Die „Julitage“, wie die Erhebung der Arbeiter in Petrograd genannt wird, erreichen ihren Höhepunkt und werden durch die vereinten Bemühungen der Provisorischen Regierung und der Parteien beendet, die im Sowjet zu diesem Zeitpunkt die führende Rolle spielen. Praktisch das gesamte politische Spektrum – die alten zaristischen Reaktionäre und die Konstitutionellen Demokraten, die kleinbürgerlichen Menschewiki, die Trudowiki (Bauernabgeordnete) und die Sozialrevolutionäre – vereint sich zu einer „konterrevolutionären Orgie“ gegen die Bolschewiki. Die Bolschewiki werden als Verräter verleumdet, die die vernichtenden Niederlagen der russischen Armee zu verantworten haben, und Lenin wird beschuldigt, Agent im Dienst der Deutschen zu sein.
Eine Welle der Unterdrückung führt zu sporadischen Zusammenstößen in Petrograd, Arbeiter und Soldaten schlagen zurück, und die Reaktion findet immer neue Vorwände für noch schärfere Repression. Büros und Druckereien der Bolschewiki werden überfallen, und revolutionäre Führer, darunter Trotzki, ins Gefängnis geworfen. Lenin zieht sich in ein Versteck zurück. Die faschistischen Schwarzhunderter laufen Amok und verprügeln ungestraft Bolschewiki und Soldaten. Die Bilanz: etwa 700 Verwundete und 160 Tote.
Trotzki erinnert sich in seiner Geschichte der Russischen Revolution:
Der Kampf der anderen Parteien untereinander ähnelte fast einem Familienzwist im Vergleich mit ihrer gemeinsamen Hetze gegen die Bolschewiki. In ihren Zusammenstößen untereinander trainierten sie gleichsam nur für den anderen, entscheidenden Kampf. Selbst wenn sie gegeneinander die scharfe Beschuldigung der Verbindungen mit den Deutschen erhoben, führten sie die Suche niemals bis zum Ende durch. Der Juli bietet ein anderes Bild. In ihrem Vorstoß gegen die Bolschewiki stellen alle herrschenden Kräfte: Regierung, Justiz, Konterspionage, Stäbe, Beamte, Munizipalitäten, Parteien der Sowjetmehrheit, ihre Presse und Redner, ein grandioses Ganzes dar. Selbst die Meinungsverschiedenheiten unter ihnen verstärken, wie der Unterschied der Instrumente im Orchester, nur den Gesamteffekt. Die unsinnige Erfindung zweier verächtlicher Subjekte wird auf die Höhe eines historischen Faktors erhoben. Die Verleumdung stürzt herab wie ein Niagara. Zieht man die Situation in Betracht – Krieg und Revolution – und den Charakter der Beschuldigten – revolutionäre Führer von Millionen, die ihre Partei zur Macht gebracht haben -, so kann man ohne Übertreibung sagen, dass der Juli 1917 ein Monat der größten Verleumdung in der Weltgeschichte war.
Petrograd, 17. Juli: Arbeiter und Soldaten belagern den Tagungsort des Exekutivkomitees des Sowjets
Um sechs Uhr morgens erreicht der Emissär der Bolschewiki, Saweliew, Lenin, der sofort mit dem nächsten Zug um 6.45 Uhr nach Petrograd aufbricht. In Kronstadt strömen ebenfalls um 6 Uhr zwischen 10.000 und 12.000 mit Gewehren bewaffnete Matrosen und Soldaten auf dem Ankerplatz zusammen. Jeder wird mit zehn Gewehrkugeln versorgt. Ein Block mit medizinischem Personal sowie bewaffnete Arbeiter schließen sich dem Zug an. Das Zentralkomitee der Sozialrevolutionäre, dessen linke Fraktion erhebliche Unterstützung unter den Kronstädter Matrosen genießt, gibt um 6.30 Uhr bekannt, dass es die Demonstration verbietet. Das Zentralkomitee des Sowjets schließt sich dieser Entscheidung sofort an, doch ohne jeden Erfolg. Zwischen 10 und 11 Uhr treffen die Truppen aus Kronstadt in Petrograd ein. Dort ist das öffentliche Leben praktisch zum Erliegen gekommen. Einzig die Krankenhäuser, die die vielen Verwundeten versorgen, halten ihren Betrieb aufrecht. Die bessergestellten Bürger Petrograds verlassen die Stadt.
Die Führer der Kronstädter Demonstration, Mitglieder der bolschewistischen Militärorganisation, leiten die Demonstranten zur Villa Kschessinskaja, die als Zentrale der Bolschewiki fungiert. Lenin ist gerade dort angekommen. Der Kronstädter Bolschewik Flerowski beschrieb die Demonstration später mit folgenden Worten:
Der Ernst der Situation stand den schwarzen Reihen aus Matrosen ins Gesicht geschrieben.… Die Kompromissler sollten gezwungen werden, sich dem Willen des Volkes zu fügen [das war das Ziel], doch keiner wusste genau, wie man das erreichen konnte. Die Ungewissheit schuf eine Atmosphäre des Unbehagens (aus dem Englischen nach Alexander Rabinowitch, Prelude to Revolution, Indiana University Press 1991, S. 183).
