Die wachsende Stärke der Bolschewiki ist an der Tatsache abzulesen, dass Leo Trotzki jetzt als gewählter Vorsitzender des Petrograder Sowjets den wichtigsten Posten im revolutionären Russland bekleidet. Die gewaltige Verschiebung zugunsten der Bolschewiki fällt indessen mit einer scharfen Krise in der Parteiführung zusammen.
In seinen „Lehren des Oktobers“ (1924) erinnert sich Trotzki: „Unser Einfluss auch in der Armee wuchs nicht nur mit jedem Tag, sondern von Stunde zu Stunde. Es handelte sich bald nicht mehr darum, Prognosen aufzustellen und Möglichkeiten zu erwägen, sondern buchstäblich darum, den Weg zu bestimmen, der bereits morgen beschritten werden sollte.“
Petrograd: Bolschewiki über Boykott des Vorparlaments tief gespalten
Die „Demokratische Staatskonferenz“ wird fortgesetzt. Organisiert von den Menschewiki und Sozialrevolutionären, soll diese Konferenz eine neue „Koalitions“-Regierung hervorbringen und ein „Vorparlament“ für die Zeit wählen, bis eine Konstituierende Versammlung zusammentritt. Aber die Art und Weise, wie die Staatskonferenz organisiert wird, verhüllt und bagatellisiert die wirkliche Stärke der Bolschewiki. Während die Bolschewiki mittlerweile die stärkste Kraft im Land darstellen, sind auf 1.700 Delegierte nur hundert Bolschewiki zur Versammlung zugelassen.
Seit dem Kornilow-Putsch hat sich die öffentliche Meinung stark zugunsten der Bolschewiki verändert. Gleichzeitig werden die Meinungsverschiedenheiten in der Parteiführung über den Weg immer größer, der jetzt einzuschlagen ist. Lenin ist der Ansicht, die Partei sollte sich überhaupt nicht an der Demokratischen Staatskonferenz beteiligen. Stattdessen ruft er die bolschewistische Führung dazu auf, konkrete Pläne für die Machteroberung zu entwickeln. Dieser Ansicht ist aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur eine Minderheit derjenigen, die zur Führung der Bolschewiki gehören.
Am 4. Oktober (dem 21. September nach altem, gregorianischem Kalender) organisiert das Zentralkomitee ein gemeinsames Meeting mit der bolschewistischen Delegation auf der Demokratischen Konferenz. Das Zentralkomitee befürwortet den Boykott mit neun gegen acht Stimmen und ist in zwei fast gleich große Hälften gespalten. Gemäß guter parteidemokratischer Tradition werden die Fragen gründlich diskutiert.
Trotzki spricht im Namen des Zentralkomitees für die Befürworter eines demonstrativen Auszugs der Bolschewiki aus der Staatskonferenz und für einen Boykott des Vorparlaments. Darauf folgt eine lange und erbitterte Debatte. Der „gemäßigte“ Flügel, geführt von Rykow, Kamenew und Rjasanow, lehnt einen Boykott ab.
„Es konnte scheinen, und der Mehrheit schien es auch, als trügen die heißen Debatten rein taktischen Charakter“, schreibt Trotzki später. „In Wirklichkeit weckte der Streit die Meinungsverschiedenheiten des April [d.h. über Lenins Aprilthesen] wieder auf und bereitete die des Oktober vor. Die Frage war: Passt die Partei ihre Aufgaben der Entwicklung der bürgerlichen Republik an oder stellt sie sich wirklich die Machteroberung als Ziel.“
In einer Abstimmung unterliegt Trotzkis Position mit 77 gegen 50 Stimmen. Lenins und Trotzkis Unterstützer sind im Moment gezwungen, sich der demokratischen Entscheidung der Mehrheit zu beugen. Entsprechend gibt Rjasanow am 5. Oktober in der Demokratischen Konferenz bekannt, dass die Bolschewiki am Vorparlament teilnehmen werden, um „alle Versuche einer neuen Koalition mit der Bourgeoisie zu entlarven“. Trotzki kommentiert: „Das klang radikal. Im Wesen aber bedeutete dies, der Politik der revolutionären Tat die Politik oppositioneller Entlarvung zu unterschieben.“
Lenin, der sich immer noch in Finnland verborgen hält, unterstützt Trotzkis Position und schreibt:
Trotzki ist für den Boykott eingetreten. Bravo, Genosse Trotzki! Der Boykottismus hat in der Fraktion der Bolschewiki, die zur Demokratischen Beratung gekommen sind, eine Niederlage erlitten. Es lebe der Boykott! Auf keinen Fall können und dürfen wir uns mit der Beteiligung [am Vorparlament] abfinden. Die Fraktion einer Beratung ist nicht das höchste Parteiorgan, und auch die Beschlüsse der höchsten Organe unterliegen einer Revision auf Grund der praktischen Erfahrung. Man muss um jeden Preis eine Beschlussfassung in der Frage des Boykotts sowohl durch das Plenum des Exekutivkomitees als auch durch einen außerordentlichen Parteitag herbeiführen.
