Als 1917 in Petrograd die Februarrevolution ausbrach, befand sich der Führer der Bolschewistischen Partei, Wladimir Iljitsch Lenin, etwa 2400 km weit entfernt in Zürich. Ungefähr 10 Jahre zuvor hatte er nach der Revolution von 1905 aus Russland fliehen müssen, um einer Gefängnis- oder gar der Todesstrafe des zaristischen Regimes zu entgehen.
Nach dem Bericht von Lenins Frau Nadeschda Krupskaja, die dem Führungskreis der Bolschewiki angehörte und eine seiner engsten politischen Weggefährten war, waren sie eines Tages Anfang März (nach dem Julianischen Kalender) gerade mit dem Frühstück fertig, als der polnische Marxist Mieczyslaw Bronski in ihre Wohnung stürmte und rief: „Habt ihr die Nachrichten nicht gehört? In Russland gibt es eine Revolution!“
Krupskaja schrieb in ihren Erinnerungen an Lenin von 1933:
Als Bronski gegangen war, eilten wir zum See, dort wurden an einer bestimmten Stelle sämtliche Zeitungen sofort nach ihrem Erscheinen ausgehängt.
Wir lasen die Telegramme mehrere Male. In Russland war tatsächlich die Revolution ausgebrochen. Lenins Hirn arbeitete aufs Intensivste. Ich weiß nicht mehr, wie dieser Tag und die Nacht zu Ende gingen. Am nächsten Tag trafen neue Regierungstelegramme über die Februarrevolution ein, und Lenin schreibt schon an die Genossin Kollontai in Stockholm: „In keinem Fall wieder nach dem Muster der II. Internationale! In keinem Fall zusammen mit Kautsky! Unbedingt ein revolutionäreres Programm und eine revolutionärere Taktik!“ Und weiter… „Nach wie vor revolutionäre Propaganda und Agitation und Kampf mit dem Ziel der proletarischen Weltrevolution und der Eroberung der Macht durch die Sowjets der Arbeiterdeputierten...“ (1)
Räumlich war Lenin weit von Russland entfernt. Das hieß aber nicht, dass er keinen Einfluss ausübte. Die Leitung der Bolschewiki im Züricher Exil, die nicht nur aus Lenin und Krupskaja bestand, sondern auch aus so hervorragenden Revolutionären wie Inessa Armand, hielt möglichst engen Kontakt zu der illegalen bolschewistischen Organisation in Russland – hauptsächlich über Briefe und Telegramme, die an Vertrauenspersonen wie Alexandra Kollontai ins neutrale Schweden geschickt wurden. Diese wurden dann nach Finnland, und weiter nach St. Petersburg geschmuggelt. Von dort aus wurden sie nach und nach weiter verbreitet.
Im März 1917 stand Lenin kurz vor seinem 47. Geburtstag. Seine Lebensumstände waren, milde ausgedrückt, ärmlich. Krupskaja beschrieb das Haus, in dem sich ihr Zimmer befand, als „ altes, finsteres Haus fast im Stil des 16. Jahrhunderts, mit einem muffigen, stinkenden Hof“. Ende 1916, schrieb sie, hatten sie die Ausgaben für ihren Lebensunterhalt auf ein absolutes Minimum reduziert. Die bolschewistischen Exilanten waren mittellos – fraglos trug dieser Umstand zu Lenins Gesundheitsproblemen bei.
Lenins Reaktion auf die Februarrevolution entsprang der internationalistischen Perspektive, für die er während seiner gesamten politischen Tätigkeit gekämpft hatte, besonders nach dem Verrat der Zweiten Internationalen vom August 1914, als die Mehrheit der Parteien und Führer der Zweiten Internationalen ihre eigene Kapitalistenklasse im Ersten Weltkrieg unterstützt hatte.
Selbst unter den Marxisten, die den Verrat ablehnten, war Lenin in der Minderheit.
Mehrheitlich trat die Strömung der Kriegsgegner, die nach dem Namen des Dorfes, in dem sie sich 1915 versammelt hatte, als Zimmerwald-Internationale bekannt wurde, dafür ein, dass die Regierungen der kriegsführenden Länder zu Friedensgesprächen gedrängt werden sollten.
Lenin betonte immer wieder, dass nur eine europa- und weltweite sozialistische Revolution einen dauerhaften Frieden und den Fortbestand der Zivilisation sichern könne. Sämtliche Bestrebungen von Marxisten, wirklichen Internationalisten, müssten darauf ausgerichtet sein, den Klassenkampf in ihrem jeweiligen Land voranzutreiben und den Sturz ihrer eigenen herrschenden Klasse vorzubereiten – Lenins Parole: „Den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg verwandeln“ brachte diese revolutionäre Perspektive zum Ausdruck.
Die Resolution, die Lenin für den „linken Flügel“ der Antikriegskonferenz 1915 in Zimmerwald verfasste, begann mit den Worten:
Der gegenwärtige Krieg ist durch den Imperialismus erzeugt. Der Kapitalismus hat dieses sein höchstes Stadium schon erreicht, denn die Produktivkräfte der Gesellschaft und die Größe des Kapitals sind über den Rahmen der einzelnen Nationalstaaten hinausgewachsen... Die ganze Welt wird zu einem einheitlichen Wirtschaftsorganismus. Die ganze Welt ist zwischen einer Handvoll Großmächte verteilt. Die objektiven Vorbedingungen des Sozialismus sind vollständig herangereift. Der heutige Krieg ist ein Krieg der Kapitalisten um Privilegien und Monopole, die den Zusammenbruch des Kapitalismus aufschieben sollen.(2) Der Resolutionsentwurf der Zimmerwalder Linken endete mit den Worten:
Der imperialistische Krieg eröffnet die Ära der sozialen Revolution. Alle objektiven Bedingungen der jüngsten Epoche setzen den revolutionären Massenkampf des Proletariats auf die Tagesordnung. Die Aufgabe der Sozialisten ist es, ohne ein einziges legales Mittel des Kampfes aufzugeben, alle diese Mittel der Hauptaufgabe unterzuordnen, das revolutionäre Bewusstsein der Arbeiter zu entwickeln, sie im internationalen revolutionären Kampf zu sammeln, jedes revolutionäre Auftreten zu fördern und die Umwandlung des imperialistischen Krieges zwischen den Völkern in den Bürgerkrieg anzustreben, in den Krieg der unterdrückten Klassen gegen ihre Unterdrücker, mit dem Ziel der Expropriation der Kapitalistenklasse, der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat, der Verwirklichung des Sozialismus.(3)
Lenin hob hervor, dass diese Perspektive nur durch den Aufbau einer neuen, Dritten Internationalen verwirklicht werden konnte. Sie sollte nur aus Parteien bestehen, die sich auf die weltweite sozialistische Revolution verpflichteten. Vor allem in dieser Frage fand Lenin keine Unterstützung bei der Zimmerwalder Internationalen. Mehrheitlich klammerte diese sich an die Hoffnung, die Zweite Internationale könne für den Marxismus zurückgewonnen werden.
Nach Lenins Überzeugung würden die gleichen Widersprüche, die den Imperialismus in den Weltkrieg getrieben hatten, auch die Arbeiterklasse in revolutionäre Kämpfe treiben. In der Vorbereitung dieser Kämpfe sah er die vorrangige Aufgabe der Marxisten. Er konnte aber nicht vorhersagen, wann die Revolution ausbrechen, und wo sie beginnen würde.
So beendete Lenin eine Rede vor marxistischen Jugendlichen in Zürich im Januar 1917 mit den Worten: „Wir, die Alten, werden vielleicht die entscheidenden Kämpfe dieser kommenden Revolution nicht mehr erleben:“(4)
Nur wenige Wochen später brach die Februarrevolution aus, Lenin war noch unter den Lebenden und konnte „die entscheidenden Kämpfe dieser kommenden Revolution“ nicht nur miterleben: er leitete sie an.
Für Lenin und die anderen revolutionären Exilanten in der Schweiz war es eine wichtige Frage, wie sie nach Russland zurückkommen konnten. Die Schweiz ist ein Binnenland, das damals im Süden an Italien, im Westen an Frankreich, im Osten an das Kaiserreich Österreich-Ungarn und im Norden an das deutsche Kaiserreich grenzte. Russland führte Krieg gegen Österreich und Deutschland und war mit Frankreich verbündet. Die herrschende Klasse Frankreichs würde dem Kriegsgegner Lenin bei der Rückkehr nach Russland nicht behilflich sein.