Einem Bericht zufolge antwortete ein Kronstädter Matrose auf die Frage eines Passanten, weshalb sie hier in Petrograd seien: „Wir wurden gerufen, um die Ordnung wiederherzustellen, weil die Bourgeoisie hier die Kontrolle verloren hat.“
Die Menge wird zuerst von Jakow Swerdlow begrüßt. Swerdlow gehört dem Zentralkomitee der Bolschewiki an und ist leitender Organisator der Partei. Lenin sträubt sich erst zu sprechen, um zu zeigen, dass er gegen die Demonstration ist. Schließlich lenkt er ein, tritt hinaus auf den Balkon, wo er mit stürmischem Applaus empfangen wird. In seiner Ansprache, die seine letzte öffentliche Rede bis nach der Oktoberrevolution sein sollte, lobt Lenin die Kronstädter Matrosen als Vorhut der Revolution. Abschließend mahnt er aber zur Zurückhaltung und betont die Notwendigkeit eines friedlichen Verlaufs der Demonstration. Für viele der Matrosen ist dies eine unangenehme Überraschung.
Vom bolschewistischen Hauptquartier ziehen die Soldaten und bewaffneten Arbeiter, etwa 60.000 an der Zahl, zum Taurischen Palais, wo das Exekutivkomitee der Bolschewiki zusammentritt. Als sie am Nachmittag an der Kreuzung Sadowaja-/Apraksinastraße ankommen, werden sie von einem Kugelhagel empfangen. Erschrocken erwidern die Kronstädter Matrosen das Feuer, einige schießen wild in alle Richtungen. Die Bolschewiken Raskolnikow, Roschal, Flerowski, Brekmann und Viktor Deschewoi haben größte Mühe, die in Panik geratenen Demonstranten zu beruhigen.
Aufgebracht ziehen die Matrosen weiter zum Taurischen Palais. Jartschuk, ein Anarchokommunist und einer ihrer Führer, erinnert sich später: „Als wir das Taurische Palais erreichten, waren alle so stark erregt, dass ich damit rechnete, die Matrosen würden das Palais stürmen.“ (Rabinowitch, ebd., S. 186)
Zehntausende versammeln sich vor dem Taurischen Palais. Als Tschernow nach draußen kommt, der Sozialrevolutionär und Minister für Landwirtschaft, gegen den sich die wachsende politische Enttäuschung vor allem richtet, weil er die von den Sozialrevolutionären schon lange versprochene Landreform nicht durchgeführt hat, gehen ihn verärgerte Matrosen physisch gegen ihn vor. Einer schreit ihn an: „Ergreif die Macht, du Mistkerl, wenn sie dir gegeben wird!“ Trotzki kommt bei einem seither berühmt gewordenen Zwischenfall nur knapp mit dem Leben davon. Der Menschewik Suchanow schreibt darüber:
Der Pöbel befand sich in Aufruhr, wohin man auch blickte … Ganz Kronstadt kannte Trotzki und, so dachte man, vertraute ihm. Doch er begann seine Rede, und die Menge wich nicht zurück. Wäre in diesem Moment ein Schuss gefallen, als Provokation, es hätte ein fürchterliches Gemetzel stattfinden können, und wir alle, Trotzki eingeschlossen, wären vielleicht zerfetzt worden. Trotzki, in großer Erregung und unfähig, in dieser aufgeheizten Atmosphäre die richtigen Worte zu finden, konnte kaum die Aufmerksamkeit derer gewinnen, die ihm am nächsten standen. Als er sich Tschernow selbst zuwandte, geriet die Menge, die um den Wagen herumstand, in Wut. ‚Ihr seid gekommen, euren Willen zu bekunden und dem Sowjet zu zeigen, dass die Arbeiterklasse die Bourgeoisie nicht länger an der Macht sehen will [sprach Trotzki]. Aber warum wollt ihr eurer Sache schaden mit kleinlichen Gewaltakten gegen zweitrangige Individuen?‘ Trotzki streckte seine Hand einem Matrosen entgegen, der besonders heftig protestierte … Mir schien, der Matrose, der Trotzki bestimmt mehr als einmal in Kronstadt hatte sprechen hören, hatte nun das bestimmte Gefühl, dass Trotzki ein Verräter sei. Er erinnerte sich an seine früheren Reden und war verwirrt… Unschlüssig, was zu tun sei, ließen die Kronstädter Tschernow gehen.
Bei der gemeinsamen Sitzung des Exekutivkomitees kommen Delegierte der Arbeitersektion, die etwa 54 Betriebe und Fabriken vertreten, zu Wort. Einer von ihnen sagt:
In den Fabriken leiden wir Hunger. Wir verlangen den Rücktritt der zehn kapitalistischen Minister. Wir vertrauen dem Sowjet, aber nicht denen, denen der Sowjet vertraut. Die sozialistischen Minister haben mit den Kapitalisten Vereinbarungen getroffen – doch diese Kapitalisten sind unsere Todfeinde. Wir fordern, dass sofort das Land beschlagnahmt und Arbeiterkontrolle über die Industrie errichtet wird. Und wir bestehen darauf, dass wir vor dem Verhungern gerettet werden! (Rabinowitch, ebd., S. 194).
Doch das Exekutivkomitee des Sowjets will diesen Forderungen nicht nachgeben. Die Versammlung wird immer wieder von zornigen Demonstranten unterbrochen. Arbeiter der Putilow-Werke wollen den Vorsitzenden des Exekutivkomitees, Irakli Zeretelli, sprechen, doch der hat Angst herauszukommen und weigert sich. Die Delegierten des Sowjets schicken daher den Bolschewik Sinowjew nach draußen, in den Worten Trotzkis ein „außerordentlich wortgewaltiger Redner“. Am Schluss seiner Ansprache dankt Sinowjew den Demonstranten und bittet sie, friedlich auseinanderzugehen. Die Menge löst sich langsam auf.
Noch während er spricht, stürmen Delegierte der Putilow-Werke, einige davon bewaffnet, in das Palais. Einer von ihnen geht ans Rednerpult und spricht: „Genossen! Wie lange wollen wir Arbeiter diesen Verrat noch tolerieren? Ihr trefft Abmachungen mit der Bourgeoisie und den Gutsbesitzern… Hier sind wir, 30.000 Putilow-Arbeiter… Wir werden unseren Willen bekommen!“ Die Menschewiki raten daraufhin den Arbeitern, nach Hause zu gehen, sonst seien sie Verräter an der Revolution.