„Man muss das Vorparlament boykottieren“, schreibt Lenin. „Man muss in den Sowjet der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten, in die Gewerkschaftsverbände, überhaupt zu den Massen gehen. Man muss die Massen zum Kampf aufrufen. Man muss ihnen die richtige und klare Losung geben: die bonapartistische Bande Kerenskis und sein verfälschtes Vorparlament … auseinanderzujagen.“
Die Debatten in Petrograd finden ihren Widerhall in allen lokalen Parteiorganisationen im ehemaligen Zarenreich. Mehrheiten und Minderheiten bilden sich über die Boykottfrage, die vielleicht den intensivsten internen Konflikt in der Geschichte der bolschewistischen Partei darstellt. In einigen Fällen ist die Mehrheit der lokalen Führer gegen den Boykott, aber die Mehrheit der Mitglieder an der Basis verabschieden Resolutionen zur Unterstützung von Lenins und Trotzkis Position. In Kiew ist eine überwältigende Mehrheit der Führung gegen den Boykott, aber eine Gesamtkonferenz der Mitgliedschaft ergibt einen durchschlagenden Sieg für den Boykott.
Am 5. Oktober publiziert das Parteiorgan Lenins Artikel „Helden der Fälschung und Fehler der Bolschewiki“, aus dem jedoch alle Stellen seiner Kritik an den Bolschewiki entfernt sind. Eine der ausgelassenen Stellen lautet:
Die Bolschewiki hätten die Beratung [der Demokratischen Staatskonferenz] verlassen sollen, zum Zeichen des Protestes und auch, um nicht einer Beratung auf den Leim zu gehen, mit der die Aufmerksamkeit des Volkes von den ernsten Problemen abgelenkt werden sollte. …
Wie es dazu kam, ist verständlich: Die Geschichte nahm mit dem Kornilowputsch eine sehr jähe Wendung. Die Partei ist bei dieser Wendung hinter dem unwahrscheinlich schnellen Tempo der Geschichte zurückgeblieben. Die Partei ist dieser erbärmlichen Schwatzbude vorübergehend auf den Leim gegangen …
War es nötig, Perlen vor die Freunde Kerenskis zu werfen? War es nötig, proletarische Kräfte für die Komödie der Beratung abzuziehen?
Inzwischen verschärft sich die Nahrungsmittelkrise, und die Industrieproduktion wird immer schwächer. In Petrograd und Moskau werden die Lebensmittel so stark rationiert, dass sie unter dem Niveau des Grundbedarfs liegen. Der russische Winter ist im Anzug, und in manchen Regionen leiden Arbeiter und Soldaten buchstäblich Hunger. Bei einigen Demonstrationen steht schlicht: „Wir hungern!“ auf den Transparenten. Lenin weist darauf hin, dass die Partei nur ein kurzes Zeitfenster zum Handeln hat, und dass sie schnell und entschieden handeln muss. Am 6. Oktober schreibt Lenin: „Es kann nicht daran gezweifelt werden, dass in den ‚Spitzen‘ unserer Partei Schwankungen zu beobachten sind, die verhängnisvoll werden können …“
New York City, 3. Oktober: Times unterstützt Entlassung der Professoren, die Krieg ablehnen
Die New York Times lobt in ihrem Leitartikel vom 3. Oktober die Entscheidung der Columbia Universität von der vorhergehenden Woche, zwei Professoren, die den Krieg ablehnen, zu entlassen. Der Stiftungsbeirat habe „seine Pflicht gegenüber der Universität und ihrem guten Ruf erfüllt, als er die Professoren entlassen hat“, schreibt das führende Organ des amerikanischen Liberalismus. Die Times empfiehlt ähnliche Entlassungen im ganzen Land. Sie verurteilt Professoren, „die sich hinter dem durchsichtigen Mantel ‚akademischer Freiheit’ verstecken … um straflos inakzeptable, gefährliche Äußerungen und einen trügerischen Radikalismus zu verbreiten, der die Jugend in die Irre führt“. Weiter beschuldigt die Times mehrere Kriegsgegner in der Professorenschaft, sie würden durch ihre Äußerungen „Verrat begehen“.