Die Zeit spielte eine entscheidende Rolle.
Wie es von Lenin und den Bolschewiki vorhergesehen, und von Leo Trotzki in seiner Theorie der Permanenten Revolution noch prägnanter formuliert wurde, kam der Arbeiterklasse die führende Rolle in der Revolution zu. Hunderttausende Soldaten hatten sich den Arbeitern angeschlossen. Ihrer Klassenherkunft nach stammten sie zumeist aus den unteren, ärmeren Teilen der riesigen bäuerlichen Landbevölkerung.
Russland befand sich in einem Zustand der „Doppelherrschaft“. Über die faktische Macht, im Sinne einer aktiven Unterstützung durch die Massen, verfügten nur die Sowjets. Ihre Autorität wurde durch das Durchsetzungsvermögen der bewaffneten Soldaten und Arbeitermilizen aufrechterhalten. Die Parteiführer der Menschewiki und Sozialrevolutionäre (SR) arbeiteten im Sowjet ganz bewusst auf die Übergabe der Macht an die Provisorische Regierung hin. Die Provisorische Regierung war von den bürgerlichen Parteien, den Vertretern der Kapitalistenklasse, eingesetzt worden. Es fehlte ihr nicht an Verbindungen zum immer noch weitgehend intakten zaristischen Staatsapparat.
Die bürgerlichen Parteien hielten daran fest, dass Russland den Krieg gegen Deutschland und Österreich-Ungarn weiterzuführen, und seine Verpflichtungen gegenüber seinen imperialistischen Alliierten in Großbritannien und Frankreich zu erfüllen hatte. Sie forderten, dass alle übrigen Diskussionen, und sei es auch nur über den Zeitpunkt der Wahl einer Konstituierenden Versammlung zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung, bis auf den „Sieg“ im Krieg verschoben werden müssten. Die Soldaten müssten wieder der militärischen Disziplin unterstellt werden und die bewaffneten Arbeiter dem Staat ihre Waffen aushändigen.
Die Arbeiterklasse vertrat jedoch ihre eigenen Forderungen. Sie hatte die kapitalistischen Unternehmer durch eigenständige Aktionen gezwungen, in den Acht-Stunden-Tag einzuwilligen. Sie hatte ein gewisses Maß an Kontrolle über die Fabriken und Betriebe errichtet. Sie forderte Preiskontrollen und weitere Maßnahmen zur Erleichterung ihrer Lebensbedingungen. Vor allem forderten die Arbeiter ein Ende des katastrophalen Krieges, der 1,75 Millionen russische Soldaten das Leben gekostet, und weitere Millionen körperlich und seelisch traumatisiert hatte.
Wie die Arbeiter forderten auch die Soldaten Frieden. Nach Trotzkis Darstellung in seiner Geschichte der Russischen Revolution zogen die Soldaten vom Land den völlig richtigen Schluss, dass Landreform und demokratische Freiheiten ihnen nicht mehr viel nutzen würden, wenn sie tot waren.
Die Forderungen der Arbeiterklasse und der Soldaten traten in den Resolutionen der Arbeiter und Militärangehörigen, die unter bolschewistischem Einfluss standen, am deutlichsten zu Tage: Sie forderten die Sowjets auf, die Macht zu ergreifen.
Die Kriegsfrage war schnell zur wichtigsten Frage geworden. Menschewistische Führer im Sowjet wie Tschcheidse und Zereteli, die zuvor die russische Kriegsbeteiligung abgelehnt hatten, versicherten ebenso wie der führende Sozialrevolutionär Alexander Kerenski, Minister in der Provisorischen Regierung, dass die Februarrevolution und ihre Errungenschaften den Charakter der russischen Teilnahme am 1. Weltkrieg entscheidend „verwandelt“ hätten. Russland führe keinen Raubkrieg mehr, sondern verteidige jetzt die „Demokratie“ und die Revolution gegen den deutschen und österreichisch-ungarischen Militarismus – nicht unüblich zur Rechtfertigung des Kriegs als „revolutionäre Vaterlandsverteidigung“.
Objektiv sollte die Bezeichnung „revolutionäre Vaterlandsverteidigung“ letztendlich die Unterordnung der Massen und der Sowjets unter die Provisorische Regierung bewirken. Und zweifellos übte sie auch ihre Wirkung auf die viele Millionen zählenden Soldatenmassen vom Land aus, aber auch auf breitere Schichten, die erst begonnen hatten, sich für Politik zu interessieren und wenig politisches Verständnis und Bewusstsein hatten. Es schien einleuchtend, dass die Errungenschaften der Revolution verteidigt werden mussten. Die Soldaten würden nicht für die räuberischen Gelüste des Zaren kämpfen, notfalls jedoch für die Verteidigung einer Regierung, die ihnen die Durchführung einer Landreform, Demokratie und Frieden versprochen hatte.
Am 14. März verabschiedete das von Menschewiki und Sozialrevolutionären kontrollierte Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets den „Appell an die Völker der Welt“, in dem erklärt wurde, dass Russland Frieden wolle, jedoch „unsere errungenen Freiheiten entschieden verteidigen“ werde. Die deutschen und österreichischen Arbeiter wurden aufgerufen, „sich zu weigern, sich von Königen, Großgrundbesitzern und Bankern für Eroberung und Plünderung instrumentalisieren zu lassen“.
Wie Trotzki später in seiner Geschichte der Russischen Revolution bemerkte, wurden gegen die imperialistischen Bündnisse Russlands mit Großbritannien und Frankreich keine derartigen Forderungen erhoben. Die britischen und französischen Arbeiter wurden nicht dazu aufgerufen, sich nicht als Manövriermasse für Eroberungen missbrauchen zu lassen, und schon gar nicht dazu, gegen Großgrundbesitzer und Banker in Russland eingesetzt zu werden. Dennoch wurde der Appell einstimmig vom Petrograder Sowjet gebilligt.
Neben anderen stimmten auch Dutzende bolschewistischer Delegierter im Exekutivkomitee für das Manifest vom 14. März. Gegen den heftigen Widerstand von Teilen der Partei in den Hochburgen der Arbeiterklasse, wie beispielsweise im Bezirk Wyborg in Petrograd, hatten sich auch zuvor schon einige bolschewistische Gremien an Positionen der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre angepasst und der neuen Provisorischen Regierung „kritische Unterstützung“ zugesichert.
Am 15. März, einen Tag nachdem der Sowjet den „Appell an die Völker der Welt“ verabschiedet hatte, kam der extreme Klassendruck auf die Partei in einem Artikel von Lew Kamenew zum Ausdruck, der zusammen mit Stalin die Kontrolle über das Parteiorgan Prawda übernommen hatte. Solange es keinen Frieden gebe, schrieb er darin, müsse „der russische Soldat fest auf seinem Posten stehen, Kugel mit Kugel und Geschoss mit Geschoss beantworten“.(5)
Am nächsten Tag schrieb Stalin: „Nicht das inhaltslose ,Nieder mit dem Krieg‘ ist unsere Losung. Unsere Losung ist – Druck auf die Provisorische Regierung mit dem Ziele, sie zu zwingen... mit einem Versuch hervorzutreten, alle kämpfenden Länder zur sofortigen Aufnahme von Friedensverhandlungen zu bewegen.... Bis dahin bleibt aber jeder auf seinem Kampfposten!“(6)
Die Linie der Prawda stieß bei Teilen der bolschewistischen Partei auf Ablehnung. Es steht jedoch außer Frage, dass sich in der Partei auch eine Strömung für die Anerkennung der Provisorischen Regierung herausbildete, die sowohl die Kontrolle der Sowjets durch Menschewiki und SR als auch die Begrenzung und Behinderung des unabhängigen Kampfes der Arbeiterklasse akzeptierte.