Im Zentrum der Stadt kommt es den ganzen Abend hindurch zu Zusammenstößen, die aber zunehmend ohne Organisation und Ziel sind. „Zusammenstöße, Opfer, Erfolglosigkeit des Kampfes und die Ungreifbarkeit seines praktischen Ziels, all das erschöpfte die [Juli-] Bewegung“, schreibt Trotzki später in seiner Geschichte der Russischen Revolution.
Petrograd, 17. Juli: Das Exekutivkomitee des Sowjets und die Provisorische Regierung mobilisieren die militärische Konterrevolution
Belagert von der wütenden Menge am Taurischen Platz beginnen die Führer des Petrograder Sowjet in enger Zusammenarbeit mit dem Petrograder Militärdistrikt die Konterrevolution zu mobilisieren. Die Führung des Sowjets und die Provisorische Regierung einigen sich darauf, sofort Truppen von der Front in die Hauptstadt zu beordern. Noch wenige Wochen zuvor, während der Krise um die geplante Demonstration am 23. Juni, hatte Kerenski diese Maßnahme als undenkbar abgelehnt. Die Provisorische Regierung und das Exekutivkomitee des Sowjets geben General Polowzew, einem berüchtigten Rechten, freie Hand, nach seinem Ermessen zu entscheiden, wie Petrograd vom „Pöbel“ befreit werden könne, das Erste Maschinengewehrregiment zu entwaffnen und „die Bolschewiki zu verhaften, die die Villa Kschessinskaja besetzt halten, das Gebäude zu räumen und es mit Truppen zu besetzen.“
Die Befehlshaber der Kronstädter Flotte erhalten Weisung, vier Zerstörer nach Petrograd zu entsenden, um weitere Landungen von Kronstädter Matrosen zu vereiteln und Schiffe am Auslaufen von Helsingfors nach Petrograd zu hindern. Bei Befehlsverweigerung seien die Schiffe sofort zu versenken.
Ein großes Problem für die Regierung und die Führung des Sowjets ist, dass viele Soldaten, deren Loyalität traditionell der Regierung galt, nur zögerlich das Provisorische Komitee verteidigen wollen. Um ihre Unterstützung zu gewinnen, manipuliert der Justizminister Perewersew Fakten, die beweisen sollen, dass die Bolschewiki, insbesondere Lenin, als Agenten im Dienste Deutschlands handeln. Die Verleumdung, die sich auf eine Aussage eines Agenten des russischen Geheimdienstes, Jermolenko, stützt, wird am Nachmittag und frühen Abend an die Presse gegeben, zunächst ohne Billigung durch das Exekutivkomitee des Sowjet. Schon seit Lenins Rückkehr nach Petrograd kursieren diese Gerüchte, finden jedoch wenig Anklang bei den Massen, die größeres Interesse zeigen an der Fortführung der Revolution und sich vom Kampf der Bolschewiki für Frieden und Arbeitermacht immer stärker angezogen fühlen. Suchanow schreibt später: „Natürlich zweifelte von den der Revolution wirklich verbundenen Menschen niemand auch nur einen Augenblick an der Unsinnigkeit dieser Gerüchte.“
Inzwischen haben die Maschinengewehrschützen in der ganzen Stadt Barrikaden errichtet, und das rechte Ufer der Newa ist in der Hand der Aufständischen.
Um 1 Uhr mittags, das Treffen des Exekutivkomoitees des Sowjets dauert noch an, hören die Delegierten, dasssich Soldaten nähern. Zunächst kommt Furcht auf, weil sie glauben, sie bekommen es jetzt mit den Arbeitern von Kronstadt und Petrograd zu tun, die mit Unterstützung anrücken. Doch es handelt sich um loyale Regimenter, die zur Verteidigung derFührung des Sowjets anrücken. Sobald ihnen das klar wird, macht sich bei den Delegierten der Menschewiki und Sozialrevolutionäre Erleichterung breit. Beinahe in Ekstase stimmen sie die Marseillaise an, in Kampfuniform und begleitet von einer Marschkapelle, melden sich das Garderegiment Ismailowski und die Regimenter Preobraschenski und Semenowski einsatzbereit.
Um 4 Uhr morgens verabschiedet der Sowjet eine Resolution, die sich uneingeschränkt für die Regierung ausspricht. Durch die eindeutige Unterstützung der Nordfront für die Regierung und den Sowjet bricht die Aufstandsbewegung rasch zusammen.
Kiew, 17.-18. Juli: Massenmeuterei der Garnisonstruppen
Forderungen nach nationaler Selbständigkeit in der ukrainischen Bevölkerung haben zu einer Krise in der Provisorischen Regierung und zum Rücktritt der Kadettenminister in Petrograd geführt. Die anhaltenden Misserfolge von Kerenskis Offensive an der Front, massenhafter Hungertod und gravierender Mangel, sowie der gleichzeitige Aufstand in Petrograd haben währenddessen zu einer ausgeprägt rebellischen Stimmung unter den Soldaten geführt
Am 17. Juli rebellieren in einer Vorstadt Kiews Zehntausende ukrainischer Soldaten und fordern Unabhängigkeit für die Ukraine. Die Meuterer, die vor allem aus dem Militärklub Polubotok kommen, erhalten den Beinamen Polubotkiwsti. Nach einigen kleinen Scharmützeln handeln Vertreter der ukrainischen Regierung die Beendigung der Meuterei und die Entwaffnung der Soldaten aus. Zur Strafe werden sie sofort an die Front geschickt.
