Der schreckliche Brand im Einkaufs- und Erlebniszentrum „Winterkirsche“ in Kemerowo am Sonntag, dem 25. März, hat die sozialen und politischen Spannungen in Russland enorm verschärft.
Zwei Tage nach der Katastrophe demonstrierten mehrere tausend Menschen im Stadtzentrum von Kemerowo und forderten den Rücktritt der lokalen Entscheidungsträger. Im ganzen Land sind die Menschen empört über die kriminellen Umstände, die sich in der völligen Missachtung der Brandschutzvorschriften offenbarten, und die Versuche der Verantwortlichen, das Ausmaß der Katastrophe zu vertuschen. Am 1. April trat der Gouverneur der Region, Aman Tulejew, der seit über zwanzig Jahren in diesem Amt war, zurück.
Das Einkaufszentrum, das anteilig dem Milliardär Denis Schtengelow gehört, hatte keinen funktionsfähigen Feueralarm und keine Sprinkleranlage. Als sich Feuer und giftiger Rauch im ganzen Gebäude ausbreiteten, mussten sich die Menschen selbst aus dem Gebäude retten. Da die Ausgänge blockiert waren, sprangen einige aus dem Fenster.
Das Feuer breitete sich auf über 1.000 Quadratmeter aus und konnte auch nach über zwölf Stunden nicht gelöscht werden. Kein einziger lokaler Amtsträger kam zum Ort der Tragödie. Eltern erhielten erst nach mehr als sechs Stunden Informationen von der Polizei. Einwohner berichteten außerdem, die Polizei habe Handys von Augenzeugen beschlagnahmt, die versuchten, Videos und Bilder von dem Brand zu machen.
Die Einwohner reagierten mit großer Solidarität. Hunderte meldeten sich freiwillig, um Blut und Nahrungsmittel zu spenden und den Familien der Opfer anderweitig zu helfen.
Die Ursache des Brandes ist weiterhin unklar. Laut dem Fernsehsender Rossija 24 war die wahrscheinlichste Ursache ein elektrischer Defekt, wie bei der Mehrheit der Großbrände in Russland. Fünf lokale Entscheidungsträger wurden verhaftet, darunter der Direktor des Einkaufszentrums. Es ist möglich, dass sie vom Ermittlungskomitee wegen fahrlässiger Tötung angeklagt werden.
Bisher wurden 64 Todesopfer bestätigt, darunter 41 Kinder. Nur 25 von ihnen konnten identifiziert werden. Laut offiziellen Angaben mussten 69 Menschen ins Krankenhaus, 38 weitere gelten als vermisst. Etwa zwei Drittel davon sind Kinder und Jugendliche unter achtzehn Jahren. Dutzende Opfer sind jünger als zehn Jahre, einige sogar jünger als fünf.
Einwohner deuteten jedoch an, dass bis zu 200 oder 300 Menschen ums Leben gekommen sein könnten, die Mehrheit davon Kinder. Mindestens eine Schulklasse und mehrere große Gruppen von Kindern haben sich nachweislich in dem Einkaufszentrum aufgehalten, um in einem Kino im vierten Stock, in dem auch der Brand ausbrach, die Premiere eines neuen Zeichentrickfilms zu sehen. Die Türen des Kinos waren verschlossen, als das Feuer ausbrach, sodass alle Zuschauer darin gefangen waren.
Am Dienstag berichteten Verwandte, dass 85 Menschen weiterhin vermisst werden, 70 Prozent davon Kinder. Mehrere von ihnen stammten aus nahegelegenen Städten und Dörfern.
Es gibt noch weitere Anzeichen, dass der Staat seine Verantwortung vertuscht. Am Tag nach dem Brand bestätigte das Ermittlungskomitee, die wichtigste staatliche Ermittlungsbehörde Russlands, dass Angehörige der Toten Geheimhaltungsabkommen unterschreiben sollen.
Am Dienstag flog Putin nach Kemerowo, um einige der Opfer zu besuchen, Blumen an der Gedenkstätte niederzulegen und die regionalen Entscheidungsträger öffentlich zu rügen. Das ist das routinierte Vorgehen des Präsidenten bei Ereignissen, die die sozialen Spannungen in Russland zu verschärfen drohen. In einem Treffen mit örtlichen Ministern, das im Fernsehen übertragen wurde, sah sich Putin gezwungen, das Offensichtliche auszusprechen und beklagte, dass der Brand auf „kriminelle Fahrlässigkeit“ zurückgehe. Für Mittwoch, den 28. März, rief er einen landesweiten Trauertag aus und rief die Bevölkerung auf, nur offiziellen Informationen über den Brand zu glauben.
