlichkeit „linke“ Parteien zu gewählt (u. a. die stalinistische Kommunistische Partei Frankreichs, Jean-Luc Melenchons La France Insoumise und Emmanuel Macrons La République En Marche).

In Großbritannien findet die gleiche grundlegende Entwicklung statt. Der Anteil der Labour-Party-Wähler unter den unteren 90 Prozent ist (mit 11 Prozent) höher als unter den obersten 10 Prozent, ist jedoch stark zurückgegangen seit den Wahlen 1964 und 1966, aus denen Labour-Kandidat Harold Wilson als Sieger hervorging. Damals war der Anteil der Labour-Wähler bei Arbeitern um etwa 40 Prozent höher.

Die Demokraten, Labour und die PS haben eine neue Basis in der Elite gefunden, weil sie getreulich die Interessen der Kapitalistenklasse durchgesetzt haben. Sie haben in allen Ländern Sozialabbau betrieben, die Löhne der Arbeiter gesenkt und Billionen für die Bankenrettung und die Senkung der Unternehmenssteuern ausgegeben. Die Folge war eine beispiellose Zunahme der sozialen Ungleichheit.

Die britische Labour Party ist trotz der pazifistischen Phrasen von Jeremy Corbyn ebenso wenig gegen Krieg wie die Tories. In Frankreich und den USA sind die Parti Socialiste und die Demokraten die aggressivsten Befürworter imperialistischer Expansion. Unter dem demokratischen Präsidenten Barack Obama, dem PS-Präsidenten François Hollande und den Labour-Premierministern Tony Blair und Gordon Brown waren diese Parteien verantwortlich für Luftkriege, Überfälle und den Aufbau einer Militärpräsenz in einem Großteil des Nahen Ostens, Zentralasiens und großer Teile von Nord- und Zentralafrika. Erst letzte Woche bombardierten diese Parteien und ihre konservativen Gegenspieler gemeinsam unter einem inszenierten Vorwand Syrien.

Die immense Konzentration von Reichtum in allen Ländern und auf der ganzen Welt hat die Regierungen der „demokratischen“ imperialistischen Staaten in Oligarchien verwandelt, die keinen Widerstand gegen ihre Programme des Kriegs und der sozialen Konterrevolution dulden können. Dass diese Herrschaftsformen mit demokratischen Grundrechten unvereinbar sind, zeigen u.a. die Verantwortung der Demokraten für Massenüberwachung und Polizeigewalt in den USA, die Ausrufung eines dauerhaften Ausnahmezustands in Frankreich durch die PS und die Weigerung der Labour Party, den Whistleblower Julian Assange vor dem Zugriff der US-Behörden zu schützen.

Die Führer und Funktionäre der Demokraten, der PS und der Labour Party haben sich begeistert der Rechtswende angeschlossen, die möglich wurde, weil die Gewerkschaften in allen Ländern den Kampf der Arbeiterklasse unterdrückt und isoliert haben. Auf die Globalisierung der Produktivkräfte reagierten die Gewerkschaften mit dem Gift des Nationalismus und bildeten mit „ihrer“ jeweiligen herrschende Klasse ein korporatistisches Bündnis gegen die Arbeiter. Sie haben die Arbeiter politisch an die Demokraten und Labour in den USA und Großbritannien, bzw. an die PS und die stalinistischen Parteien in Frankreich gekettet.

Pikettys Studie zeigt, dass die „linken“ bürgerlichen Parteien und die Gewerkschaften Institutionen der herrschenden Oligarchie sind, und dass die Arbeiter ihnen deshalb in Scharen den Rücken kehren. Doch genau unter diesen Umständen drängen pseudolinke Gruppen wie die International Socialist Organization (ISO) und die Democratic Socialists of America (DSA) in den USA, Momentum und die Socialist Workers Party (SWP) in Großbritannien oder die Nouveau parti anticapitaliste (NPA) in Frankreich die Arbeiter und Jugendlichen dazu, ihr Vertrauen in diese Parteien und Gewerkschaften zu setzen und sie durch Druck zu arbeiterfreundlichen Reformen zu zwingen.

Diese bankrotte Orientierung ist nicht nur ein politischer Fehler. Vielmehr drückt sich darin die Rechtsentwicklung der kleinbürgerlichen Schichten aus, die die Grundlage dieser antimarxistischen und arbeiterfeindlichen Organisationen bilden.

Im Weltmaßstab findet momentan eine massive politische Polarisierung statt. Die obersten 10 Prozent rücken nach rechts, weil sie den Verlust ihrer privilegierten Stellung befürchten. Die unteren 90 Prozent – Milliarden von Arbeitern auf der ganzen Welt – geraten in Konflikt mit der Oligarchie und ihren politischen Repräsentanten. Diese Entwicklung hat revolutionäre Implikationen.

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