London, 17. Juli: König George V. verkündet Namensänderung der königlichen Familie zu Windsor
Im Buckingham Palace gibt König George V bekannt, dass er und alle seine männlichen Nachfolger den Namen Windsor annehmen werden. Damit wird die Bezeichnung Sachsen-Coburg-Gotha sowie alle Titel, die der königlichen Familie bisher vom deutschen Staat verliehen worden waren, ungültig. Der britische Monarch ist Cousin des deutschen Kaisers, Wilhelm II. Enkel von Königin Viktoria.
Der Schritt von George ist motiviert von der antideutschen Hysterie, die seit Kriegsausbruch von der britischen herrschenden Klasse geschürt wird, übertriebene und frei erfundene Berichte über brutales Vorgehen der Deutschen inbegriffen. Das Schüren nationalistischer Stimmungen führte auch zu gewalttätigen Übergriffen. 1915 kam es zu antideutschen Ausschreitungen in einigen Städten, darunter London, Newcastle, Manchester und Liverpool. Die Times, führend in der antideutschen Hetze, fordert die Segregation aller Männer deutscher Herkunft, die im wehrdienstfähigen Alter sind, und die Deportation aller übrigen Deutschen.
Die Namensänderung ist auch Ausdruck wachsender Sorge über soziale Entwicklungen in ganz Europa. Vor kaum vier Monaten ist ein weiterer von Georges Cousins, Zar Nikolaus II., durch die Februarrevolution gestürzt worden.
Die britische Regierung überlegt, den Romanows politisches Asyl zu gewähren. Doch George V. lehnt schließlich ab. Er fürchtet, die Anwesenheit des Zaren und seiner Familie könnte die zunehmenden sozialen Spannungen in Großbritannien noch verschärfen und sogar eine Revolution auslösen.
Petrograd, 18. Juli: Regierung geht mit voller Härte gegen die Aufständischen vor
Abgesandte der Regierung unter Leitung von Polowzew erscheinen um 6 Uhr morgens in der Prawda-Druckerei. Lenin, der auf Beschluss des Zentralkomitees sich in ein Versteck begeben hat, entkommt ihnen nur knapp. Das Zentralkomitee der Bolschewiki spürt die scharfe Veränderung in der Situation und ruft die Soldaten und Arbeiter sofort dazu auf, in die Kasernen und Fabriken zurückzukehren. In ihrem letzten Aufruf, bevor die Druckerei geschlossen wird, kündigt die Prawda an, dass die für heute geplante Demonstration abgesagt wird. Die Militärorganisation braucht deutlich länger, um die veränderte Situation zu realisieren. Einige ihrer Führer glauben zunächst, dass ein Aufruf zu einer weiteren Demonstration das Kräfteverhältnis wieder zugunsten der Bolschewiki verändern könne.
Gegen Mittag erklären Iljin-Schenewski und Jartschuk, die für die Aufständischen mit der Regierung verhandeln, nach einer Abstimmung unter den Maschinengewehrschützen und Matrosen faktisch die Kapitulation. Gegen Abend haben die meisten Matrosen Petrograd verlassen. Regierungstreue Truppen und Einheiten von General Polowzew erlangen schnell die Kontrolle über die russische Hauptstadt zurück, abgesehen von einigen Arbeiterbezirken. Rabinowitch schreibt: „Die Stimmung gegen die Bolschewiki war so stark, dass sie sich in weiten Teilen der Stadt unsicher fühlen mussten“. Die faschistischen Banden der antisemitischen Schwarzhunderter marodieren in den Straßen. Selbst der Menschewik Wojtinski spricht später von einer „konterrevolutionären Orgie“. Den ganzen Tag über werden Lastwagen mit Waffen beschlagnahmt und Arbeiter und Soldaten entwaffnet und verhaftet.
Um 3 Uhr morgens am 19. Juli taucht eine große Zahl regierungstreue Kräfte vor dem bolschewistischen Hauptquartier auf, unter dem Schutz einer Abteilung Kronstädter Soldaten, die von Raskolnikow befehligt werden. Um 7 Uhr stellt die Regierung ein Ultimatum. Die Kronstädter wollen ihre Waffen nicht abgeben und begeben sich zur Peter-Paul-Festung. Als die Regierung die Villa Kschessinskaja stürmt, finden sie nur eine Handvoll Bolschewiki vor, die sie verhaften lässt. Bald darauf geben die Bolschewiki auch die Peter-Paul-Festung auf.
Die Kabinettsminister rufen zur Verhaftung aller Organisatoren und Führer der Bolschewiki auf. Sie sollen als Verräter an der Nation und Revolution angeklagt und vor Gericht gebracht werden.
Petrograd, 18. Juli: Presse startet Verleumdungsfeldzug gegen Bolschewiki als „deutsche Agenten“
Die Presse greift die Verleumdung der Revolutionäre als „deutsche Agenten“ auf und startet eine hasserfüllte Kampagne gegen die Bolschewiki. Den Startschuss gibt die Zeitung Novoe Vremya (Neue Zeiten), die die angeblichen vorläufigen Ergebnisse einerRegierungsuntersuchung veröffentlicht, welche bereits am Vortag an die Militäreinheiten durchgesickert ist. Trotzki schrieb später dazu:
So setzte die unglaublichste Episode des an Ereignissen reichen Jahres ein: Führer einer revolutionären Partei, deren Leben jahrzehntelang im Kampf mit gekrönten und ungekrönten Herrschern verlaufen war, wurden vor dem ganzen Lande und der ganzen Welt als gemietete Agenten der Hohenzollern hingestellt. Eine Verleumdung von nie dagewesenem Maßstabe wurde in die Tiefe der Volksmassen geschleudert, die in ihrer überwiegenden Mehrheit zum ersten Mal nach der Februarrevolution die Namen der bolschewistischen Führer vernahmen. Die Intrige wurde zum erstrangigen politischen Faktor.