Professor James McKeen Cattel‘s „Verrat“ besteht darin, dass er im August 1915 einen Brief an Präsident Wilson geschrieben hat und ihn erinnerte, er sei nicht dafür gewählt worden, „Wehrpflichtige nach Europa zu schicken“. Tatsächlich gewann Wilson die Stimmenmehrheit mit dem nunmehr gebrochenen Wahlkampfspruch: „He kept us out of war“ (Er hielt uns aus dem Krieg heraus). Professor Henry Wadsworth Longfellow Dana wird aufgrund seiner Mitgliedschaft im pazifistischen People’s Council entlassen.
Nicht alle stimmen mit den Herausgebern der Times überein. Der angesehene amerikanische Historiker Charles Beard verlässt aus Protest gegen die Entlassungen am 8. Oktober die Columbia Universität, obwohl er selbst die Beteiligung der USA am Krieg befürwortet. Er schreibt: „Die Universität steht tatsächlich unter der Kontrolle einer kleinen, aber aktiven Gruppe von Kuratoren, die in der Welt der Bildung keinerlei Bedeutung haben, deren politisches Verständnis reaktionär und ohne Visionen ist und die in religiösen Dingen engstirnig und mittelalterlich denken.“
Die New York Times führt zu der Zeit einen Kreuzzug gegen den US-Senator Robert M. La Follette aus Wisconsin, um ihn aus dem Senat heraus zu drängen. Die Minnesota Commission of Public Safety, ein reaktionäres Politiker- und Polizeigremium, beschuldigt ihn, in einer Rede in St. Paul landesverräterische Äußerungen getan zu haben. „Der Ausschluss dieses gefährlichen und illoyalen Mitglieds stünde dem Senat gut zu Gesicht“, schreiben die Herausgeber der Times.
Flandern, 4. Oktober: Briten und Alliierte rücken bei Broodseinde unter schrecklichen Verlusten schrittweise vor
Britische, australische und neuseeländische Verbände greifen die deutschen Verteidiger im Osten des Gheluvelt-Plateaus an, in einem Gebiet, das sie den Deutschen in den letzten beiden Wochen abgerungen haben. Schrittweise nähern sie sich dem Ort Passendale (flämisch: Passchendaele). An diesem Tag rücken die Alliierten etwa 300 Meter vor.
Für diesen bescheidenen Bodengewinn bezahlen Tausende mit dem Leben. Die Zweite Armee, die die Offensive gemeinsam mit der Fünften Armee führt, verliert in der Woche bis zum 5. Oktober 12.236 Mann. Die Fünfte Armee verliert im gleichen Zeitraum 3.305 Mann. Ein besonders schweres Los tragen australische und neuseeländische Einheiten. Die neuseeländischen Verluste werden in dieser Woche mit knapp zweitausend beziffert.
Begeistert über den Bodengewinn wollen britische Kommandeure wie Douglas Haig tiefer in deutsches Territorium vorstoßen. Aber hohe Verluste und starker Widerstand erzwingen die Aufgabe der Pläne.
Die Schlacht ist ein Rückschlag für die deutschen Verteidiger und wird später der „Schwarze Freitag“ vom 4. Oktober genannt. Vom 1. bis zum 10. Oktober verliert die deutsche Armee offiziell 35.000 Mann, wobei andere Quellen die Zahl höher ansetzen. Aber der alliierte Vormarsch erweist sich als nicht nachhaltig. Schlechtes Wetter macht den britischen und alliierten Truppen zu schaffen. Sie sind nicht in der Lage, ihre Artillerie weiter vorzuziehen, und verlangsamen ihre weiteren Angriffe. Deutsche Verstärkungen befestigen die Stellungen und verhindern einen Durchbruch zur belgischen Küste, was das Ziel der dritten Flandernschlacht seit ihrem Beginn im Juli war.
