Frankreich: Staatsstreichpläne für den Fall eines Wahlsiegs von Le Pen

Das Nachrichtenmagazin L’Obs veröffentlichte am Donnerstag einen ungewöhnlichen Bericht. Danach hatten führende Mitglieder der Hollande-Regierung einen Staatsstreich geplant für den Fall, dass Marine Le Pen, die Kandidatin des Front National (FN), die Stichwahl vom 7. Mai gewinnen würde.

Mit dem Putsch sollte Le Pen nicht daran gehindert werden, ihr Amt anzutreten. Vielmehr richteten sich die Pläne gegen voraussichtliche Proteste von links. Für diesen Fall sollte das Kriegsrecht verhängt und Le Pen gezwungen werden, im Bündnis mit der Sozialistischen Partei (PS) zu regieren.

L’Obs schreibt: „Niemand wagte es, sich vorzustellen, was am Tag nach Le Pens Sieg in der Stichwahl passieren würde. Man musste von einer gesellschaftlichen Explosion ausgehen. Die Strategen, die diesen Plan B entwickelt haben, gingen davon aus, dass das Land nach dem Sieg des Front National vor einem Chaos stehen würde: Schockzustand, republikanische Demonstrationen, aber vor allem extreme Gewalt, speziell vonseiten der Linksradikalen.“

Weiter heißt es: „Der Plan wurde nicht schriftlich niedergelegt, aber alles war vorbereitet. Die Ausführung war so präzise geplant, dass einige Regierungsmitglieder, Stabschefs und hohe Staatsbeamte ihn aus dem Gedächtnis in allen Schritten beschreiben können.“ L’Obs belegt den detaillierten Bericht mit drei verschiedenen Quellen aus der scheidenden Regierung und den staatlichen Behörden.

Der Plan sah massive Polizei-Einsätze vor, um Frankreich völlig stillzulegen. Außerdem sollte die PS die Macht übernehmen, indem Premierminister Bernard Cazeneuve sich weigern sollte, zurückzutreten. Ein hoher Staatsbeamter, der in den Plan eingebunden war, erklärte gegenüber L’Obs: „Das ganze Land wäre zum Stillstand gekommen. Die Regierung hätte nur eine Priorität gehabt: die Sicherheit des Staats zu garantieren.“

Im Klartext hätte das die Errichtung einer Polizei- und Militär-Diktatur bedeutet. Schon jetzt sind unter dem Ausnahmezustand der PS-Regierung grundlegende demokratische Rechte außer Kraft gesetzt. Er wurde nach den Terroranschlägen vom 13. November 2015 in Paris verhängt und dann fortwährend verlängert. Die Polizei hat das Recht, Personen willkürlich festzunehmen, Demonstrationen zu verbieten und Menschen unter Hausarrest zu stellen. Der von L’Obs beschriebene Plan umfasste die volle Ausschöpfung dieser Befugnisse, um das Kriegsrecht zu verhängen und die normale Funktionsweise des Staats auf Dauer außer Kraft zu setzen.

Die Polizeibehörden in allen hundert Departements von Frankreich standen in Kontakt zum Innenministerium, um sich auf die Krise nach den Wahlen vorzubereiten. L’Obs schreibt, diese Gespräche deuteten darauf hin, dass die Polizei sich um die Situation sorgte, die durch einen Sieg Le Pens entstehen könnte. Die Zeitschrift zitiert ein Memo des Inlandsgeheimdiensts, von dem schon in Le Parisien berichtet worden war: „Extrem linke Bewegungen, die mehr oder weniger in der Bevölkerung verwurzelt sind, werden zweifellos versuchen, Demonstrationen zu organisieren, die zum Teil zu schwerwiegenden Unruhen führen könnten.“

L’Obs berichtet, dass die Polizeibehörden und die Polizeigewerkschaften im Verlauf dieser Diskussionen verlangt haben, dass ihnen beim Einsatz von potenziell tödlichen Waffen, unter anderem Blendgranaten und Gummigeschossen, gegen Demonstranten völlig freie Hand gewährt wird. Einer der Funktionäre der Polizeigewerkschaft schrieb: „Die Anweisungen, die eine oder andere Waffe nicht einzusetzen, ist nicht zu tolerieren.“

Laut einer Quelle von L’Obs sollte die Weigerung von Cazeneuve, zurückzutreten, „die politische Situation einfrieren“. Außerdem sollte eine Lücke in der französischen Verfassung ausgenutzt werden, um einen verfassungsgemäßen Staatsstreich gegen die neue Präsidentin zu lancieren.

L’Obs schreibt: „Zunächst war geplant, dass der Regierungschef seinen Rücktritt nicht einreicht. Natürlich widerspricht es den republikanischen Traditionen, dass der Premierminister auf seinem Posten verbleibt. Die Verfassung schreibt aber tatsächlich seinen Rücktritt nicht vor. Im nächsten Schritt sollte das Parlament zu einer außerordentlichen Sitzung einberufen werden. Sogar ein Datum war schon vorgesehen: der 11. Mai. Das Thema der Sitzung wäre die nationale Krise gewesen, die durch die Gewalt nach den Wahlen ausgelöst wurde. Man hätte die Abgeordneten aufgefordert, der Regierung das Vertrauen auszusprechen.“

Kurz gesagt, die Nationalversammlung wäre aufgefordert worden, eine pseudolegale Rechtfertigung für einen Staatsstreich der Polizei und der Geheimdienste hinter dem Rücken der französischen Bevölkerung zu liefern. Diese Übergangsregierung sollte mindestens bis zu den Parlamentswahlen am 11. und 18. Juni bestehen bleiben, vorausgesetzt, die neuen Amtsinhaber hätten sie zugelassen.