Die politische Linie, die Lenin in seinen Briefen aus der Ferne darlegte – keine Unterstützung der bürgerlichen Regierung, kein Abweichen von der Ablehnung des Kriegs durch die Partei sowie Kampf für die Machtübernahme durch Sowjets und Arbeiterklasse – wurde von der bolschewistischen Führung ignoriert. In wesentlichen Teilen abgeändert, wurde sogar nur einer von seinen vier Briefen in der Prawda veröffentlicht. Noch dazu war der Teil entfernt worden, in dem Lenin jeden, der die Provisorische Regierung unterstützte, als „Verräter der Arbeiter, ein Verräter an der Sache des Proletariats, an der Sache von Frieden und Freiheit“ anprangerte.(7)
Kamenew und Stalin argumentierten, die kritische Unterstützung für die Provisorische Regierung sei notwendig, um die Errungenschaften des Februar zu festigen und optimale Bedingungen für die Bolschewiki und ihren Kampf für die zukünftige Errichtung der „demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ zu schaffen, wodurch die bürgerliche Revolution in Russland „vollendet“ würde.
Trotzki schrieb dazu: „Die Fraktion Kamenew-Stalin verwandelte sich immer mehr in die linke Flanke der sogenannten revolutionären Demokratie und schloss sich der Mechanik des parlamentarischen Hinter-den Kulissen-‚Drucks‘ auf die Bourgeoisie an“.(8)
Ende März waren auf verschiedenen Ebenen Diskussionen über eine Wiedervereinigung der seit Langem getrennten bolschewistischen und menschewistischen Strömungen im Gange, die auf gegenseitiger, kritischer oder sonstwie gearteter Unterstützung für die Provisorische Regierung und auf der „revolutionären Vaterlandsverteidigung“ beruhen sollte.
Während die Parteien im Sowjet die Macht an die Provisorische Regierung aushändigen wollten, schmiedeten Kräfte aus den bürgerlichen Parteien gemeinsam mit ehemaligen zaristischen Generalen hinter den Kulissen für den Tag, an dem die Revolution ausreichend geschwächt sein würde, ein Komplott zur blutigen Niederschlagung der Arbeiterklasse.
Mit jedem Kompromiss, den die Sowjets und insbesondere die Bolschewiki eingingen, nahm die Gefahr der Konterrevolution zu.
Lenin war sich seiner Verantwortung und der möglichen Konsequenzen seiner Entscheidungen und Maßnahmen als politischer Führer voll und ganz bewusst. Er erfasste die Brisanz der Situation. Die Bolschewistische Partei sollte in eine Stütze der Kapitalistenklasse verwandelt werden und ihr bei der Fortführung des Kriegs behilflich sein.
Trotz seines jahrelangen Exils schätzte Lenin die Qualitäten seiner Partei und ihrer Mitglieder richtig ein. Sie waren im Marxismus ausgebildet, politisch bewusst und der Sache des Sozialismus ergeben. Er konnte darauf bauen, dass die Positionen Kamenews und Stalins in der bolschewistischen Bewegung und bei ihrer Basis auf Widerstand trafen. Jedenfalls fanden in Russland atemberaubend schnelle Veränderungen statt, die Bolschewistische Partei steckte in einer Krise und seine persönliche Anwesenheit in Petrograd war unbedingt erforderlich.
In einer Diskussion russischer Exilanten am 19. März in Zürich schlug der führende Menschewik Julius Martow vor zu versuchen, eine Vereinbarung mit der deutschen Regierung zu treffen, um Deutschland zu durchqueren. Dann könnten sie über die Ostsee Richtung Schweden fahren und über Finnland nach Russland reisen. Martow schlug vor, dass sie als Gegenleistung die Zusicherung abgeben könnten, in Russland um die Entlassung deutscher Kriegsgefangener nachzusuchen.
Auf diesen Vorschlag ging Lenin sofort ein. Es war ihm vollkommen bewusst, dass chauvinistische Kräfte in Russland jeden, der über Deutschland zurückkam, verleumden würden, weil er Hilfe vom „Feind“ angenommen habe. Er legte deshalb großen Wert darauf, dass die Bedingungen seiner Durchreise transparent gestaltet wurden und keinerlei Zugeständnisse hinsichtlich revolutionärer Grundsätze enthielten.
Die genauen Modalitäten wurden vom schweizerischen Marxisten Fritz Platten mit der deutschen Botschaft in Zürich ausgehandelt.
Nach dem Bericht von Krupskaja wurde festgelegt,
- dass den russischen Exilanten, ohne Rücksicht auf ihre Haltung zum Krieg, erlaubt wurde durch Deutschland zu reisen,
- dass ohne Plattens Erlaubnis niemand die Waggons der Exilanten betreten durfte,
- dass weder das Gepäck der Exilanten durchsucht, noch ihre Pässe kontrolliert werden durften,
- dass sich die Exilanten für die Entlassung einer entsprechenden Anzahl von deutschen und österreichischen Gefangenen in Russland einsetzen würden.(9)
Im sogenannten „verplombten Zug“ verließen Lenin und 29 weitere Personen am 27. März Zürich. Zu den Passagieren zählten auch Führungskader der Bolschewiki, wie Krupskaja, Inessa Armand und Grigori Sinowjew.
Nach ihrer Überfahrt über die Ostsee erreichten sie am 31. März Schweden. Von dort aus passierten sie die Grenze zu Finnland und nahmen einen Zug nach Petrograd. Nach Krupskajas Erinnerung fragte Lenin, „ob wir wohl bei unserer Ankunft verhaftet werden“. Seine Genossen „lächelten“, berichtet sie.
Am späten Abend des 3. April 1917 traf Lenin am Finnischen Bahnhof in Petrograd ein.
Von einer Verhaftung konnte keine Rede sein. Tausende Arbeiter und Soldaten, Anhänger der Bolschewiki, hatten sich zu Lenins Begrüßung versammelt. Ein Strauß Rosen wurde ihm überreicht. Im Namen der Sowjets wurde er persönlich vom Menschewiken NikolosTschcheidse begrüßt, der ihn nachdrücklich bat, die versöhnliche Linie des Exekutivkomitees des Sowjets zu unterstützen.
Stattdessen rief Lenin in einer Rede voller Leidenschaft zur sozialistischen Revolution auf. Unter vier Augen knöpfte er sich Kamenew vor, weil er in der Prawda mit der Vaterlandsverteidigung Positionen Raum gegeben hatte, die den Krieg befürworteten.
Was dann folgte, bezeichnete Leo Trotzki als „Wiederbewaffnung der Partei“.
Am nächsten Tag, dem 4. April, trug Lenin bei einem Treffen bolschewistischer Delegierter für den Petrograder Sowjet der Arbeiter-und Soldatendeputierten seine „Aprilthesen“ vor. Anschließend wiederholte er sie noch einmal bei einem gemeinsamen Treffen von Delegierten der bolschewistischen und der konkurrierenden menschewistischen Strömung.
Worin bestanden die Aprilthesen? In dem in 10 Unterpunkte gegliederten Dokument umriss Lenin seine Haltung zur Provisorischen Regierung und zum Krieg sowie seine Einschätzung der historischen Bedeutung der Sowjets als neue und höhere Staatsform. Die dringendsten wirtschaftlichen Maßnahmen wurden aufgezählt, die für die Änderung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse und der ländlichen Bauernschaft in Russland objektiv notwendig waren. Des Weiteren wurde die Umbenennung der russischen Sozialdemokratischen Partei in Kommunistische Partei gefordert.
Auf das vielleicht Wichtigste ging Lenin am Schluss mit Nachdruck ein: Die Bolschewiki müssten die Initiative zur Gründung einer neuen revolutionären Internationalen ergreifen. Damit wandte er sich nicht nur gegen die Parteien der Zweiten Internationalen, die im Krieg den Sozialismus verraten hatten, indem sie ihre eigene Bourgeoisie unterstützten, sondern gegen all diejenigen „Zentristen“, die sich weigerten, von diesen Parteien zu brechen.
Im Folgenden werde ich einen Überblick über die Aprilthesen geben:(10)
Punkt 1: Keine Veränderungen in der Haltung der Partei zum Krieg.
In unserer Stellung zum Krieg, der von Seiten Russlands auch unter der neuen Regierung Lwow und Co – infolge des kapitalistischen Charakters dieser Regierung – unbedingt ein räuberischer, imperialistischer Krieg bleibt, sind auch die geringsten Zugeständnisse an die „revolutionäre“ Vaterlandsverteidigung unzulässig...