Die Schlächterei bei Ypern zieht sich unter verlustreichen Kämpfen noch einen weiteren Monat hin, bis sie Mitte November in einer blutigen Sackgasse zum Stillstand kommt.
Washington D.C., 6. Oktober: Wilsons neues Gesetz erlaubt Beschlagnahme „feindlichen“ Eigentums und Zensur der Opposition
Der „Trading with the Enemy Act“ (Gesetz über Geschäfte mit dem Feind) tritt in Kraft. Er verleiht dem amerikanischen Präsidenten weitreichende antidemokratische Vollmachten, um den „Feind“-Handel im Krieg einzuschränken. Die New York Times schreibt, das Gesetz gehöre zu den „drastischsten Gesetzen, die der Kongress je verabschiedet hat“.
Das Gesetz schafft eine neue Polizeibehörde, das Office of Alien Property Custodian, unter der Führung des Wilson-Anhängers A. Mitchell Palmer. Dieser beginnt sofort, Vermögen in Höhe von vielen Millionen Dollar aus „feindlichem“ Besitz einzuziehen. Die größte Außenstelle der Behörde wird in St. Louis eingerichtet, wo es eine große deutsch-amerikanische Gemeinde gibt. Palmer weist nicht nur die Konfiszierung des Vermögens von Deutschen und Bürgern Österreich-Ungarns an, sondern auch von deren „Verbündeten“. Diese Vermögen werden für die Dauer des Kriegs in einen Investitionsfonds namens „Liberty Bond“ eingebracht. Die Regierung beschlagnahmt unter dem neuen Gesetz schätzungsweise über eine Milliarde Dollar.
Im Namen des neuen Gesetzes sowie des Spionagegesetzes ordnet Wilson auch die Schaffung einer Zensurbehörde an, die aus Vertretern des Kriegs- und des Marineministeriums, der Kriegshandelsbehörde und des Kriegspropagandaamts besteht. Sie trägt den irreführenden Namen Komitee zur Information der Öffentlichkeit. Das Komitee hat umfassende Vollmachten, Post, Radio und Telegraphen zu überwachen und zu kontrollieren. Außerdem verlangt das Gesetz, dass jedes ausländische Presseorgan vor der Versendung englische Übersetzungen von jeder Ausgabe vorlegt und genehmigen lässt.
Frankreich, 7. Oktober: Schlechteste Ernte seit fünfzig Jahren
Mit der anhaltenden Schlächterei an der Front verschlechtert sich auch die Lage der Zivilbevölkerung. Als bekannt wird, dass die schlechteste Ernte seit fünfzig Jahren bevorsteht, werden neue Rationen festgesetzt. Die landwirtschaftliche Produktion sinkt auf weniger als die Hälfte des Vorkriegsniveaus ab.
Die Probleme mit der Nahrungsmittelversorgung schüren schon das ganze Jahr über den wachsenden sozialen Widerstand. Die schlechte Qualität der Lebensmittel war einer der Gründe, die Meutereien in der Armee im Frühjahr und Frühsommer hervorriefen. Arbeiter in Paris und andern großen französischen Städten demonstrieren gegen den Wertverlust ihrer Löhne, weil sie die Lebensmittelpreise nicht mehr bezahlen können. Allein im ersten Quartal von 1917 sind die Lebensmittelpreise um 25 Prozent in die Höhe geschnellt.
Petrograd, 8. Oktober (25. September): Kerenskis drittes Koalitionskabinett
Nach monatelangen Verhandlungen bildet Alexander Kerenski seine dritte Koalitionsregierung. Es ist von Anfang an eine krisenbehaftete und unpopuläre Regierung. Konowalow, ein reicher Moskauer Industriebaron, wird Vizepräsident und Handelsminister. Tereschtschenko, ein Zuckerproduzent aus Kiew, bleibt für das Außenministerium zuständig. Im Ganzen treten zehn Mitglieder der Sozialrevolutionäre und Menschewiki der Regierung bei, aber es sind fast alles unpopuläre und weniger bekannte Figuren.