Eine besonders niederträchtige Rolle spielt die Zeitung Edinstwo (Einheit) von Georgi Plechanow, der zu einem russischen Chauvinisten degeneriert ist. Auf ein Telegramm der Regierung, das deutschen Agenten eine Mitverantwortung an den Juliunruhen zuschreibt, reagiert Plechanow in seiner Zeitung:
Wenn die Regierung davon überzeugt ist, darf man auf die Unruhen nicht reagieren, als seien sie lediglich ein bedauernswertes Ergebnis taktischer Verwirrung… Offensichtlich waren die Unruhen… ein fester Bestandteil eines Plans, ausgearbeitet vom ausländischen Feind, um Russland zu zerstören. Sie auszumerzen muss deshalb ein wichtiger Bestandteil jeglichen Plans zur nationalen Verteidigung Russlands sein. …Die Revolution muss alles, sofort entschlossen und gnadenlos vernichten, was ihr im Weg steht.“ (Rabinowitch, Die Sowjetmacht: Die Revolution der Bolschewiki, Essen, 2012, S. 27).
Die Verleumdungen aber sind so krass und durchsichtig, dass selbst einige Führer der Menschewiki protestieren. Justizminister Perewersew, der vor allem für ihre Verbreitung verantwortlich zeichnet und hofft, schwankende Militärregimenter damit auf seine Seite zu ziehen, sieht sich gezwungen, noch am selben Tag, als die Anschuldigungen in der Presse erscheinen, zurückzutreten. Die Feinde des Bolschewismus hindert das nicht, die Lügen in den Wochen und Monaten danach weiter zu verbreiten.
Trotzki erklärte die Dynamik und die politischen Motive dieser Kampagne später so:
Die Juliverleumdung war auf die Bolschewiki am allerwenigsten aus heiterem Himmel herabgestürzt, sie war die natürliche Frucht von Panik und Hass, das letzte Glied einer schändlichen Kette, die Verschiebung der fertigen Verleumdungsformel an eine neue, endgültige Adresse, die die gestrigen Ankläger und Angeklagten versöhnte. Alle Kränkungen der Regierenden, alle Ängste, all ihre Erbitterung richteten sich gegen jene Partei, die die äußerste von links war und am vollendetsten die zerschmetternde Kraft der Revolution verkörperte. Konnten denn in der Tat die besitzenden Klassen ihren Platz den Bolschewiki räumen, ohne den letzten verzweifelten Versuch gemacht zu haben, sie in Blut und Schmutz zu treten? Der durch langen Gebrauch verworrene Knäuel der Verleumdung musste zwangsläufig auf das Haupt der Bolschewiki niederfallen. Die Enthüllungen des Fähnrichs von der Konterspionage waren nur eine Materialisation des Fieberwahns der besitzenden Klassen, die sich in einer Sackgasse erblickten. Deshalb gewann auch die Verleumdung solch schreckliche Kraft.
Petrograd, 19. Juli: Lenin plädiert für Aufgabe der Losung „Alle Macht den Sowjets“
Als an diesem Morgen alle Arbeiter wieder an ihre Arbeitsplätze zurückkehren, patrouillieren Soldaten von der Front die Straßen. Der Aufstand war in der Niederlage geendet. Am Abend trifft sich Lenin in einer kleinen Wohnung im Arbeiterstadtteil Wyborg mit einigen Mitgliedern des bolschewistischen Zentralkomitees, um die politische Situation zu diskutieren. Unter den Anwesenden sind Sinowjew, Kamenew, Stalin und Podwojski.
Lenin gibt sich keinen Illusionen über die Niederlage des Aufstands hin. Er betont, dass die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki sich jetzt eindeutig für ein Bündnis mit der militärischen Konterrevolution entschieden haben, statt die Macht in die eigenen Hände zu nehmen. Die Arbeiter und Soldaten hatten gehofft, dass sie dies unter dem Druck der Straße tun würden. Mit Unterstützung der Sozialrevolutionäre und Menschewiki hat die Konterrevolution die Macht im Staat übernommen. Eine friedliche Entwicklung der Revolution ist nun unmöglich. Der Slogan „Alle Macht den Sowjets“ ist daher überholt, argumentiert Lenin. Die Bolschewiki müssten stattdessen unter einer neuen Losung agitieren: „Alle Macht der Arbeiterklasse unter Führung ihrer revolutionären Partei – den Bolschewiki-Kommunisten.“ Nach Alexander Rabinowitch „hat Lenin damit wohl zum ersten Mal die unbedingte Notwendigkeit einer direkten Machtübernahme der Bolschewiki offen ausgesprochen, die bei der nächsten günstigen Gelegenheit in nicht allzu ferner Zukunft erfolgen sollte.“ (Aus dem Englischen)
In seinem Artikel „Zu den Losungen“, der einige Tage später erschien, führt Lenin aus:
Es ist allzu oft vorgekommen, dass bei einer schroffen Wendung der Geschichte selbst fortgeschrittene Parteien sich in der neuen Lage mehr oder weniger lange Zeit nicht zurechtfinden können und Losungen wiederholen, die gestern richtig waren, heute aber jeden Sinn verloren haben, die ebenso „plötzlich“ ihren Sinn verloren haben, wie die schroffe Wendung der Geschichte „plötzlich“ eingetreten ist.