In Anbetracht dessen, dass breite Schichten der revolutionären Vaterlandsverteidiger aus der Masse es zweifellos ehrlich meinen und den Krieg anerkennen in dem Glauben, dass er nur aus Notwendigkeit und nicht um Eroberungen geführt werde, in Anbetracht dessen, dass sie von der Bourgeoisie betrogen sind, muss man sie besonders gründlich, beharrlich und geduldig über ihren Irrtum, über den unmittelbaren Zusammenhang von Kapital und imperialistischem Krieg aufklären, muss man den Nachweis führen, dass es ohne den Sturz des Kapitals unmöglich ist, den Krieg durch einen wahrhaft demokratischen Frieden und nicht durch einen Gewaltfrieden zu beenden.
Die entscheidende Aussage war hier Lenins Gegenüberstellung der räuberischen Interessen der Bourgeoisie und der „Ehrlichkeit“ der Massen, die der Position der revolutionären Vaterlandsverteidigung anhingen. Damit griff Lenin auf das gesamte Erbe des Bolschewismus zurück, zu dessen Grundpfeilern seit seinem Werk Was tun? die Einsicht gehörte, dass sozialistisches Bewusstsein, entgegen dem spontanen bürgerlichen Bewusstsein, in die Arbeiterklasse hineingetragen und in ihr verankert werden musste.
Lenin und die Bolschewiki hatten immer daran festgehalten, dass sich die marxistische Partei dem bürgerlichen Bewusstsein in der Arbeiterklasse unter allen Umständen entgegenstellen und die Arbeiter „geduldig aufklären“ musste, um sie zu überzeugen und für einen sozialistischen Standpunkt zu gewinnen. Unter der Bedingung eines extremen Anpassungsdrucks an vorherrschende Ansichten war der Rückgriff auf diese grundlegende Einsicht unter politisch fortgeschrittenen Arbeitern, die von den Bolschewiki jahrzehntelang erzogen und beeinflusst worden waren, von größter Bedeutung.
Lenin erklärte dem bolschewistischen Kader, es mache nichts aus, wenn die Partei gegenwärtig in der Minderheit sei. Ihre Aufgabe bestand darin, die Wahrheit zu sagen. Die Logik des Klassenkampfs werde den konterrevolutionären Charakter Kerenskis und der Menschewiki offenlegen. Im entscheidenden Stadium würde das Zusammenfallen von Parteiprogramm und objektiven Verhältnissen die Bolschewiki in die Lage versetzen, die Masse der Arbeiterklasse für die Perspektive der sozialistischen Revolution zu gewinnen.
Punkt 2: Lenins Übernahme der Theorie der „ununterbrochenen“, bzw. „permanenten Revolution“, die vor allem Leo Trotzki zugeschrieben wird.
Die Eigenart der gegenwärtigen Lage in Russland besteht im Übergang von der ersten Etappe der Revolution, die infolge des ungenügend entwickelten Klassenbewusstseins und der ungenügenden Organisiertheit des Proletariats der Bourgeoisie die Macht gab, zur zweiten Etappe der Revolution, die die Macht in die Hände des Proletariats und der ärmsten Schichten der Bauernschaft legen muss.
Lenin hatte, im Gegensatz zu Trotzki, die Ansicht vertreten, dass Russlands wirtschaftliche und soziale Rückständigkeit ein objektives Hindernis für die Bildung einer Arbeiterregierung – die Diktatur des Proletariats – darstellte. Der Großteil der Bevölkerung, die riesige ländliche Bauernschaft, gehörte dem Kleinbürgertum an und war nur an einer Landreform und an demokratischen Rechten interessiert. Die Bauernschaft hatte kein grundsätzliches, durch ihre Klassenzugehörigkeit begründetes Interesse am Sozialismus.
Deswegen hatte Lenin in seinem theoretischen Modell die Errichtung einer Art von Zwischenregime in Russland entworfen – die „demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ –, in der die sozialistische Arbeiterbewegung ein Bündnis mit den radikalsten Bauernparteien schließen würde, um möglichst weitgehende Landreformen und demokratische Maßnahmen durchzuführen. Dies sollte dann als Triebkraft für eine beschleunigte wirtschaftliche Entwicklung des Landes und die Vergrößerung der Arbeiterklasse wirken, wodurch optimale Bedingungen für die zukünftige Verwirklichung sozialistischer Maßnahmen geschaffen würden.
Lenin hatte allerdings die Frage nicht beantwortet, welche Klasse und damit auch welche Interessen in einer solchen „demokratischen Diktatur“ vorherrschen würden. Daher blieb auch ungeklärt, wie sie auf den unvermeidlichen Ausbruch von Konflikten zwischen Kapitalisten- und Arbeiterklasse reagieren würde.
Im April 1917 trat Lenin dann eindeutig für die Bildung eines Arbeiterstaates ein, der die Zustimmung der Mehrheit der Bauernschaft durch weitgehende Landreformen und Demokratie gewinnen und behalten würde.
Als einzelnes Land betrachtet war Russland sicherlich von wirtschaftlicher und sozialer Rückständigkeit geprägt. Auf Weltebene, so hatte Lenin es eingeschätzt, bedeutete der imperialistische Krieg jedoch, dass die objektiven Voraussetzungen für den Sozialismus – eine integrierte Weltwirtschaft – vollständig herangereift waren. Der Arbeiterklasse in Russland stellte sich die Aufgabe, die Gelegenheit zur Machtergreifung beim Schopf zu packen und sie für das Vorankommen der Weltrevolution zu nutzen. Was in Russland stattfand, würde ein Schritt zur Entfaltung der weltweiten sozialistischen Planwirtschaft sein.
In den Debatten innerhalb der Bolschewistischen Partei wurde Lenin durchaus zu Recht unterstellt, er vertrete Positionen des „Trotzkismus“. In allen grundsätzlichen Aussagen stimmte die Stoßrichtung der Aprilthesen mit Trotzkis Theorie der permanenten Revolution überein.
Punkt 3: Keine Unterstützung für die Provisorische Regierung. In einer vernichtenden Kritik an der Führung des Sowjets und der Kamenew-Stalin-Fraktion in der Bolschewistischen Partei wurde in den Aprilthesen unverblümt erklärt:
Keinerlei Unterstützung der Provisorischen Regierung. Aufdeckung der ganzen Verlogenheit aller ihrer Versprechungen, insbesondere hinsichtlich des Verzichts auf Annexionen.
Entlarvung der Provisorischen Regierung, statt der unzulässigen, Illusionen verbreitenden „Forderung“, diese Regierung, die Regierung der Kapitalisten, solle aufhören, imperialistisch zu sein.
Punkt 4: Eine objektive Feststellung des derzeitigen Kräfteverhältnisses und der Bedeutung der Sowjets.
Anerkennung der Tatsache, dass sich unsere Partei in den meisten der Sowjets der Arbeiterdeputierten in der Minderheit, vorläufig sogar in einer schwachen Minderheit befindet und einem Block aller kleinbürgerlichen opportunistischen Elemente gegenübersteht, die dem Einfluss der Bourgeoisie erlegen sind und diesen Einfluss in das Proletariat hineintragen – von den Volkssozialisten und Sozialrevolutionären bis zum Organisationskomitee (Tschcheidse, Zereteli usw.) Steklow usw. usf.
Aufklärung der Massen darüber, dass die Sowjets der Arbeiterdeputierten die einzig mögliche Form der revolutionären Regierung sind und dass daher unsere Aufgabe, solange sich diese Regierung von der Bourgeoisie beeinflussen lässt, nur in geduldiger, systematischer, beharrlicher, besonders den praktischen Bedürfnissen der Massen angepasster Aufklärung über die Fehler ihrer Taktik bestehen kann.
Solange wir in der Minderheit sind, besteht unsere Arbeit in der Kritik und Klarstellung der Fehler, wobei wir gleichzeitig die Notwendigkeit des Übergangs der gesamten Staatsmacht an die Sowjets der Arbeiterdeputierten propagieren, damit die Massen sich durch Erfahrung von ihren Irrtümern befreien.
