Am Dienstagnachmittag erläuterte der französische Präsident Emmanuel Macron im Audimax der Pariser Universität Sorbonne seine Vorschläge für die Europäische Union. Angesichts der wachsenden Spannungen mit den USA und China forderte er eine Aufrüstung der europäischen Armeen und Geheimdienstbehörden sowie Vorbereitungen auf neue Bankenrettungen, Angriffe auf die arbeitende Bevölkerung und eine fremdenfeindliche Politik.
Obwohl Macron bereits vor fast fünf Monaten gewählt wurde, verschob er seine erste Rede über diese wichtigen Fragen bis nach der Bundestagswahl in Deutschland am letzten Sonntag. Es wurde allgemein davon ausgegangen, dass seine Vorschläge zum Ausbau der EU als militaristisches Bündnis und Konkurrent von Washington und Peking eine enge Zusammenarbeit und Übereinstimmung mit Berlin erfordert.
Macrons Rede wurde vom Ergebnis der Bundestagswahl am letzten Sonntag überschattet, aus der die Gegner der Finanzierung seiner Pläne gestärkt hervorgegangen sind. Außerdem ist die rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD) mit fast 100 Abgeordneten in den Bundestag eingezogen.
Die Stimmverluste für Bundeskanzlerin Angela Merkels bisherige große Koalition aus Union und SPD waren ein schwerer Schlag für Macrons Pläne. Französische Medienkommentatoren gehen davon aus, dass eine Jamaika-Koalition aus Union, Grünen und FDP, die jetzt als möglicher Nachfolger der großen Koalition gehandelt wird, den Vorschlägen des französischen Präsidenten wesentlich ablehnender gegenüberstehen würde.
Noch vor Macrons Rede am Dienstag attackierte FDP-Chef Christian Lindner dessen Pläne und erklärte, die FDP werde nicht zulassen, dass jemand eine „Geldpipeline“ von Deutschland in die anderen Staaten Europas legt. Lindner fügte jedoch hinzu, er sei bereit zu Diskussionen über die Finanzierung bedeutender Pläne und Projekte der EU.
Bei seiner Rede an der Sorbonne gratulierte Macron Merkel zur Wahl der CDU als stärkste Kraft bei der Bundestagswahl und rief zu einer Fortsetzung der Zusammenarbeit zwischen Berlin und Paris auf: „Ich weiß auch, wie verletzt sie ist, dass hasserfüllte und nationalistische Parolen so viel Zuspruch bekommen haben. Ich weiß aber auch, dass ihre Antwort weder Rückzug noch Schüchternheit lautet.“ Er forderte eine „entschlossene und konkrete deutsch-französische Initiative“, um neue europäische Projekte zu entwickeln.
Macron bezeichnete seine eigenen Arbeitsmarktdekrete und seinen harten Sparkurs als wichtige Maßnahmen zum Aufbau der EU als „Konkurrent gegenüber China und den USA“ und als Mittel, um „zu erreichen, was wir in den letzten zehn Jahren nicht geschafft haben: Arbeitsplätze schaffen, damit eine Generation europäischer Jugendlicher nicht von unseren Problemen und Ungleichgewichten zur Arbeitslosigkeit verdammt wird [...] Wir führen Reformen durch, wir verwandeln unser Land, aber wir tun es mit Blick auf Europa. Ich habe keine roten Linien, nur politische Horizonte.“
Er schlug eine große und kostspielige Aufrüstung der europäischen Armeen und Geheimdienstbehörden vor und erklärte, Europa brauche eine „gemeinsame Interventionstruppe, einen gemeinsamen Verteidigungsetat und eine gemeinsame Operationsdoktrin“. Er forderte außerdem den Aufbau einer „europäischen Geheimdienstbehörde“ und deutete an, Europa sollte eine Technologie- und Waffenforschungseinrichtung nach dem Vorbild der amerikanischen Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) gründen. Darüber hinaus schlug er eine gemeinsame Asyl- und Einwanderungspolitik vor, die auf der „Kontrolle unserer Grenzen“ basiert.
Zuletzt wiederholte Macron eine seit langem bestehende und umstrittene Forderung von Paris an Berlin nach einem gemeinsamen Etat der Eurozone, der aus den Steuergeldern aller Mitgliedsstaaten der Eurozone finanziert werden soll. Berlin hat solche Vorschläge immer aus der Befürchtung heraus abgelehnt, dass Frankreich, Griechenland oder andere Staaten der Eurozone sie benutzen würden, um industrielle, militärische oder sonstige Projekte zu finanzieren, die deutschen Interessen zuwiderlaufen.
Der französische Präsident versprach Sozialkürzungen in Frankreich, „aber wir brauchen auch gemeinsame Regeln und Instrumente“. Er verwies stillschweigend darauf, dass Berlin schon seit langem seine Hegemonie in der Eurozone durchsetzt, indem es mit der Einstellung der Kredite der Europäischen Zentralbank an die Bankensysteme anderer krisengeschüttelter Staaten der Eurozone droht. Macron bekräftigte die Forderung Frankreichs nach einer „Wachstumspolitik“.