Was L’Obs da beschreibt, wäre die schwerwiegendste Aussetzung normaler demokratischer Abläufe in Frankreich durch Sicherheitskräfte seit dem Algerienkrieg. Im Mai 1958 ergriffen Offiziere, die an der Kolonialherrschaft über Algerien festhalten wollten, in Algier die Macht. Sie setzten einen Staatsstreich in Gang, die Opération Résurrection, um die Regierung in Paris zu stürzen. In Paris übernahm General Charles de Gaulle die Regierung, verhängte den Ausnahmezustand und wies seine Anhänger an, die französische Verfassung eiligst zu ändern. Damit legte er die Grundlage für Frankreichs gegenwärtige Fünfte Republik.

Das Schweigen der Medien über den L’Obs-Bericht vom 18. Mai spricht Bände. Und das, obwohl L’Obs eine renommierte Zeitschrift ist und es keinen Grund gibt, ihre Berichterstattung anzuzweifeln. Der Bericht hat jedoch folgenschwere politische Konsequenzen und wirft sofort ernsthafte Fragen in Bezug auf die Regierung des neuen Präsidenten Emmanuel Macron auf.

Haben Polizei und Geheimdienste noch andere Szenarien geplant, für andere Gelegenheiten als die Wahl von Le Pen, bei denen sie die verfassungsmäßige Herrschaft außer Kraft setzen und das Kriegsrecht verhängen würden?

Betrachtet das Innenministerium jetzt alle linken Demonstrationen, in deren Verlauf es zu Gewalt kommen könnte – sei es durch Demonstranten oder Polizeiprovokateure – als existentielle Bedrohung? Und gibt es ähnliche Pläne, um auch jene Proteste zu unterdrücken, die zu erwarten sind, wenn Macrons Kriegs- oder Austeritätspolitik bekanntwird? Wird die Polizei auf rechtmäßige Streiks und Demonstrationen, die durch die Verfassung geschützt sind, ebenfalls reagieren, indem sie die Verfassung außer Kraft setzt und eine Diktatur errichtet?

In dem Vierteljahrhundert, das seit der Auflösung der Sowjetunion durch die Stalinisten vergangen ist, haben Frankreich und die Europäische Union (EU) insgesamt ein Sparprogramm nach dem andern aufgelegt. Der europäische Kapitalismus hat sich grundlegend verändert. Die wirtschaftliche Ungleichheit ist enorm angewachsen und hat die soziale Wut angeheizt. Die gesellschaftlichen Beziehungen brechen auseinander. Als die verhasste PS-Arbeitsgesetzgebung soziale Proteste auslöste, wurden sie brutal unterdrückt. Das Gesetzespaket wurde unter den Bedingungen des längsten Ausnahmezustands der französischen Geschichte ohne Abstimmung im Parlament beschlossen. Das ist ein Anzeichen dafür, dass die französische Demokratie sich in einem fortgeschrittenen Zerfallsstadium befindet.

Unter diesen Umständen sind die Versuche der PS-Vertreter, die von der Zeitschrift kontaktiert wurden, und von L’Obs selbst, die Bedeutung der Nachricht herunterzuspielen, selbstgefällig und falsch. Ihre Beteuerungen, die geplante Operation sei verfassungskonform gewesen und habe rasch wieder zu einem normalen Funktionieren der Fünften Republik führen sollen, sind das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt sind.

Der scheidende Premierminister Bernard Cazeneuve hat der L’Obs-Geschichte, dass es eine Verschwörung vonseiten der PS gegeben habe, Glaubwürdigkeit verliehen. Er erklärte, er habe „nicht die Absicht gehabt, den Matignon [Residenz des Premierministers] zu verlassen, wenn Le Pen die Präsidentschaftswahlen gewonnen hätte“. Als L’Obs die Mitarbeiter Cazeneuves zu dem Putschkomplott befragte, erklärten sie, er habe ihnen gegenüber „einen solchen Plan niemals erwähnt“.

Was L’Obs selbst angeht, so betont die Zeitung, der Putschplan sei verfassungsmäßig. Die Zeitschrift nimmt die Beteuerungen der Verschwörer für bare Münze, sie hätten die Macht wieder abgegeben, und schließt daraus, es wäre zu „einer kurzen Übergangszeit ohne Präzedenzfall in der Geschichte der Republik“ gekommen.

Wenn der Polizei- und Geheimdienstapparat versuchen würde, solche Pläne in die Tat umzusetzen, dann würde er offen gegen die Verfassung verstoßen und den Weg für einen entschiedenen Bruch der herrschenden Klasse mit demokratischen Herrschaftsformen ebnen. Das wäre der Auftakt zu einer gewalttätigen Konfrontation mit der Arbeiterklasse, in der es nach wie vor ein starkes Bewusstsein für demokratische Rechte gibt.

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