In einer Organisation, in der beinahe der Standpunkt Oberhand gewonnen hätte, die Provisorische Regierung sei kritisch zu unterstützen, weil die Voraussetzungen für die Errichtung einer „demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ noch nicht bestanden, hatten diese Aussagen Lenins, wie Professor Alexander Rabinowitch schreibt, eine explosive Wirkung.
Lenin setzte sich nicht nur damit durch, dass die Macht in die Hände der Sowjets übergehen musste, sondern auch damit, dass der Kampf um die Sowjetmacht nur von den Bolschewiki in Abgrenzung zu allen anderen politischen Tendenzen vorangebracht werden konnte.
Punkt 5: Der Sowjet als höhere Staatsform
Im fünften Punkt plädierte Lenin unmissverständlich für die Abschaffung des kapitalistischen Staates und die Errichtung einer höheren Form der Staatsmacht: die Diktatur des Proletariats, die die ärmeren Teile der Bauernschaft führt:
Keine parlamentarische Republik – von den Sowjets der Arbeiterdeputierten zu dieser zurückzukehren wäre ein Schritt rückwärts, – sondern eine Republik der Sowjets der Arbeiter-, Landarbeiter- und Bauerndeputierten im ganzen Lande, von oben bis unten.
Abschaffung der Polizei, der Armee und Beamtenschaft.
Entlohnung aller Beamten, die durchweg wählbar und jederzeit absetzbar sein müssen, nicht über den Durchschnittslohn eines Facharbeiters hinaus.
Es folgten weitere Punkte, die eine radikale Landreform skizzierten, die auf Kosten der Großgrundbesitzer durchgeführt werden sollte, um dadurch die Sympathien der Bauernschaft zu gewinnen. Weiter die Kontrolle über das Finanzwesen, Produktion und Verteilung durch die Arbeiterklasse und durch ihre Sowjets auf Kosten der Kapitalistenklasse.
Punkt 6 forderte die Verstaatlichung des Bodens und die Enteignung großer Ländereien, die sich im Besitz von Grundbesitzern befanden. Damit sollte den Bestrebungen und den Forderungen der Bauernschaft entsprochen werden.
Punkt 7 forderte die Zusammenlegung der Banken zu einer einzigen, von den Sowjets kontrollierten Nationalbank.
Punkt 8 forderte die Arbeiterkontrolle über Produktion und Verteilung.
Punkt 9 trat für eine Parteikonferenz ein, auf der das Parteiprogramm auf den Kampf für die Sowjetmacht ausgerichtet werden sollte. Der Parteiname sollte außerdem von „Sozialdemokratischer Arbeiterpartei Russlands“ in „Kommunistische Partei“ geändert werden.
Punkt 10: Eine neue Internationale.
Es hieß schlicht: „Wir müssen die Initiative zum Aufbau einer revolutionären Internationalen ergreifen, einer Internationalen, die gegen Sozialchauvinisten und gegen den ,Zentrismus‘ ist.“
Lenin definierte den Zentrismus als Strömung in der Zweiten Internationalen, die zwischen Chauvinisten (= Vaterlandsverteidigern) und Internationalisten schwankt. Als ihre Vertreter nannte er Kautsky und Co. in Deutschland, Longuet und Co. in Frankreich, Turati und Co. in Italien, MacDonald und Co. in Großbritannien und – höchst brisant - Tschcheidse und Co. in Russland. Also auch die Menschewiki, mit denen einige bolschewistische Gremien schon Gespräche führten und mit denen nach den Vorstellungen Stalins nur ein paar Tage zuvor eine wiedervereinigte Organisation hatte aufgebaut werden sollten.
Die Schockwelle, die die Aprilthesen unter den Bolschewiki auslösten, war noch harmlos im Vergleich zur Reaktion der Menschewiki. Wie sich der Menschewik Schanow in seinen Memoiren erinnert, wurde Lenins Vortrag mit Bezeichnungen, wie „Delir eines Verrückten“ und „primitiver Anarchismus“ quittiert. Der führende Menschewist Skobelew bezeichnete Lenin als „verblassten Stern“, der sich außerhalb der Reihen der Bewegung befinde.(11)
Lenin wurde zwar nicht sofort von der Führung der Bolschewistischen Partei unterstützt, er war aber mit Sicherheit kein „verblasster Stern“. Sein Eingreifen war für die weitere politische Entwicklung ausschlaggebend.
Am 6. April wurde Lenin bei einem Treffen des bolschewistischen Zentralkomitees von Kamenew und Stalin angegriffen.
Am 7. April erschienen die Thesen in der Prawda unter dem Vorbehalt, dass sie lediglich Lenins Meinung wiedergäben.
In der Mitgliedschaft der Partei waren jedoch schon heftige Diskussionen und Umorientierungen im Gange.
Am selben Tag, dem 7. April, beendeten im Sowjet elf bolschewistische Delegierte und drei andere ihre „kritische Unterstützung“ für die Provisorische Regierung und stimmten gegen eine Resolution der Mehrheit aus Menschewiki/SR, mit der der Sowjet seine Zustimmung zu einer sogenannten „Freiheitsanleihe“ zur Weiterfinanzierung des Krieges geben sollte.
Am 8. April startete Kamenew im Auftrag der Herausgeber der Prawda einen Angriff auf die Aprilthesen. Er schrieb:
Was das allgemeine Schema des Gen. Lenin anbelangt, so halten wir es für unannehmbar, insofern es davon ausgeht, dass die bürgerlich-demokratische Revolution abgeschlossen sei, insofern es auf die sofortige Umwandlung dieser Revolution in eine sozialistische berechnet ist...(12)
Zwischen dem 8. und dem 13. April schrieb Lenin seine Briefe über die Taktik als Antwort auf die Position Kamenews. Sie zirkulierten in der bolschewistischen Führung in Petrograd und wurden vor dem Parteitag vom 24.-29. April als Broschüre veröffentlicht.
In den Briefen über die Taktik behandelte Lenin schwerpunktmäßig die in den Aprilthesen dargestellte Abwendung von der früheren bolschewistischen Perspektive der „demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“. Kamenew und weitere Parteimitglieder hielten jedoch an dieser Perspektive fest.
Lenin unterstrich, dass die Staatsmacht in der Februarrevolution an die Bourgeoisie in Gestalt der Provisorischen Regierung übergegangen war. Insofern, so argumentierte er gegen Kamenew, sei die bürgerlich-demokratische Revolution beendet.
Auf das mechanistische Gegenargument, dass die bolschewistische Partei stets betont hatte, die bürgerlich-demokratische Revolution könne nur durch die „demokratische Diktatur“ verwirklicht werden, erwiderte Lenin:
Ich antworte: Die bolschewistischen Losungen und Ideen sind im Allgemeinen durch die Geschichte vollauf bestätigt worden, konkret aber haben sich die Dinge anders gestaltet als ich (oder wer auch immer) es erwarten konnte – origineller, eigenartiger, bunter.
Diese Tatsache ignorieren, sie vergessen, hieße es jenen „alten Bolschewiki“ gleichzutun, die schon mehr als einmal eine traurige Rolle in der Geschichte unserer Partei gespielt haben, indem sie sinnlos eine auswendig gelernte Formel wiederholen, anstatt die Eigenart der neuen, der lebendigen Wirklichkeit zu studieren.
Die „revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ ist in der russischen Revolution schon Wirklichkeit geworden, denn diese „Formel“ beinhaltet lediglich das Wechselverhältnis der Klassen, nicht aber die konkrete politische Institution, die dieses Verhältnis, dieses Zusammenwirken realisiert. Der „Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten“ – da habt ihr die vom Leben bereits verwirklichte „revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“.
Diese Formel ist bereits veraltet. Aus dem Reich der Formeln hat das Leben sie in das Reich der Wirklichkeit versetzt, sie zu Fleisch und Blut werden lassen, sie konkretisiert und sie eben dadurch modifiziert.(13)
Lenin hielt an der These fest, dass im nächsten Stadium der Revolution ein Kampf stattfinden werde, um „die Macht in die Hände des Proletariats und der ärmsten Teile der Bauernschaft zu legen“, und schrieb ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen:
Wer jetzt lediglich von „revolutionär-demokratischer Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ spricht, der ist hinter dem Leben zurückgeblieben, der ist damit faktisch zum Kleinbürgertum übergegangen, der ist gegen den proletarischen Klassenkampf, der gehört in ein Archiv für „bolschewistische“ vorrevolutionäre Raritäten (Archiv „alter Bolschewiki“ könnte man es nennen).(14)
In diesem wie in weiteren Dokumenten erklärte Lenin genau, was er mit „demokratischer Diktatur“ meinte, die „in einer gewissen Form und bis zu einem gewissen Grade“ in den Sowjets schon verwirklicht wurde.