Derartiges kann sich offenbar auch mit der Losung wiederholen, die den Übergang der gesamten Staatsmacht an die Sowjets fordert… Das war die Losung der friedlichen Entwicklung der Revolution… Dieser Weg wäre der schmerzloseste gewesen, und darum musste man mit aller Energie für ihn kämpfen. Doch jetzt ist dieser Kampf, der Kampf für den rechtzeitigen Übergang der Macht an die Sowjets, zu Ende. Der friedliche Weg der Entwicklung ist unmöglich gemacht worden. Es beginnt ein nichtfriedlicher, äußerst schmerzvoller Weg.
Der Umschwung vom 4. Juli besteht eben darin, dass sich seitdem die objektive Lage schroff geändert hat. Der labile Zustand der Macht ist zu Ende, die Macht ist an der entscheidenden Stelle in die Hände der Konterrevolution übergegangen. Die Entwicklung der Parteien auf dem Boden des Paktierens der kleinbürgerlichen Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki mit den konterrevolutionären Kadetten hat dazu geführt, dass diese beiden kleinbürgerlichen Parteien faktisch zu Komplizen und Helfershelfern der konterrevolutionären Henker geworden sind.
Die Losung, die den Übergang der Macht an die Sowjets fordert, würde sich jetzt wie eine Donquichotterie oder wie Hohn ausnehmen. Diese Losung hieße, objektiv gesehen, das Volk betrügen, ihm die Illusion eingeben, als ob auch jetzt die Sowjets die Machtübernahme bloß zu wünschen oder zu beschließen brauchten, um die Macht zu erhalten, als ob es im Sowjet noch Parteien gäbe, die sich nicht besudelt hätten durch Handlangerdienste für die Henker, als ob man das Geschehene ungeschehen machen könnte...
Der Kern der Sache besteht darin, dass diese neuen Machthaber, die über die Staatsgewalt verfügen, nur von den revolutionären Volksmassen besiegt werden können. Voraussetzung für deren Bewegung ist aber nicht nur, dass sie vom Proletariat geführt werden, sondern auch, dass sie den Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, die die Sache der Revolution verraten haben, den Rücken kehren. … Eben das revolutionäre Proletariat muss, nach den Erfahrungen vom Juli 1917, die Staatsmacht selbständig in seine Hände nehmen – anders ist der Sieg der Revolution nicht möglich. Die Macht in den Händen des Proletariats, das von der armen Bauernschaft oder den Halbproletariern unterstützt wird, dies ist der einzige Ausweg …
Angesichts der Situation drängt Lenin darauf, die Agitationsarbeit der Bolschewiki dahingehend neu auszurichten, dass sie erstens „klar und deutlich die wirklichen Feinde des Volkes, die Militärclique, die Kadetten und die Schwarzhunderter anprangert, dass sie die kleinbürgerlichen Parteien, die Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, die die Rolle von Helfershelfern der Henker gespielt haben und noch spielen, rückhaltlos entlarvt.“ Zweitens muss die bolschewistische Agitation den Bauern klarmachen, „wie völlig aussichtslos es ist, Land zu bekommen, solange die Macht der Militärclique nicht gestürzt ist, solange die Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki nicht entlarvt sind und ihnen das Vertrauen des Volkes noch nicht entzogen ist.“
Berlin, 19. Juli 1917 Der Reichstag verabschiedet inhaltsleere „Friedensresolution“
Der Deutsche Reichstag verabschiedet eine Resolution der sozialdemokratischen MSPD, des katholischen Zentrums und der Fortschrittlichen Volkspartei, die in allgemein gehaltenen Wendungen und salbungsvollen Phrasen von einem „Frieden der Verständigung und der dauernden Versöhnung der Völker“ schwafelt.
Die Ankündigung dieser „Friedensresolution“ im Parlament durch die Rede des rechten Abgeordneten Mathias Erzberger (Zentrum) am 6. Juli hatte noch eine Regierungskrise ausgelöst und am Ende zum Sturz des Reichskanzlers Bethmann Hollweg geführt.
In der ganzen Regierungskrise haben jedoch von Anfang an die Generäle Ludendorff und Hindenburg die Initiative an sich gerissen und nicht mehr aus der Hand gegeben. Sie wollten mit dem Kanzlersturz ein Eingehen der Regierung auf Forderungen nach Frieden verhindern und die Fortsetzung des Eroberungskrieges sicherstellen. Nach dem Rücktritt von Bethmann Hollweg kommandieren sie noch am selben Tag die Parteiführer der Reichstagsmehrheit zu sich ins Hauptquartier und fordern ultimativ den Verzicht auf die geplante Friedensresolution. Doch insbesondere die MSPD-Führer können die OHL umstimmen: die Resolution bezwecke ja keinen Verzicht auf Kriegsziele, sondern diene hauptsächlich Propagandazwecken. Würden sie die Friedensresolution aufgeben, würde die SPD auch den letzten Rest an Glaubwürdigkeit verlieren, über den sie noch verfügt und den sie unbedingt braucht, um weiterhin die Unterstützung der Kriegspolitik in der Arbeiterklasse durchsetzen zu können. Daraufhin verlangen die Generäle, dass sie dann wenigstens den Inhalt der „Friedensresolution“ mitbestimmen. Die sozialdemokratischen Parteiführer stimmen folgsam zu, und ebenso die der katholischen und der liberalen Partei.