Regionalgouverneur Aman Tulejew entschuldigte sich bei Putin für die Tragödie „auf unserem Territorium“, aber nicht bei den Opfern oder ihren Angehörigen. In einem Teil seiner Rede, die nicht in der offiziellen Abschrift des Kreml auftauchte, soll er Berichten zufolge erklärt haben, er halte es für seine Hauptaufgabe, Demonstrationen und Proteste wegen des Brandes zu verhindern.
Gleichzeitig versammelten sich bis zu 3.000 Menschen, darunter viele Angehörige der Opfer, im Stadtzentrum auf dem Sowjetplatz vor dem Stadtverwaltungsgebäude, nur wenige Meter von dem Treffen zwischen Putin und Tulejew entfernt. Die Demonstration wurde offensichtlich von Angehörigen der Opfer organisiert.
Igor Wostrikow, der am Sonntag seine Frau, seine Schwester und drei Kinder im Alter von zwei, fünf und sieben Jahren verloren hatte, rief auf Vkontakte, dem russischen Äquivalent zu Facebook, zu den Protesten auf und erklärte: „Meine Familie ist tot. Schuld daran ist das Regime, das mein Land regiert. Alle Beamten träumen davon, so zu stehlen wie Putin. Alle Staatsvertreter behandeln die Menschen wie den letzten Dreck.“
Demonstranten trugen Bilder der Toten und Vermissten, dazu Transparente mit der Aufschrift „Korruption tötet!“, „Rücktritt“, „Wer ist schuld?“ oder „Sagt die Wahrheit“. Die Menge wurde bald von der Polizei und den OMON-Spezialeinheiten des Innenministeriums umzingelt, die für ihr brutales Vorgehen gegen Demonstranten berüchtigt sind.
Weder Putin noch Gouverneur Tulejew wagten es, eine Rede vor den Demonstranten zu halten, obwohl diese die Anwesenheit von beiden sowie ihren Rücktritt forderten. Nur der Bürgermeister von Kemerowo Ilja Serdjuk und die stellvertretenden Gouverneure Sergei Zilijew und Wladimir Tschernow sprachen zu den Demonstranten.
Die Medien zeichnen das Bild einer außergewöhnlich angespannten Lage. Die Demonstranten sollen die lokalen Amtsträger mehrfach beschimpft, angeschrien und ausgebuht haben. Diese wiederum schwankten zwischen Angriffen auf die Demonstranten (Zilijew warf Wostrikow vor, die Tragödie zu „PR-Zwecken“ auszunutzen) und verzweifelten Versuchen, sie zu beschwichtigen.
Bürgermeister Seredjuk erklärte sich bereit, mit einigen Demonstranten in die Leichenhalle zu gehen, damit sie sich selbst von der Anzahl der Opfer überzeugen konnten. Es stellte sich heraus, dass dort weniger als 64 Todesopfer waren. Allerdings vermuten sowohl die Medien als auch die Anwohner, dass die offiziell gemeldete Zahl deutlich zu niedrig ist.
Ein Angehöriger der Opfer sagte: „Wir sind uns sicher, dass es mehr Opfer gibt... Haben Sie gesehen, wie das Feuer gelöscht wurde? Sie haben es nicht gelöscht. ...Warum gab es keine Hubschrauber?... Und alles nur wegen Nachlässigkeit und Korruption... Ich will die Wahrheit wissen!“
Die Demonstration war von den Behörden nicht genehmigt worden, dauerte aber dennoch über zehn Stunden. Am Ende ging der stellvertretende Gouverneur Zilijew auf die Knie, um die Menge um Vergebung zu bitten.
Am Dienstag fanden in Moskau und St. Petersburg weitere spontane Gedenkveranstaltungen mit Tausenden Teilnehmern statt. Dazu kamen kleinere Gedenkveranstaltungen auf der ganzen Welt.
Die Gedenkveranstaltung in Moskau fand fast völlig unter Schweigen statt, doch auch hier wurden Forderungen nach dem Rücktritt von Tulejew und Putin laut. Der rechte Politiker Alexei Nawalny nutzte die Gelegenheit für ein zynisches politisches Manöver und nahm mit seiner Frau an der Veranstaltung teil. Trotz seiner sozialdarwinistischen, rechtsextremen und nationalistischen Ansichten wurde er in den letzten Jahren von den westlichen Medien gefördert.