Die liberale Bourgeoisie hatte in der Februarrevolution keine bedeutende Rolle gespielt. Die Revolution war von der Arbeiterklasse eingeleitet und geführt worden. Ihr Erfolg hing jedoch von der Parteinahme der Bauernmassen ab, die sich nicht mit einem Aufstand auf dem Land, sondern zu Hunderttausenden an der Meuterei gegen die zaristische Selbstherrschaft beteiligten. Aus der Bauernschaft ausgehoben und in den imperialistischen Krieg geworfen, sahen die bäuerlichen Soldatenmassen den Sowjet als die Institution an, die den Frieden bringen konnte.
Die Führung des Sowjets weigerte sich, die Macht auszuüben, die ihr von der Arbeiterklasse und den bäuerlichen Soldatenmassen überreicht worden war. Stattdessen trat sie, wie Lenin schrieb, die Macht freiwillig an die Bourgeoisie ab und machte sich durch ihre Unterstützung für die Provisorische Regierung freiwillig zu einem Anhängsel der Bourgeoisie.
Die Bolschewiki hatten der Arbeiterklasse geduldig zu erklären, dass ihre Klasseninteressen nur durch die Weiterführung der Revolution bis zu ihrem notwendigen „zweiten Stadium“, der Übernahme der ganzen Staatsmacht durch die Sowjets, durchgesetzt werden konnten.
Die Sowjets, schrieb Lenin, „werden besser, praktischer und richtiger entscheiden, welche Schritte zum Sozialismus man tun kann und wie man sie tun kann. Die Kontrolle über die Banken, die Verschmelzung aller Banken zu einer einzigen, das ist noch nicht Sozialismus, aber ein Schritt zum Sozialismus... Aber was zwingt zu solchen Schritten?
Der Hunger. Die Zerrüttung der Wirtschaft. Der drohende Zusammenbruch. Die Schrecken des Krieges. Die schrecklichen Wunden, die der Krieg den Menschen schlägt.”(15)
Am 10. April reichte Lenin seinen Programmentwurf für die bolschewistische Konferenz mit dem Titel Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution (16)zur Veröffentlichungein. Er wurde der Öffentlichkeit vor dem September nicht zugänglich gemacht, zirkulierte jedoch, wie seine Briefe, in der Bolschewistischen Partei. Lenin schrieb später, dass ein aufmerksamer Leser bemerkt haben dürfte, dass seine Broschüre als Entwurfsvorlage für zahlreiche Konferenzresolutionen diente.
Band 24 der Gesammelten Werke von Lenin enthält eine Reihe von Artikeln und Kommentaren, die er im Vorfeld der Konferenz schrieb und in denen er die Perspektive der Aprilthesen untermauerte.
Den letzten Teil meines Vortrags möchte ich den wohl entscheidenden Themen der Aprilthesen widmen. Lenin hat sie ziemlich detailliert, sowohl in den Briefen über die Taktik als auch in Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution ausgearbeitet.
Dies waren:
Erstens die Bedeutung des Sowjets und zweitens die Notwendigkeit des Aufbaus einer neuen, Dritten Internationalen, die den Kampf für die sozialistische Weltrevolution politisch anleiten sollte.
Lenin beurteilte die Sowjets im Rahmen der Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels über die welthistorische Bedeutung der Pariser Kommune, in der die Masse der Pariser Arbeiterklasse ihre Herrschaft über die französische Bourgeoisie 1871 kurze zwei Monate lang aufrechterhalten konnte.
Die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus analysierten sowohl ihre Erfolge als auch die Lehren aus ihren Fehlern. Sie verstanden die Pariser Kommune als das erste Auftreten einer neuen Staatsform zur Verteidigung der Arbeitermacht gegen die Versuche, wieder bürgerliche Verhältnisse einzuführen. Den Institutionen der Kommune fiele die Führungsrolle bei der Umwandlung in eine klassenlose Gesellschaft zu, die den Staat überflüssig machen werde – das heißt, sie repräsentierte die erste „Diktatur des Proletariats“.
Lenin unterstrich in Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution, dass „sich der Marxismus vom Anarchismus darin unterscheidet, dass er die Notwendigkeit eines Staates und einer Staatsmacht in der Periode der Revolution generell und speziell in der Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus anerkennt“.
„Gerade einen solchen Staat vom Typus der Kommune“, schrieb er weiter, „hat die russische Revolution in den Jahren 1905 und 1917 hervorzubringen begonnen.“(17)
Die Bolschewistische Partei stand vor der Aufgabe, der Arbeiterklasse bewusst zu machen, dass der von ihr geschaffene Sowjet die neue, höhere Staatsform war, die für die Verwirklichung des Sozialismus notwendig war. Nur die Sowjets waren durch die Einführung des Gemeineigentums an den Produktionsmitteln in der Lage, die Demontage und Zerschlagung der alten staatlichen Bürokratie zu garantieren, den Wiederaufbau der Polizei zu verhindern, den Militärapparat abzuschaffen und das Wirtschaftsleben im Interesse der Mehrheit zu reorganisieren.
Heute würde Lenin Millionen Arbeitern auf der ganzen Welt aus dem Herzen sprechen, müssen sie doch mitansehen, wie parlamentarische Demokratien zu militaristischen oder faschistischen Herrschaftsformen mutieren und die militärisch-polizeilichen Geheimdienste ausbauen. Lenin schrieb:
Von der parlamentarischen bürgerlichen Republik ist die Rückkehr zur Monarchie (wie die Geschichte auch bewiesen hat) überaus leicht, denn die ganze Unterdrückungsmaschine: das Heer, die Polizei, die Beamtenschaft, bleibt unangetastet. Die Kommune und die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten-, Bauern- usw. Deputierten zerschlagen und beseitigen diese Maschine.
Die parlamentarische bürgerliche Republik beengt und drosselt das selbständige politische Leben der Massen sowie deren unmittelbare Teilnahme am demokratischen Aufbau des ganzen Staatslebens von unten bis oben. Das Gegenteil ist bei den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten der Fall.(18)
In den darauffolgenden Monaten sollte Lenin einen Großteil seiner Zeit der Abfassung seines monumentalen Werks Staat und Revolution und der Analyse und Ausarbeitung der Frage des Arbeiterstaats widmen.
Nachdem die erste Stufe der Revolution abgeschlossen, und die Sowjets errichtet waren, betonte Lenin, durfte die Arbeiterklasse nicht zulassen, dass die Bourgeoisie die Macht an sich riss, sondern musste die Revolution weiterführen.
Dieses Gebot entsprach nicht nur den russischen, sondern vor allem auch den weltweiten Verhältnissen.
In einer prägnanten Zusammenfassung der permanenten Revolution, die Lenin übernommen hatte, hieß es im Programmentwurf der Bolschewistischen Partei:
Der Krieg ist durch die Entwicklung des Weltkapitals in einem halben Jahrhundert, durch dessen milliardenfache Fäden und Verbindungen hervorgerufen worden. Man kann nicht aus dem imperialistischen Krieg herausspringen, man kann einen demokratischen, nicht auf Gewalt basierenden Frieden nicht erzielen ohne den Sturz der Herrschaft des Kapitals, ohne den Übergang der Staatsmacht an eine andere Klasse, an das Proletariat.
Die russische Revolution vom Februar/März 1917 war der Beginn der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg. Diese Revolution hat den ersten Schritt zur Beendigung des Krieges getan. Erst der zweite Schritt kann seine Beendigung sicherstellen, nämlich den Übergang der Staatsmacht an das Proletariat. Das wird der Anfang des „Durchbruchs der Front“, der Front der Interessen des Kapitals im Weltmaßstab sein, und erst nachdem das Proletariat diese Front durchbrochen hat, kann es die Menschheit von den Schrecken des Krieges erlösen, ihr das Glück eines dauerhaften Friedens sichern.
