Der Ausbau der russisch-deutschen Ostsee-Gaspipeline Nord Stream hat die globalen Spannungen einmal mehr verschärft. In einer bereits gefährlichen Handelskriegssituation bringt das Projekt die Konflikte in der EU und zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten an den Rand der Eskalation. Die USA drohen mit Sanktionen und gießen damit Öl ins Feuer.
Die Nord-Stream-Pipeline hat eine Jahreskapazität von 55 Milliarden Kubikmeter. Sie liefert seit 2011 Erdgas aus Russland über die Ostsee direkt nach Deutschland und umgeht damit traditionelle Durchgangsländer wie die Ukraine und Weißrussland. Im Sommer 2015 kündigte der russische Erdgaskonzern Gazprom mit Nord Stream 2 den Bau von zusätzlichen Anschlussleitungen an.
An dem 11,5 Milliarden Dollar schweren Projekt sind außer Gazprom folgende Unternehmen beteiligt: die BASF-Tochter Wintershall, der deutsche Energiekonzern Eon/Uniper, die französische Firma Engie (ehemals GDF Suez), die österreichische OMV und der britisch-niederländische Shell-Konzern. Der Baubeginn für Nord Stream 2 ist für Ende 2018 vorgesehen. 2019 soll das Projekt abgeschlossen werden und ab 2020 sollen die Gaslieferungen beginnen.
Von Anfang an hat das Vorhaben für politische Spannungen sowohl innerhalb der EU als auch zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten gesorgt. Mehrere osteuropäische Staaten, insbesondere Polen und die Ukraine, aber auch die USA widersetzen sich dem Projekt mit zunehmender Gereiztheit. Sie betrachten es als Grundstein einer deutsch-russischen Achse und als ökonomisches Druckmittel gegen die osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten. Diese bleiben stark von russischen Erdgaslieferungen abhängig. Was die Ukraine betrifft, so ist sie in hohem Maß von Einnahmen aus der Weiterleitung von russischem Erdgas in die EU abhängig.
Jetzt hat dieser Konflikt erneut kräftig an Fahrt aufgenommen, da die Kriegshetze gegen Russland eskaliert und sich ein Handelskrieg zwischen der EU und den Vereinigten Staaten abzeichnet.
In den zurückliegenden Wochen gaben sowohl die finnische als auch die deutsche Regierung grünes Licht für den Bau der Pipeline. Genehmigungen stehen noch von Finnland (für den Unterwasserbau), Russland, Schweden und Dänemark aus. Laut Gazprom verläuft das Projekt nach Plan.
Nachdem Finnland angekündigt hatte, es werde den Bau von Nord Stream 2 in seiner Ausschließlichen Wirtschaftszone genehmigen, bezeichnete ein Parlamentarier in der ukrainischen Rada die Pipeline als „militärische Bedrohung“. Er warnte, Russland werde sie dazu nutzen, um seine militärische Beteiligung am fortgesetzten Bürgerkrieg in der Ostukraine auszuweiten. Im März unterzeichnete die Ukraine zusammen mit der Slowakei, Rumänien, Polen und andern EU-Mitgliedsstaaten ein weiteres Dokument, um die EU zum Stopp des Projekts zu drängen.
Die Ukraine wird eine beträchtliche Menge Geld verlieren. Ein von Russia Today interviewter Sachverständiger sagte, sobald Nord Stream 2 fertig sei, würden jährlich nur noch 15 Milliarden Kubikmeter Gas über die Ukraine geführt werden – ein immenser Rückgang gegenüber den 90 Milliarden Kubikmeter jährlich, die aktuell durch die Ukraine transferiert werden.
Die neue Regierung in Deutschland stellte sich im Wesentlichen hinter das Vorhaben, aber die Europäische Kommission erklärte, sie könne es nicht unterstützen, und argumentierte, das Projekt verletze das Ziel, die Energieversorgung der EU breiter zu streuen.
Für Russland steht viel auf dem Spiel. Das Projekt ist politisch wichtig in einer Situation, in der die imperialistische Einkreisung immer bedrohlichere Formen annimmt. Außerdem sucht die Kreml-Oligarchie auch auf wirtschaftlichem Gebiet verzweifelt nach europäischen Verbündeten mit besonderem Blick auf Deutschland. Einnahmen aus Gas- und Ölexporten sind nach wie vor ein Hauptbestandteil des russischen Haushalts. Versuche in den letzten Jahren, die Exporte auf Südostasien und speziell auf China auszudehnen, brachten nur beschränkte Erfolge.
Aus diesem Grund bleibt für russische Unternehmen wie Gazprom der europäische Gasmarkt entscheidend. Das wissen auch die Vereinigten Staaten, die ebenfalls seit 2016 eigene Gas-Exporte nach Europa aufgenommen haben. Mit solchen und anderen Maßnahmen haben sie den Wettbewerbsdruck auf Gazprom erhöht und den russischen Konzern gezwungen, seine Preise drastisch zu senken.
Dies hatte signifikante Auswirkungen sowohl auf das Unternehmen selbst als auch auf den Haushalt Russlands. Dennoch ist der Konzern weiterhin in der Lage, seine Exporte nach Europa zu steigern, und hat im letzten Jahr 2017 eine Höchstmenge von 190 Milliarden Kubikmeter geliefert.