Macron erklärte: „Wir brauchen mehr Investitionen, mehr Möglichkeiten zur Stabilisierung unserer Wirtschaft im Fall von Erschütterungen. Denn ein Staat kann keine Krisen mehr bewältigen, wenn er seine Geldpolitik nicht mehr bestimmt. Und aus allen diesen Gründen brauchen wir einen stärkeren Haushalt im Herzen Europas, im Herzen der Eurozone.“
Macrons Rede und das Ergebnis der Bundestagswahl verdeutlichen den reaktionären Charakter des europäischen Kapitalismus. Die Behauptung, nach der Wahl des Faschisten Donald Trump zum US-Präsidenten wäre eine von Merkel geführte EU die neue „Anführerin der freien Welt“, waren völlig weltfremd. Die wenigen Punkte, in denen sich die Staaten der Eurozone angesichts des Aufstiegs rechtsextremer Parteien in Deutschland, Frankreich und ganz Europa einigen können, sind massive Erhöhungen der Militärausgaben, die Ausweitung des Überwachungsapparats und Dekrete um Löhne zu senken und Arbeiter nach Gutdünken einstellen und entlassen zu können.
Das transatlantische Bündnis mit der EU ist zerstört, seit der US-Imperialismus – ausgehend von der Auflösung der Sowjetunion – ein Vierteljahrhundert lang immer neue imperialistische Kriege geführt hat. Trumps Wahlsieg und Großbritanniens Entscheidung zum Ausstieg aus der EU im vergangenen Jahr haben die größten innereuropäischen Hindernisse für den Aufbau eines gegen Washington gerichteten Militärblocks der EU aus dem Weg geräumt, was den Niedergang des transatlantischen Bündnisses weiter beschleunigt hat. Doch die historischen Widersprüche des europäischen Kapitalismus, die nach dem Finanzcrash von 2008 und der Schuldenkrise in Griechenland ans Licht kamen, sind immer noch vorhanden und verschärfen sich.
Die anfänglichen Reaktionen auf Macrons Rede waren frostig. Claire Demesmay von der Deutschen Gesellschaft für Außenpolitik (DGAP) erklärte gegenüber der Deutschen Welle, Merkel sei nicht sehr begeistert, schloss aber eine Einigung nicht völlig aus. Sie erklärte, Macron wolle mehr Solidarität in der EU, sein Motto sei die Souveränität Europas. Er wolle viel ändern, erklärte die Frankreich-Expertin, u.a. eine Interventionstruppe der EU, eine EU-Asylbehörde und einen Haushalt der Eurozone. Das sei sehr viel, und Demesmay erklärte, Merkel sei darüber nicht besonders begeistert. Sie brauche jedoch ein starkes Frankreich, um die Zusammenarbeit innerhalb der EU zu sichern.
Die französische Zeitung Les Echos schrieb am Mittwoch in ihrem Leitartikel, es sei unwahrscheinlich, dass ein Vorschlag für einen gemeinsamen Haushalt der Eurozone „Berlin in seiner heutigen Form überzeugt. [...] Deutsche Politiker sind äußerst irritiert, vor allem im Lager von Angela Merkel.“
Macron rechnet womöglich damit, dass Berlin Paris als Verbündeten gegen Washington braucht und Zugeständnisse an die französischen Banken und die Regierung macht. Les Echos erklärte, es sei wichtig für führende Politiker in Deutschland, sich klar zu werden, woraus Macrons „Angebot“ besteht. Angesichts des politischen Geschachers nach der Wahl in Berlin könnte er darauf hoffen, die Politik oder sogar die Zusammensetzung der nächsten deutschen Regierung zu beeinflussen.
Indem Macron Trump am französischen Nationalfeiertag nach Paris einlud, während er zugleich einen Verteidigungspakt mit Berlin unterzeichnete, machte der neue Präsident Berlin gegenüber unmissverständlich klar, dass Paris noch andere Optionen hat und unter bestimmten Bedingungen und für den richtigen Preis seinem europäischen Verbündeten für ein Bündnis mit Washington den Laufpass gibt.
Macrons unablässiger Einsatz für Sozialkürzungen und einen dauerhaften Ausnahmezustand machen jedoch deutlich, dass jegliche Einigung auf Kosten der Arbeiterklasse gehen wird. Es deutet auch nicht allzu viel darauf hin, dass Paris mehr Geldspritzen für seine Banken und seine bevorzugten wirtschaftlichen Initiativen erhalten kann.
Das Wochenmagazin Le Point wies darauf hin, dass Macron nur ähnliche Vorschläge seiner Vorgänger Nicolas Sarkozy und François Hollande vom Beginn ihrer Amtszeit wiederholt: „Angela Merkel hat höflich zugehört und sie dann völlig ignoriert. Und die beiden französischen Präsidenten waren nicht in der Lage, Europa so zu verändern, wie sie es wollten.“
Der Ökonom Daniel Cohen wies in einem Leitartikel für die Zeitung Nouvel Obs auf die Differenzen in Berlins Politik hin, „je nachdem ob Merkel die alte Koalition mit der SPD beibehält […] oder sich mit der FDP verbündet.“ Er erklärte: „Merkel hat sehr positive Signale an Emmanuel Macron gesandt. [...] Doch Merkel hat zwei Eisen im Feuer. Sie unterstützt auch die Vorschläge ihres Finanzministers Wolfgang Schäuble“, der sich für weitreichende Kürzungen und den Rauswurf Griechenlands aus der Eurozone ausspricht.
Cohen warnte vor einer möglichen „neuen Finanzkrise“ und erklärte erbittert, die Differenzen ließen sich nicht übertünchen, sodass Frankreich im Falle eines neuen Zusammenbruchs ungeschützt wäre: „Das Risiko liegt wie immer darin, ein bisschen von allem machen zu wollen: ein ,kleiner' Haushalt, um die Franzosen glücklich zu machen, einen europäischen Währungsfonds, der finanzielle Orthodoxie garantiert, um die Deutschen zufriedenzustellen. Europa kann sich den Luxus einer solchen Augenwischerei nicht länger leisten.“