Am Ende wird im Reichstag ein Fetzen Papier verabschiedet, von dem der SPD-Vorsitzende Philipp Scheidemann General Ludendorff versichert: „Die Resolution ist so gefasst, dass notwendiger Landerwerb und Kriegsentschädigungen durchaus nicht ausgeschlossen sind.“ Und Erzberger stellt klar: „Deutsche Interessen in Belgien und im Osten sind davon nicht betroffen.“
Und um letzte Zweifel zu zerstreuen, die Resolution könne irgendwie die Verfolgung weitreichender Kriegsziele behindern, versieht der neue Reichskanzler Georg Michaelis sie in seiner Rede im Reichstag dazu immer mit dem Zusatz „wie ich sie auffasse“. Triumphierend berichtet er in einem Brief vom 25. Juli dem Kronprinzen und Erzmilitaristen Wilhelm von Preußen: „Die berüchtigte Resolution ist mit 212 gegen 126 Stimmen bei 17 Stimmenthaltungen angenommen. Durch meine Interpretation derselben habe ich ihr die größte Gefährlichkeit geraubt. Man kann schließlich mit der Resolution jeden Frieden machen, den man will.“
Berlin, 20. Juli 1917: Die SPD stimmt einem neuen Kriegskredit zu
Der Deutsche Reichstag bewilligt mit den Stimmen der SPD einen neuen Kriegskredit in Höhe von 15 Millionen Reichsmark. Mit ihrer ganzen Hohlheit hat die tags zuvor verabschiedete „Friedensresolution“ den sozialdemokratischen Parteiführern nur als Alibi und Rechtfertigung für ihre Unterstützung der Reichsregierung und ihrer Kriegsziele gedient. Sie sollte die Zustimmung aller SPD-Abgeordneten im Reichstag zur weiteren Finanzierung des imperialistischen Krieges sicherstellen.
Petrograd, 20. Juli (nach dem Gregorianischen Kalender 7. Juli): Trotzki und Kamenew werden verhaftet
Führende Bolschewiki wie Lew Kamenew, Moisei Charitonow, Flawian Chaustow und Eino Rachia, wie auch Trotzki und Anatoli Lunatscharski von den Meschraijonzy werden verhaftet. Die Zeitungen der Bolschewiki – Prawda, Soldatskaya Prawda (Wahrheit der Soldaten) und Golos Prawdy (Die Stimme der Wahrheit) – werden verboten und etliche Büros der Bezirks- und Fabrikkomitees der Partei durchsucht. Die allgemeine politische Stimmung wird zunehmend feindlich gegen die Bolschewiki und selbst Fabriken und Komitees, die zuvor für sie gewesen waren, verabschieden Resolutionen gegen die Bolschewistische Partei und unterstützen den Sowjet. So nimmt die bolschewistische Zelle in der Metall-Fabrik im Bezirk Wyborg eine Resolution an, in der sie dem Sowjet ihre volle Unterstützung zusichert und die örtliche Parteiorganisation seiner Kontrolle unterstellt. Sie fordert, dass das Zentralkomitee und das Petrograd-Komitee der Bolschewiki ihre Autorität abgeben sollen.
Ihre Militärorganisation, die eine Schlüsselrolle im Aufstand gespielt hat, ist besonders stark betroffen. Die meisten ihrer Führer sind im Gefängnis, ihr Soldatenclub und ihre Zeitungen sind verboten. Dennoch ist die Stärke der Konterrevolution geringer, als die Regierung gehofft hat und viele Bolschewiki befürchtet haben. Viele Arbeiter verstecken ihre Waffen, anstatt sie der Regierung abzuliefern. Den Bolschewiki gelingt es sofort, statt der verbotenen Prawda die Zeitung Listok Prawdy herauszugeben. Golos Prawdy in Kronstadt wird am 26. Juli (13. Juli nach Greg. Kalender) verboten, aber am nächsten Tag erscheint Proletarskoe Delo in einer Auflage von 12.000 Exemplaren. Bis Ende Juli dient sie dem Zentralkomitee als wichtigstes Presseorgan.
Flandern, 20. Juli: Deutsche bombardieren britische Schützengräben mit Senfgas-Bomben
In der Operation mit dem Codenamen Totentanz bombardieren deutsche Soldaten britische Stellungen bei Armentières mit Senfgas-Bomben. Etwa 6.400 Soldaten werden bei dem Angriff verwundet, der eine Woche nach dem ersten, etwas geringeren Einsatz von Senfgas-Bomben in der Nähe von Ypern stattfindet.
Die Bomben zerplatzen mit einem dumpfen Plopp und verteilen ihren Inhalt in einem Radius von 7 bis 10 Metern. Soldaten, die mit dem chemischen Kampfstoff in Kontakt kommen, bekommen Hautausschlag und eine schwere Bindehautentzündung, die zu vorübergehender Erblindung führt. Die Verwundeten müssen in Scharen in Lazarette geleitet werden, da sie allein ihren Weg nicht mehr finden können.
Die Senfgas-Bomben sind mit einem gelben Kreuz gekennzeichnet. Sie werden von den Deutschen eingesetzt, um Gebiete, in denen sie britische Angriffe erwarten, zu verseuchen, denn die Chemikalie kann wochen- oder monatelang im Boden verbleiben. Die Bombardierungen erfolgen in der Umgebung von Ypern, wo die Deutschen einen Angriff erwarten, fast täglich. Außerdem haben sie in diesem Monat erstmals sogenannte Blaukreuz-Granaten eingesetzt, die so konstruiert sind, dass der in ihnen enthaltene feine Arsenstaub Gasmasken durchdringen kann. Diese Granaten werden zusammen mit anderen, Giftgas enthaltenden Granaten eingesetzt, damit Soldaten, die ihre Gasmasken absetzen, weil sie wegen des Feinstaubs niesen müssen, dem Giftgas ausgesetzt sind.
