Mitte November fanden bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) Personalratswahlen statt. Bei den U-Bahnfahrern sank die Wahlbeteiligung auf ein Rekordtief – nur rund 33 Prozent beteiligten sich an der Wahl. Im Bus- und Trambereich lag die Beteiligung etwas höher und erreichte durchschnittlich 60 Prozent.
Die seit Jahrzehnten tarifführende Gewerkschaft Verdi verlor vor allem unter dem Fahrpersonal bis zu 30 Prozent ihrer bisherigen Unterstützung. Insgesamt wurde Verdi nur noch von jedem vierten Beschäftigten gewählt. Im Gesamtpersonalrat verlor Verdi 5 Sitze und erreichte nur noch 16 der 27 Sitze.
Das Ergebnis zeigt den wachsenden Unmut und Widerstand gegen Verdi. Verkehrsarbeiter sehen die Gewerkschaft zunehmend als das, was sie ist: ein Teil der Unternehmensleitung, die in den vergangenen Jahren das Lohnniveau radikal gesenkt und die Arbeitshetze extrem verschärft hat. In den letzten Jahren wurden bei der BVG mehr als 100 Millionen Euro an Personalkosten eingespart. Dadurch stiegen die Umsätze und die Gewinne, was sich aber weder in Fahrpreissenkungen noch in verbesserten Lohn- und Arbeitsbedingungen niederschlägt.
Heute erhalten ca. 2000 BVG-Beschäftigte, die seit 2005 als Fahrer eingestellt wurden, mit rund 2.100 Euro brutto bis zu tausend Euro weniger als die Altbeschäftigten. Damals hatte Verdi in engster Absprache mit der BVG-Unternehmensspitze und dem rot-roten Senat einen Niedriglohnsektor vereinbart. Den Altbeschäftigten hatte man zuvor schon, verbunden mit einer Arbeitszeitkürzung, die Löhne um bis zu zwölf Prozent gesenkt.
So erhält ein Busfahrer, der länger als elf Jahre beschäftigt ist, heute rund 36.000 Euro im Jahr für 36,5 Wochenstunden. Ein neueingestellter Busfahrer muss hingegen 39 Wochenstunden arbeiten und erhält nur knapp 26.000 Euro im Jahr. Mit Familie und Schichtzuschlägen bringt er es auf etwa 1.600 netto im Monat. Um ihre Familie über die Runden bringen zu können, müssen etliche der jüngeren Fahrer eine Aufstockung nach Hartz-IV beantragen.
Zugleich verschlechtern sich zusehends die Arbeitsbedingungen für das Fahrpersonal. Berlin wächst und die Fahrgastzahlen steigen von Monat zu Monat. Die Kräfte-zehrenden Schichtpläne bedeuten beispielsweise für Busfahrer oft neun Stunden Fahrtzeit im hektischen Großstadtverkehr, mit nur kurzen, unbezahlten Pausenzeiten, und dies meist sechs Tage hintereinander. Ein freies Wochenende gibt es in der Regel nur alle sechs Wochen. Besondere Empörung ruft unter den Fahrern die Kürzung der Wendezeiten hervor, die die Arbeitshetze extrem erhöht.
Diese Situation, die durch die vielen Unfälle im Berliner Verkehr und die ständigen Polizeisperrungen verschärft wird, kann durch die geplanten Neueinstellungen noch unerfahrener Kräfte auf längere Sicht kaum aufgefangen werden. Die Fahrer sollen zudem einen sicheren Transport von immer mehr Fahrgästen mit größtenteils schlecht gepflegten Fahrzeugen garantieren. Fahrzeuge bleiben liegen, die Türen funktionieren nicht, sogar Reifen sollen schon während der Fahrt geplatzt sein.
Die BVG mit rund 14.000 Beschäftigten ist noch ein öffentliches Unternehmen, das zwar nach „betriebswirtschaftlichen“ Kriterien arbeiten soll, aber vom Senat über einen Verkehrsvertrag für die Dienstleistungen direkt beauftragt wird. Der gegenwärtige Verkehrsvertrag war 2007 noch vom rot-roten Senat aus SPD und Linkspartei ausgehandelt worden. Der neu gewählte rot-rot-grüne Senat hat in seinem Koalitionsprogramm im besten PR-Jargon angekündigt, er wolle nun eine „Mobilitätswende“ einleiten. Vorläufig soll die BVG als öffentliches Unternehmen aufrechterhalten, zugleich aber „durch Anreizsysteme“ die Wettbewerbsfähigkeit gesteigert werden.
Von Verbesserungen der misslichen Lage der Beschäftigten ist keine Rede. Die Wahrheit ist, dass sich SPD, Linke und Grüne in dieser Frage auf die Gewerkschaft Verdi stützen, die mit dem BVG-Vorstand und dem Kommunalen Arbeitgeberverband KAV längst Knebelverträge gegen die Belegschaft ausgehandelt hat. 2013 vereinbarte sie Eckpunkte eines „Ergänzungstarifvertrags Zukunftssicherung“ – ein perfider Plan, der der Belegschaft bis 2025 niedrige Löhne aufzwingen und Streiks ausschließen soll.