Und an einen solchen „Durchbruch der Front“ des Kapitals hat die russische Revolution das Proletariat Russlands bereits dicht herangeführt, indem sie die Sowjets der Arbeiterdeputierten geschaffen hat.(19)
Der internationale Charakter der russischen Revolution und die „internationalen Verpflichtungen der Arbeiterklasse in Russland“, wie Lenin sie verstand, waren der wesentliche Grund für sein Beharren darauf, dass die Bolschewiki, die sich in Kommunistische Partei umbenannten, sofort die Dritte Internationale gründen sollten.
Schonungslos klagte Lenin die internationale zentristische Strömung an, die angeblich den Verrat der Zweiten Internationalen bekämpfte, jedoch Frieden schaffen wollte, indem sie Druck auf die imperialistische Bourgeoisie ausübte. Gleichzeitig weigerte sie sich, offen mit all jenen zu brechen, die sich im Krieg mit ihrer eigenen herrschenden Klasse solidarisiert hatten. Diese Strömung bezeichnete Lenin als Sozialchauvinisten.
Der Kern der Sache, schrieb er im Programmentwurf, bestehe darin, dass das „Zentrum“ nicht „von der Notwendigkeit der Revolution gegen die eigenen Regierungen überzeugt ist, sie nicht propagiert, dass es keinen rückhaltlosen revolutionären Kampf führt“.
Das „Zentrum“, schrieb er, sei „das Reich des Internationalismus in Worten und der Liebedienerei gegenüber den Sozialchauvinisten in der Tat.“
Die einzige Tendenz, die den Internationalismus und die Arbeiterklasse vertreten habe, so Lenin, sei die Zimmerwalder Linke von 1915 gewesen.
Die Diskussion, die durch die Aprilthesen ausgelöst wurde, widerlegt voll und ganz die Behauptungen der Gegner des Marxismus, die bürokratische Diktatur des stalinistischen Regimes sei organisch aus dem Bolschewismus hervorgegangen. Lenin überzeugte die Bolschewistische Partei nicht durch bürokratische Maßnahmen, und schon gar nicht Millionen von Arbeitern. Er verfügte weder über einen Apparat noch über Mittel zur Einschüchterung. Er überzeugte allein durch seine Ideen.
Die Behauptung, dass die Bolschewistische Partei ein monolithischer politischer Apparat gewesen sei, in dem nur Lenin das Sagen hatte, ist nicht plausibel und wird vom Ergebnis der bolschewistischen Konferenz vom 24. bis zum 29. April eindeutig widerlegt. Nach den Zahlenangaben aus Trotzkis Geschichte der russischen Revolution versammelten sich rund 150 Delegierte aus ganz Russland, die 79.000 Parteimitglieder – Arbeiter, Soldaten, Bauern, auch Intellektuelle, Facharbeiter und Künstler – vertraten und für sie sprachen. Einige von ihnen waren langjährige Revolutionäre, doch die meisten hatten sich der Partei erst Jahre oder Monate zuvor angeschlossen.
Die Zehntausende von Mitgliedern der Bolschewistischen Partei repräsentierten die Vorhut der Arbeiterklasse, sie waren eine von sozialistischem Bewusstsein durchdrungene fortschrittliche Schicht.
Die kämpferische Haltung, die in den Aprilthesen gegenüber der Provisorischen Regierung vertreten wurde, die Haltung zum Krieg und die Perspektive einer Machtübernahme durch die Sowjets gewannen auf der bolschewistischen Konferenz im April eine klare Mehrheit. Eine Resolution mit Lenins Forderung nach der sofortigen Gründung der Dritten Internationalen wurde jedoch abgelehnt. Es bedurfte monatelanger weiterer Diskussionen, bis die Notwendigkeit eines Bruchs nicht nur mit den Menschewiki in Russland, sondern auch mit ihren internationalen zentristischen Gesinnungsgenossen einhellige Zustimmung fand.
Von der Konferenz kehrten die Delegierten in die Parteiorganisationen vor Ort zurück und kämpften für den Kurs: „Alle Macht den Sowjets“.
1940 erklärte Trotzki nochmals die damalige komplexe Beziehung zwischen der Arbeiterklasse, der revolutionären Partei und der Führung der revolutionären Bewegung:
Ein überragender Faktor in der Reife des russischen Proletariats im Februar und März 1917 war Lenin. Er fiel nicht vom Himmel. Er personifizierte die revolutionäre Tradition der Arbeiterklasse. Damit Lenins Parolen ihren Weg zu den Massen fanden, musste es Kader geben, die, obwohl anfangs nur wenige, Vertrauen in die Führung hatten, Vertrauen, das auf den gesamten vergangenen Erfahrungen fußte. Diese Elemente nicht einzukalkulieren, heißt die lebendige revolutionäre Entwicklung zu ignorieren, sie durch eine Abstraktion “der „Kräfteverhältnisse“ zu ersetzen, denn die Entwicklung der Revolution besteht genau daraus, dass sich die Kräfteverhältnisse mit den Auswirkungen des Bewusstseins des Proletariats ständig, unaufhörlich und schnell ändern, die Einbindung rückständiger Schichten zunimmt, das Selbstbewusstsein der Klasse wächst. Die lebendige Triebfeder dieses Prozesses ist die Partei, wie auch die lebendige Triebfeder der Partei die Führung ist. Bedeutung und Verantwortung der Führung in einer revolutionären Epoche sind kolossal.(20)
Im selben Dokument schrieb Trotzki auch:
Die Ankunft Lenins in Petrograd am 3. April 1917 holte die bolschewistische Partei auf den Boden der Tatsachen zurück und befähigte sie die Revolution zum Sieg zu führen. Unsere Wissenden mögen sagen, das habe Lenin schon vom Ausland aus Anfang 1917 gemacht und die Oktoberrevolution wäre ohnehin „genauso“ abgelaufen. Aber so ist das nicht. Lenin verkörperte eines der lebendigen Elemente des historischen Prozesses. Er personifizierte den erworbenen Scharfsinn des aktivsten Teils des Proletariats Sein rechtzeitiges Erscheinen in der Arena der Revolution war notwendig, um die Vorhut in Bewegung zu setzen und ihr die Möglichkeit zu geben, Arbeiterklasse und Bauernmassen um sich zu sammeln Die politische Führung in den entscheidenden Augenblicken historischer Wendepunkte kann ebenso ein entscheidender Faktor werden wie das Oberkommando während der entscheidenden Momente im Krieg. Geschichte ist kein automatischer Prozess. Wenn es so wäre, warum Führer? Warum Parteien? Warum theoretische Auseinandersetzungen?(21)
Die Bedeutung von Trotzkis Fragen: warum Führer?, warum Parteien?, warum theoretische Auseinandersetzungen? wird durch das wohl entscheidendste Ergebnis der Aprilthesen belegt. Es war das Dokument, das nach 14 Jahren politischer Differenzen Wladimir Lenin und Leo Trotzki zusammenführte.
Im April 1917 sperrte der britische Imperialismus Trotzki in Kanada ein, um seine Rückkehr nach Russland aus dem erzwungenen Exil in New York zu verhindern. Hauptsächlich wegen der nicht verstummenden Forderungen der Petrograder Arbeiterklasse und der Bolschewiki beantragte der Außenminister der Provisorischen Regierung, Miljukow, in Großbritannien widerwillig die Freilassung Trotzkis.
Trotzki wurde aus der britischen Haft entlassen und ging am 16. April an Bord eines Schiffes nach Europa.
Während sämtlicher Ereignisse im April, die ich dargestellt habe, war Trotzki entweder im Gefangenenlager oder auf dem Meer, wo er sich damals mit niemandem austauschen konnte. Schließlich traf er am 4. Mai (nach dem Julianischen Kalender) in Russland ein. Die Aprilthesen oder eines der folgenden Dokumente hatte er noch nicht gelesen.
Später schrieb Trotzki in seiner Biographie über Lenin:
Von den April-Thesen Lenins erfuhr ich am zweiten oder dritten Tag nach meiner Ankunft in Petrograd. Das war das, was die Revolution brauchte.