Alle Kriegsparteien haben in beträchtlichem Ausmaß Gas eingesetzt und damit das Haager Abkommen von 1889 verletzt, das den Einsatz von erstickenden Substanzen und Giftgas verbietet. Frankreich setzte erstmals 1914 Tränengas ein, die Deutschen begannen in April und Mai 1915 mit Chlorgas-Angriffen. Großbritannien verurteilte Deutschland zunächst wegen des Einsatzes chemischer Waffen, entwickelte aber rasch eigene. Die Alliierten setzten in großem Ausmaß Chlorgas ein. Als die Vereinigten Staaten im April in den Krieg eintraten, rekrutierten sie bereits Spezialisten für die Produktion von Giftgas. Bald stellten die USA ein Gasregiment auf.
An der Südfront fand der erste Gasangriff österreichisch-ungarischer Truppen am 29. Juni 1916 statt, wobei ein Gemisch von Phosgen und Chlorgas benutzt wurde. Dabei wurden Tausende Italiener getötet.
Gegen Kriegsende wird die Zahl der Toten durch chemische Waffen auf etwa 100.000 gestiegen sein, die der Verwundeten auf insgesamt 1,3 Millionen.
Frankreich, 21. Juli: Militärberichte erklären die Meutereien in der Armee für beendet.
Ein Bericht des französischen Büros für Sonderoperationen erklärt, dass die Meutereien in der Armee und Kontrolle gebracht worden seien, warnt aber davor, dass es weiter scharfe Spannungen gebe. „Der Geist der Disziplin kehrt zurück“, wird in dem Bericht behauptet. „Die allgemeine Meinung in den Truppen ist, dass wir einen Punkt erreicht haben, an dem es absurd wäre, aufzugeben, Aber die Offiziere dürfen ihre Leute nicht von oben herab behandeln.“.
In Wirklichkeit sind die Meutereien brutal unterdrückt worden. Das französische Militär hat eine strikte Zensur über die Berichte von Rebellionen verhängt. Das bedeutet, dass erst nach dem Krieg bekannt werden wird, dass 57 Soldaten exekutiert wurden, weil sie an Meutereien beteiligt waren. Hunderte Todesurteile wurden nachträglich in Haftstrafen umgewandelt. 1.381 Männer wurden zu fünf Jahren oder mehr Zwangsarbeit verurteilt, 23 zu lebenslänglich. Weitere 1.492 erhielten kürzere Freiheitsstrafen.
Die Meutereien waren in 68 der 112 Divisionen der französischen Armee ausgebrochen und hatten ihren Höhepunkt Ende Mai und Anfang Juni. Soldaten, ermutigt durch die Februarrevolution in Russland, wählten Vertreter und hielten Versammlungen ab, auf denen sie ihre Beschwerden vorbrachten und Forderungen aufstellten.
Petrograd, 22.bis 23. Juli (9.-10 Juli nach Gregorianischem Kalender): Die Führung des Sowjets verkündet: „Regierung muss die Revolution retten.“
Die Exekutivkomitees des Petrograder und des Allrussischen Sowjets treten zu einer Krisensitzung zusammen, als in der Hauptstadt Berichte über den militärischen Zusammenbruch an der Front eintreffen. In einer zuvor verabschiedeten Resolution haben die Exekutivkomitees die Julitage als „einen abenteuerlichen fehlgeschlagenen Aufstand“ von „anarcho-bolschewistischen Elementen“ bezeichnet. Ausdrücklich erkannten sie die Autorität der Regierung an, die revolutionären Freiheiten zu schützen und die Ordnung aufrechtzuerhalten.
Jetzt gehen sie sogar noch weiter. Der Menschewik Dan, der ein paar Tage zuvor nach der gescheiterten Demonstration vom 23. Juni noch vor übertriebenen Sanktionen gegen die Bolschewiki gewarnt hat, ruft den Sowjet auf, „die Provisorische Regierung umgehend zur 'Regierung zur Rettung der Revolution' zu erklären. Dazu müsse sie des „Weiteren mit Vollmachten“ ausgestattet werden, um in der Armee „Disziplin wiederherzustellen und einen entschiedenen Kampf gegen jegliche Erscheinungsformen von Konterrevolution“ zu führen und das einen Tag vorher verkündete Reformprogramm in Kraft setzen.
Der Sowjet verabschiedet tatsächlich eine diesbezügliche Resolution und stellt einer Regierung einen “Blankoscheck” aus, „deren Zusammensetzung und Programm zu diesem Zeitpunkt noch völlig unklar sind“ In einer Bekanntmachung dieses Beschlusses verkündet der Sowjet:
Die Regierung muss alle anarchistischen Ausbrüche und alle Versuche, die Errungenschaften der Revolution zu zerstören, mit eiserner Hand zerschmettern … [Die Regierung] muss alle Maßnahmen ergreifen, die die Revolution erfordert. (Rabinowitch)
Die Bolschewiki, die Menschewiki-Internationalisten und die Linken Sozialrevolutionäre stimmen gegen die Resolution.
Ebenfalls in dieser Woche, 19. Juli: Eine Entdeckung am Mount Wilson Observatorium in Kalifornien erweitert das Wissen über das bis dahin bekannte Universum enorm
George Willis Ritchey entdeckt mit einem 60” Teleskop in der Galaxie NGC6946 einen leuchtenden Stern (nach heutigen Erkenntnissen eine Supernova). Zusammen mit einigen früheren ähnlichen Beobachtungen lässt Ritcheys Entdeckung vermuten, dass diese Phänomene keine zufälligen Anordnungen heller werdender Sterne unserer Galaxie sind, sondern dass diese Sterne – und die „Spiralnebel“, die sie enthalten – vollständig außerhalb unserer Galaxie existieren. Damit erweitert sich das Wissen über das bisher bekannte Universum enorm. Ein neues, später im Jahr 1917 entwickeltes 100“ Teleskop wird diese Hypothese durch die Entdeckung und Messung der Eigenschaften einzelner heller Sterne nahegelegener Galaxien bestätigen.