Kerenski ist durch seine Verstrickung in den Kornilow-Putsch völlig diskreditiert. Während seiner letzten Wochen im Amt ist sein Wille offenbar fast vollständig gelähmt. Trotzki beschreibt die Regierung in folgenden Worten:
Die Minister blickten besorgt um sich, horchten, warteten ab, halfen sich mit leeren Schreibereien und beschäftigten sich mit Lappalien … ein Anflug unfreiwilliger Komik [lag] auf der gesamten Tätigkeit der Provisorischen Regierung … Diese Menschen wussten nicht, was zu tun und wie sich zu drehen. Sie regierten nicht, sondern spielten Regierer, wie Schuljungen Soldaten spielen, nur viel weniger unterhaltsam.
Der Sinn der Koalition liegt, wie Trotzki schreiben wird, „in dem Versuch, die Sache der Julitage zu Ende zu führen: die Revolution durch Niederschlagung der Bolschewiki zu enthaupten“. Aber der Griff der Bourgeoisie um die Macht ist nun unvergleichlich schwächer als nach den Julitagen. So wird Kadett Miljukow freimütig feststellen, dass sich über der Regierung die „schicksalsvolle Frage“ erhob: „Ist es nicht zu spät? Ist es nicht zu spät, den Bolschewiki den Krieg zu erklären?“
Petrograd, 8. Oktober (25. September): Trotzki zum Vorsitzenden des Petrograder Sowjets gewählt
Leo Trotzki ist nun gewählter Vorsitzender des Petrograder Sowjets. Er tritt an die Stelle von Nikolai Tschcheїdse, des Führers der Menschewiki. Trotzkis Rückkehr auf den Posten, den er schon 1905 innehatte, wird mit einer lautstarken Ovation begrüßt.
Seit der Februarrevolution waren die Bolschewiki in der Minderheit in den Sowjets, die von den Menschewiki und Sozialrevolutionären kontrolliert wurden. Im April konnten die Bolschewiki im Petrograder Sowjet kaum hundert Stimmen gegen den Krieg zusammenbringen, während eine Resolution der Vaterlandsverteidiger 2000 Stimmen erhielt. Vom Präsidium des Petrograder Sowjets aus haben Leute wie Skobelew, Tschcheїdse, Plechanow und Zereteli die Bolschewiki verfolgt und verleumdet.
Jetzt kontrollieren die Bolschewiki das Präsidium, wo die bolschewistischen Führer Trotzki, Kamenew, Rykow und Fedorow ihre Sitze neben zwei Sozialrevolutionären und einem Menschewiken einnehmen. Sie kontrollieren auch das Zentrale Exekutivkomitee. Die Bolschewiki haben im Petrograder und im Moskauer Sowjet die Mehrheit, und sie sind drauf und dran, die Mehrheit in allen Provinzsowjets zu erobern.
In einer Rede am Tag seiner Wahl erklärt Trotzki: „Heute fühlen wir uns deutlich stärker. Die Liste der neuen Minister, die in den Abendzeitungen veröffentlicht wurde … weist jedoch darauf hin, dass die Revolution einen [weiteren] kritischen Punkt erreicht hat.“ Trotzki vergleicht die gegenwärtige Situation mit den Umständen der Revolution von 1905 und stellt fest, dass die revolutionäre Situation jetzt sehr viel günstiger sei. Es blieben jedoch komplexe politische Herausforderungen.
An die Adresse seiner Gegner von den Menschewiki und Sozialrevolutionären gerichtet, erklärt Trotzki: „Wir gehören unterschiedlichen Parteien an und haben unsere eigene Arbeit zu tun, aber bei der Leitung der Arbeit des Petrograder Sowjets werden wir die individuellen Rechte und die völlige Freiheit aller Fraktionen wahren.“
Trotzki verliest eine von ihm entworfene Sowjetresolution, in der die Kerenski-Regierung zum Rücktritt zugunsten einer Sowjetregierung aufgefordert wird. Der Petrograder Sowjet stimmt ihr einhellig und begeistert zu. Darin heißt es:
Die Kunde von der neuen Regierungsmacht wird seitens der gesamten revolutionären Demokratie die eine Antwort finden: zurücktreten! Gestützt auf diese einmütige Stimme der echten Demokratie wird der allrussische Sowjetkongress eine wahrhaft revolutionäre Macht schaffen.