Aller Voraussicht nach wird Deutschland wirtschaftlich am stärksten von Nord Stream 2 profitieren. Dank der Nord-Stream-Pipelines wird es zu einer zentralen Drehscheibe für Gaslieferungen in einen Großteil Europas werden. Eine solche Kontrolle über die wichtige Energieversorgung, gerade auch für osteuropäische Länder, bedeutet stets auch eine erhebliche politische Kontrolle.
Am 3. April griff der amerikanische Präsident Donald Trump die Rolle Deutschlands in dieser Frage an. Er sagte im Weißen Haus:
“Deutschland bezahlt gerade mal 1 Prozent [seines Bruttosozialproduktes für Militärausgaben], und noch nicht einmal ein volles 1 Prozent. Deutschland schließt eine Pipeline an Russland an und wird Milliarden von Dollar für Energie an Russland zahlen. Und ich frage: Wohin soll das führen?“
In einem Telefoninterview mit Bloomberg erwiderte Roderich Kiesewetter (CDU), Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages, dass Europa sich seine Energiepolitik nicht von amerikanischen Interessen diktieren lasse. Auch der Bundestagsabgeordnete Timon Gremmels (SPD) wandte sich gegen Trumps Kommentar, den er als Erweiterung seiner Drohung mit Handelskrieg auffasste.
Im amerikanischen Establishment steht Trump jedoch mit seiner Position zu Nord Stream 2 nicht alleine da. Im März ermutigte der Atlantic Council, eine in Washington ansässige Denkfabrik, das Weiße Haus in einem Text dazu, das Projekt zu verhindern. Der Artikel zitierte Sanda Oudkirk, eine Expertin für Energieressourcen im US-Außenministerium, welche die Erweiterung der Nord-Stream-Pipeline als „Entscheidung mit massiven geopolitischen Auswirkungen“ bezeichnete. Sie sagte: „Weil diese Entscheidung potenziell solch umfassenden Einfluss auf die nationale Sicherheit einiger unserer weltweit wichtigsten Partner hat, hat sie auch Auswirkungen auf unsere eigene nationale Sicherheit.“
Anfang März schrieben 40 Senatoren einen Brief an US-Finanzminister Steven Mnuchin, in dem sie ihre Opposition zu Nord Stream 2 formulierten. Sie forderten, Mnuchin solle Sanktionen aussprechen, um den Bau zu verhindern.
Solche Sanktionen wären auf dem Boden des neuen CAATSA-Gesetzes möglich (CAATSA - Countering America’s Adversaries Through Sanctions Act, Gesetz zur Bekämpfung der Feinde Amerikas durch Sanktionen). Nach diesem Gesetz gelten russische Pipelines für den Energieexport als potenzielle Bedrohung.
Der amerikanische Präsident könnte auf Grundlage dieses Gesetzes nichtamerikanische Personen sanktionieren, die an dem Projekt beteiligt sind, zum Beispiel Angehörige von Gazprom oder der beteiligten europäischen Unternehmen. Das würde die führenden Energiekonzerne Europas betreffen, aber auch ihre jeweiligen Regierungen, mit denen sie ihre Unternehmenspolitik normalerweise absprechen.
Ein solcher Schritt wäre gleichbedeutend mit einer ökonomischen Kriegserklärung an mehrere große Energiekonzerne Europas.
Das Pipeline-Projekt wirft wichtige geopolitische und wirtschaftliche Fragen auf. Sie spalten die EU und die nationalen Bourgeoisien. Besonders in Deutschland verlaufen die Meinungsverschiedenheiten quer durch alle Parteien.
Im März veröffentlichten deutsche Abgeordnete aus dem Europaparlament, die der FDP, den Grünen und der CDU angehören, in der Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) eine Stellungnahme. Darin forderten sie insbesondere die SPD auf, das Projekt zu verhindern, da es eine Gefahr für die europäische Einheit darstelle. Zu den Unterzeichnern gehörten Manfred Weber und Norbert Rötgen (beide CDU).
Mehrere CDU- und SPD-Mitglieder aus dem Bundestag beantworteten diese Stellungnahme mit einem weiteren in der FAZ veröffentlichten Dokument, worin sie das Vorhaben verteidigten und die Einmischung der USA zurückwiesen. Sie argumentierten, die Stellung Russlands auf dem Gasmarkt sei bereits geschwächt, und behaupteten, Nord Stream 2 widerspreche nicht dem Ziel einer europäischen Energieunion und sporne den Wettbewerb an.
Zudem deutet der Artikel an, dass das Vorhaben dazu genutzt werden könne, Druck auf die Ukraine auszuüben, damit sie ihr Gastransportsystem „reformiere“, was die deutsche Wirtschaft seit langem fordert. Der Artikel schließt mit einem recht scharfen Statement über die Einmischung der USA in das Projekt. Die Autoren schreiben, die Vereinigten Staaten verfolgten ihre eigenen Interessen, und setzten hinzu: „Es ist jedoch nicht die Aufgabe der EU, amerikanischen Unternehmen, die ihr (aus Fracking-Produktion stammendes) Erdgas in Europa vermarkten wollen, potentielle Wettbewerber vom Leibe zu halten.“
Die Autorin empfiehlt außerdem:
Energielieferungen als Druckmittel gegen Russland [21. Mai 2016]