Die erste Begegnung (von Lenin und Trotzki) fand wahrscheinlich am 5. oder 6. Mai statt. Ich sagte Lenin, dass mich nichts trenne von seinen April-Thesen und von dem gesamten Kurs, den die Partei nach seinem Eintreffen eingeschlagen hatte...(22)
Nach Trotzkis Schilderung drehte sich ihre anschließende Diskussion ausschließlich um die taktische Frage, wann er sich den Bolschewiki offiziell anschließen werde. Den Komitees der Interrayonisten gehörten wichtige Revolutionäre und etwa 3.000 Arbeiter an. Sie waren gegen die menschewistische Mehrheit, unterstützten die Bolschewiki jedoch nicht, was vor allem daran lag, dass sie mit Trotzkis Theorie der permanente Revolution und seiner langjährigen Kritik an der bolschewistischen Perspektive einer „demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ übereinstimmten.
Trotzki glaubte, er könne die Mehrheit der Komitees der Interrayonisten ohne Weiteres davon überzeugen, dass sie sich ebenfalls der Bolschewistischen Partei anschließen sollten. So war es dann auch. Im August 1917 vereinigten sich die interrayonistischen Komitees formell mit den Bolschewiki.
Die politisch gestärkte Bolschewistische Partei, die hauptsächlich von Lenin und Trotzki geleitet wurde, gewann die Gefolgschaft der überwältigenden Mehrheit der russischen Arbeiterklasse, die dann mit der Unterstützung der riesigen Soldaten- und Bauernmassen den ersten Arbeiterstaat errichtete. Sie vertrat dabei explizit die Perspektive, dass die russische Revolution als Auftakt zur sozialistischen Weltrevolution zu verstehen sei.
Das Zusammengehen von Lenin und Trotzki ist als eines der wichtigsten Ereignisse der neueren Geschichte zu betrachten. Zwei entscheidende Aspekte müssen von allen heutigen Revolutionären begriffen werden:
Eine Voraussetzung dafür war die Wiederbewaffnung der Partei mit der Perspektive der sozialistischen Weltrevolution durch Lenin. Hätten die Bolschewiki Lenins Aprilthesen abgelehnt und an der „kritischen Unterstützung“ für die Provisorische Regierung und den Krieg, wie sie von Kamenew und Stalin vertreten wurde, festgehalten, hätte sich Trotzki ihnen nicht angeschlossen.
Von nicht minderer Bedeutung war, dass Trotzki die weitsichtige Haltung Lenins anerkannte, keinerlei Kompromiss mit dem Opportunismus einzugehen. Das ist es, was die heutige Generation von Revolutionären vor allem verstehen muss.
Seit der Konferenz von Zimmerwald 1915 hatte Lenin Trotzki als einen der „Zentristen“ bekämpft, die trotz entschiedener Ablehnung des Verrats der Zweiten Internationalen und ihres Kampfes für ein revolutionäres Antikriegsprogramms nicht offen zu einem Bruch und zur Bildung einer neuen, der Dritten Internationalen, aufgerufen hatten.
Seit 1903 hatte Lenin gegenüber Trotzki darauf bestanden, dass die strikte Abgrenzung von allen opportunistischen, das heißt bürgerlichen Bewegungen eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung eines unabhängigen, revolutionären und sozialistischen Bewusstseins in der Arbeiterklasse war. Durch die Kriegsereignisse wurde Trotzki für diesen Standpunkt gewonnen, wie Lenin seinerseits für die wichtigsten Prinzipien der permanenten Revolution gewonnen wurde.
Die Verwandlung des menschewistischen „Zentrums“ in Russland und ähnlicher Gruppierungen in den USA und in Westeuropa in offen bürgerliche, pro-imperialistische, den Krieg befürwortende Strömungen hatte Trotzki vor Augen geführt, dass Lenins Bemühungen um eine radikale Spaltung von den Menschewiki 1903 von eminenter Bedeutung waren.
Einige Monate später – Trotzki hatte nach seiner Rückkehr nach Russland jede Vereinigung mit den Menschewiki ausgeschlossen und die Notwendigkeit der Dritten Internationalen anerkannt – sollte Lenin die Bemerkung machen, dass es „keinen besseren Bolschewiken“ gab. (23)
Lenin und Trotzki hatten 14 Jahre lang eine theoretische Schlacht geführt. 1917 gelangten sie zu einer gemeinsamen politischen Perspektive und zur gleichen Auffassung über die Art von Partei, die die russische Arbeiterklasse zur Übernahme der Macht führen und der internationalen Arbeiterklasse einen Weg nach vorn aufzeigen konnte.
Aus diesem Grund ist die Russische Revolution von 1917 die erste und bis heute die einzig erfolgreiche sozialistische Revolution.
Kein weiterer Versuch zur Übernahme der Macht durch die Arbeiterklasse wurde auf vergleichbare Weise vorbereitet und durchgeführt. Es ist vor allem ein Resultat der politisch kriminellen Rolle des stalinistischen Apparats, dass der Arbeiterklasse im Laufe der 1920er Jahre die Macht wieder entrissen wurde und dann in den 1930er Jahren unzählige politisch gebildete, bolschewistische Intellektuelle und Arbeiter ausgerottet wurden.
Die Lehre aus der russischen Revolution lautet: In jedem Land braucht die Arbeiterklasse eine Sektion der Weltpartei, die sich auf die Theorie der permanenten Revolution und die Perspektive der sozialistischen Weltrevolution stützt, sich in einem unerbittlichen Kampf von allen bürgerlichen und anti-marxistischen Strömungen abgrenzt und die Unterschiede zu ihnen deutlich aufzeigt.
Das Internationale Komitee der Vierten Internationalen ist diese Weltpartei, und nur sie bereitet die Arbeiterklasse auf die Revolutionen im einundzwanzigsten Jahrhundert vor.
Anmerkungen:
1. Nadeschda Krupskaja: Erinnerungen an Lenin (Fassung von 1933), Dietz-Verlag Berlin, 1960, aus dem Kapitel: Die letzten Monate in der Emigration. Die Februarrevolution
2. Lenin, Band 21, Seite 348 – 351, Resolutionsentwurf der Zimmerwalder Linken, 1915
3. ebenda
4. Lenin, Band 23, Seite 244-262
5. zitiert nach Leo Trotzki: Geschichte der russischen Revolution, Frankfurt 1982, Band 1, Kapitel: die Bolschewiki und Lenin, S.248
6. ebenda
7. Lenin: Briefe aus der Ferne, Brief 1: Die erste Etappe der ersten Revolution, in Ausgewählte Werke, Band III, Berlin 1972, S. 16
8. Leo Trotzki: Geschichte der russischen Revolution, 1982, S. 249
9. N. Krupskaja: Erinnerungen an Lenin (Fassung von 1933), Dietz-Verlag Berlin, 1960, aus dem Kapitel: Letzte Monate in der Emigration. Die Februarrevolution
10. Alle Zitate aus W.I. Lenin: Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution, Aus W.I. Lenin: Ausgewählte Werke, Band III, Seite 60-66
11. Quotes cited in Alexander Rabinowitch, Prelude to Revolution, Indiana University Press, 1968, pg. 40
12. Zitat aus Briefe zur Taktik, W.I. Lenin: Werke, Band 24, Berlin 1959, S. 24-37
13. ebenda
14. ebenda
15. ebenda
16. W.I. Lenin: Die Aufgabe des Proletariats in unserer Revolution, Werke, Band 24,
17. Berlin 1959, S.39-77, Abschnitt 11, Der neue Staatstypus, der sich in unserer Revolution herausbildet
18. W.I. Lenin, Werke,1959, Band 24, S.39-77
19. ebenda
20. Leo Trotzki: Klasse Partei, Führung. Warum wurde das spanische Proletariat besiegt? Unvollendeter Aufsatz vom 20.08.1940
21. ebenda
22. Leo Trotzki: Über Lenin, 1924, im Kapitel „Vor dem Oktober“
23. Leo Trotzki: Die Fälschung der Geschichte der russischen Revolution, 1927, nach der Broschüre im Verlag „Volkswille“ (Reichsorgan des Leninbundes (Linke Kommunisten), Herausgeber: Hugo Urbahns