Der neue Verkehrsvertrag ab 2020, der die Direktvergabe von Verkehrsdienstleistungen ermöglichen soll, kalkuliert die Aufrechterhaltung von Niedriglöhnen somit ein. Ebenso die Rolle von Verdi als verlängerter Arm des rot-rot-grünen Senats, um Widerstand in der Belegschaft zu unterdrücken. Die Ankündigung im Koalitionsvertrag, dass ein „striktes Controlling … die sachgerechte Verwendung der eingesetzten Finanzmittel“ gewährleisten soll, muss daher von den BVG-Arbeitern als Drohung verstanden werden. An der zunehmenden Arbeitshetze wird sich jedenfalls auch unter Rot-Rot-Grün nichts ändern.
Für ihre Rolle als Betriebspolizei und Management-Berater wird Verdi fürstlich entlohnt. Neben dem hohen Gehalt von über 150.000 Euro im Jahr erhält beispielsweise Gewerkschafschef Frank Bsirske zusätzlich Tantiemen und Sitzungsgelder von fast einer halben Million durch Aufsichtsratsposten bei RWE, Postbank und Lufthansa. Kein Wunder, dass er wie auch andere Spitzenfunktionäre von Verdi die Probleme des öffentlichen Nahverkehrs vom selben Standpunkt aus betrachtet wie die hochbezahlten Manager des Unternehmensvorstands.
Die von den Tantiemen abgeführten Gelder an die Hans-Böckler-Stiftung – Bsirske behält „nur“ fünf Prozent oder 50.900 Euro für sich, immerhin noch doppelt so viel wie das Jahresgehalt eines neueingestellten Busfahrers – dienen der Ausarbeitung neuer Tarifverträge und Restrukturierungspläne sowie der Schulung der Personalräte, die diese vor Ort im Betrieb durchsetzen.
Der berechtigte Zorn der BVG-Beschäftigten drückte sich bei der Personalratswahl nicht nur in Wahlenthaltung, sondern auch im Stimmenzuwachs für zwei kleinere Spartengewerkschaften (Nahverkehrsgewerkschaft NahVG und Gewerkschaft für Verwaltung und Verkehr GVV) sowie für verschiedene alternative Listen aus, wie „Kraft durch Basis“, „Offene Liste“, „U-Bahner“ oder eine Gruppe namens „Verdianer für Verdi“.
„Kraft durch Basis“ wurde zweitstärkste Kraft unter den Busfahrern und konnte im lokalen Personalrat für die südlichen Berliner Bezirke zusammen mit der „Offene Liste“ sogar die Mehrheit der Stimmen erlangen. Im „Personalrat Nord“ hat Verdi nur knapp gesiegt, allerdings beklagen die unterlegenen Gruppierungen Unregelmäßigkeiten während der Wahl und haben Klage eingereicht. Auch unter den U-Bahnern verlor Verdi seine Machtposition, schloss sich aber mit der NahVG zusammen, um die Stimmenmehrheit zu behalten.
Die Hoffnung vieler Arbeiter, mit der Wahl der Oppositionslisten bessere Arbeitsbedingungen durchsetzen zu können, wird sich jedoch als Illusion erweisen. Keine dieser Listen hat eine Perspektive, wie Arbeiter die Machenschaften von BVG-Management, KAV und Verdi durchbrechen können. Dazu müssten sie ein grundlegend anderes politisches Programm vertreten, das sich gegen die Unterordnung der Arbeiter unter kapitalistische Profitlogik richtet.
Gruppen wie „Kraft durch Basis“ oder „verdi-aktiv“ akzeptieren dagegen diesen Rahmen und stellen nur beschränkte Minimalforderungen auf. So will „Kraft durch Basis“, in der sich einige von Verdi enttäuschte Arbeiter organisiert haben, die korrupten Personalräte ablösen und „die Interessen der Beschäftigten konsequent vertreten“, zum Beispiel durch bessere Dienstzeiten und eine Aufhebung der Unterschiede zwischen Alt- und Neubeschäftigten. Sie greift drückende Probleme der Arbeiter auf, aber unterschätzt völlig die Tatsache, dass jedes dieser Probleme einen entschiedenen Bruch mit Verdi erfordert.
„Verdi-aktiv“ ist strikt gegen einen solchen Bruch. Sie behauptet, man könne Verdi in eine „wirklich klassenkämpferische“ und „ehrliche demokratische“ Gewerkschaft zurückverwandeln. Die Gruppe wurde vor einigen Jahren gegründet und steht unter dem Einfluss der pseudolinken SAV, einer Gruppierung innerhalb der Linkspartei, die mit Verdi auf das Engste zusammenarbeitet.
Verdi und die anderen Gewerkschaften haben sich nicht einfach wegen persönlicher Korruption in Agenturen des Managements verwandelt. Vielmehr hat diese Entwicklung tiefe objektive Ursachen. Die globalisierte Wirtschaft gerät immer heftiger in Konflikt mit dem System von Nationalstaaten, auf die sich auch die Gewerkschaften stützen. Je mehr die kapitalistischen Eliten auf die Krise mit Handelskrieg und Krieg reagieren, umso enger schließen sich die Gewerkschaftsfunktionäre mit dem „eigenen“ Staat und den „eigenen“ Konzernen zusammen und setzen in deren Interesse Lohnsenkungen und Sozialabbau durch.
Arbeiter sind daher im Kampf um ihre Rechte, um Arbeitsplätze und Löhne mit der Aufgabe konfrontiert, sich eine neue unabhängige Organisation zu schaffen, die für die Überwindung des Kapitalismus und der nationalen Grenzen eintritt, eine sozialistische Partei, wie wir in einem Wahlaufruf im September betont haben.