Wenn Nawalny oder andere liberale Oppositionelle die Regierung wegen des Kemerowo-Feuers angreifen und die „Korruption“ anprangern, ist das reinste Heuchelei. Die liberale Opposition vertritt die kriminelle kapitalistische Politik, die in den 1990er Jahren durchgesetzt wurde und die Bedingungen für Katastrophen wie den Brand in Keremowo geschaffen hat. Sie reagieren jetzt mit Kritik, weil sie sich einerseits vor einer größeren Bewegung der Arbeiterklasse jenseits ihrer Kontrolle fürchten und andererseits hoffen, die Unzufriedenheit der Bevölkerung für ihre eigene reaktionäre Agenda ausnutzen und den Kreml unter Druck setzen zu können.
Die Situation in Kemerowo und ganz Russland ist weiterhin äußerst angespannt. YouTube-Videos über die Protestveranstaltung in Kemerowo wurden innerhalb weniger Stunden zweieinhalb Millionen mal angeklickt. In hunderten Kommentaren auf Video und in Nachrichtenmeldungen äußerten die Menschen ihre Empörung über die lokalen Entscheidungsträger und den Kreml. Angesichts des massiven Unmuts trat Gouverneur Aman Tulejew schließlich am Sonntag zurück. Ziliejew wird bis zu den Neuwahlen im September amtierender Gouverneur sein.
Die Wut über die Tragödie von Kemerowo ist nicht nur so groß, weil der Brand so dramatische Ausmaße annahm, sondern auch, weil er kein Einzelfall ist. Aus Sicht der Arbeiter in Kemerowo und im ganzen Land ist dieses Feuer symptomatisch für den katastrophalen Zustand der Infrastruktur und die Gefahren, denen sie und ihre Familien täglich ausgesetzt sind.
In den letzten beiden Jahrzehnten kam es zu zahlreichen Bränden mit hunderten Todesopfern. Laut Daten der Internationalen Vereinigung der Feuerwehren und Rettungsdienste von 2014 sterben in Russland jährlich 10.069 Menschen durch Brände – bei 140 Millionen Einwohnern. In den USA beträgt die jährliche Zahl der Todesopfer durch Brände nur 3.275 bei einer Bevölkerung von 320 Millionen.
Auch am Arbeitsplatz sind die Arbeiter mit gefährlichen Bedingungen konfrontiert. Betriebsunfälle fordern jedes Jahr mindestens 15.000 Todesopfer. Im Jahr 2010 ereignete sich bei Kemerowo, einem wichtigen Industrie- und Bergbauzentrum in Sibirien, eine besonders schwere Katastrophe. Bei einer Explosion in der Raspadskaja-Kohlengrube wurden mindestens 66 Arbeiter getötet und 99 weitere verletzt.
Für diese Bedingungen ist nicht nur Korruption verantwortlich. Vielmehr ist die allumfassende Korruption selbst ein Symptom des verkommenen und kriminellen Zustands des Kapitalismus, der Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre von der stalinistischen Bürokratie wiedereingeführt wurde. Die Wiedereinführung des Kapitalismus hat keine „Demokratie“ gebracht, sondern ging einher mit der systematischen Zerstörung der Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte, die durch die Oktoberrevolution und die jahrzehntelange Arbeit der sowjetischen Arbeiterklasse geschaffen worden waren. Dieser Prozess war auch verbunden mit der Zerschlagung der kulturellen und sozialen Infrastruktur, darunter die Schließung von Kulturpalästen, Krankenhäusern, Kindergärten, Schulen, usw.
In Industriestädten wie Kemerowo, einem der Zentren der landesweiten Bergarbeiterstreiks in der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre, war die soziale Verwüstung besonders schlimm.
Die Oligarchie, die aus dieser Orgie der Plünderung und gesellschaftlichen Zerstörung hervorgegangen ist, und viele ehrgeizige kleinere Unternehmer konnten ungehindert tun und lassen, was sie wollten. Sicherheitsvorgaben in Fabriken, Schulen und im öffentlichen Raum werden ständig und systematisch missachtet, während die Unternehmer Hand in Hand mit den lokalen Behörden arbeiten.
Russland mag ein besonders krasses Beispiel sein, doch ähnliche Bedingungen existieren überall auf der Welt und gefährden das Leben von Millionen Menschen. Beispiele dafür sind der verheerende Brand im Londoner Grenfell Tower letzten Sommer und die Fabrikbrände in Bangladesch in den letzten Jahren. Überall werden das Leben und die Interessen der arbeitenden Bevölkerung dem Profitstreben einer immer rücksichtsloseren kriminellen Bourgeoisie untergeordnet. Nur ein gemeinsamer Kampf der internationalen Arbeiterklasse gegen das kapitalistische System kann weitere tödliche Katastrophen wie den Brand von Kemerowo verhindern.