Kalifornien, auch in diesem Monat: Bau des weltgrößten Teleskops in Pasadena
Unter der Anleitung des Astronomen George E. Hale (1868–1938) beginnen Ingenieure in diesem Monat mit der Endmontage des Hooker-Teleskops. Der Reflektor mit einem Durchmesser von 2,54 Meter (100 Zoll) komplettiert eine ganze Teleskop-Familie am Mount-Wilson-Observatorium. Bis 1949 bleibt das Hooker-Teleskop das weltweit größte Teleskop. Im ganzen zwanzigsten Jahrhundert dient es dem Observatorium, das zu den ältesten und renomiertesten Sternwarten der Welt zählt, als wichtiges Hilfsmittel.
Hale hat den Spiegel des Hooker-Teleskops schon 1906 in Auftrag gegeben. Es soll der Nachfolger des noch unfertigen 1,54 Meter-Teleskops werden, das ebenfalls am Mount-Wilson-Observatorium aufgestellt wird. Es geht darum, Antworten auf mehrere Fragen zu erhalten, welche die Astronomen seit Langem umtreiben, darunter die Frage nach dem Charakter der so genannten „Weltinseln“ und der „Spiralnebel“. Sind sie Teil unserer Milchstraße, oder sind sie noch weiter entfernt? Die Frage beantwortet 1923 Edwin Hubble endgültig, als er beweist, dass der „Andromeda-Nebel“ außerhalb der Milchstraße liegt.
Diese Entdeckungen ändern unser Verständnis vom Platz der Menschheit im Universum. Die Milchstraße, bisher die Grenze unseres Horizonts, erweist sich plötzlich als eine von 200 Milliarden bis zwei Billionen solcher Formationen. Sie gehören zur Grundstruktur des Universums und werden später als „Galaxien“ bezeichnet.
Der Teleskopbau muss verschiedene technische und finanzielle Hürden überwinden. Als Hale das Projekt aufgenimmt, hat er erst ein Zehntel der Finanzmittel sicher, die notwendig sind, um den Kauf des Spiegels, sein Schleifen und Polieren, den Aufbau des Teleskops und die Konstruktion des Doms zu finanzieren, der das Teleskop aufnehmen soll. Erst als 1910 Andrew Carnegie eingreift, ist es möglich, das Gesamtprojekt zu finanzieren.
Der Große Krieg hat den Bau weiter verzögert. Optische Werkzeuge und Werkstätten, Gelder und Fachleute, die früher der Entwicklung astronomischer Instrumente dienten, sind jetzt in die amerikanische Kriegsproduktion integriert.
Neben der Schwierigkeit, das notwendige Personal anzuwerben und die Bestandteile herstellen zu lassen, tauchen auch diverse technische Probleme auf. Der Spiegel kann nur in den Sommermonaten geschliffen und poliert werden, weil die künstliche Hitze, die im Winter in dem Observatorium generiert wird, dazu führt, dass das Glas aus seiner Position gedrückt wird. Die Ausrüstung auf den Berggipfel zu transportieren, ist an sich schon eine Herausforderung: Der Spiegel, der Beton, das Metall für den Dombau und hundert Tonnen Ausrüstung für die Spiegellafette müssen mehr als 15km weit über einen staubigen und gefährlichen Fußweg hinauf geschleppt werden. Allein den Spiegel auf einem speziell konstruierten Gestell auf den Berg zu schaffen, dauert acht Stunden.
In den kommenden Jahrzehnten stellt sich heraus, dass die ungeheure Anstrengung und der Erfindungsreichtum die Sache wert sind. Neben dem Beweis für die Existenz weiterer Galaxien erlaubt das Hooker-Teleskop Hubble und seinem Assistenten Milton Humason den Beweis, dass sich das Universum ausdehnt. Fritz Zwicky findet damit die ersten Hinweise auf dunkle Materie. Albert Michelson berechnet mit seiner Hilfe den genauen Durchmesser von Sternen. Henry Russel entwickelt darauf gestützt das Sternenklassifizierungsmodell, das noch heute benutzt wird. Und Walter Baade kalkuliert mit seiner Hilfe die Entfernung zu gewissen Sternen, was dazu führt, dass sich die Größe des damals bekannten Universums glatt verdoppelt.
Der englische Poet Alfred Noyes (1880–1958) ist vom ersten Test des Hooker-Teleskops in der Nacht vom 1. auf den 2. November fasziniert und lässt sich zu dem Gedicht “Watchers of the Sky“ (Beobachter des Himmels) inspirieren, in dem es heißt:
… The explorers of the sky, the pioneers
Of science, now made ready to attack
That darkness once again,
and win new worlds.