Der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi hat im Lauf der vergangenen Nacht seinen Rücktritt bekannt gegeben. Davor hatten die Wähler seiner Verfassungsreform im Referendum vom Sonntag, 4. Dezember, eine klare Absage erteilt. Die Reform sollte die Stellung des Ministerpräsidenten im Machtgefüge der Republik deutlich stärken.
Die Beteiligung an dem Referendum lag mit 68 Prozent höher als erwartet. 59 Prozent der Wähler sprachen sich gegen die Verfassungsreform aus und 41 Prozent dafür.
Eine halbe Stunde nach Mitternacht trat Renzi im nationalen Fernsehen vor die Bevölkerung und gestand seine tiefe Niederlage ein. „Ich trage die volle Verantwortung“ für das Scheitern des Referendums, sagte er in einer kurzen Ansprache, und fügte hinzu, noch heute werde er sich in den Quirinalspalast, den Amtssitz des Präsidenten, begeben, um dem Präsidenten der Republik, Sergio Mattarella, seinen Rücktritt anzubieten.
Die Abstimmung ist ein Ausdruck tiefer Opposition gegen die Regierung Matteo Renzis und der Demokratischen Partei (PD), wie auch gegen die Sparpolitik der Europäischen Union (EU), die seit dem Wall Street Crash von 2008 gegen die italienische Bevölkerung durchgesetzt wird.
Die angestrebten Verfassungsänderungen waren eindeutig reaktionär. Eine Zustimmung zum Referendum hätte den Senat in eine ungewählte Institution verwandelt, die nicht mehr die Möglichkeit hat, den Ministerpräsidenten zu stürzen. Die Abgeordnetenkammer hätte allein den Ministerpräsidenten gewählt, der ohne effektive parlamentarische Opposition als autoritäre Instanz mit weitgehenden Vollmachten hätte regieren können.
Die Banken und die EU hatten das Referendum als letzte Chance gesehen, die italienische Bankenkrise im Rahmen der EU und des Euro zu lösen. Die italienischen Banken sind mit gigantischen faulen
Krediten in Höhe von 360 Milliarden Euro belastet. Die italienische Wirtschaft und Industrie stecken in einer tiefen Krise und sind von Austeritätspolitik und Massenarbeitslosigkeit gezeichnet. Der so genannte „Bail-in“ der Banken, den die EU-Regeln vorschreiben, hatte zu heftigen Diskussionen geführt, weil damit die Verluste auch auf Kleinsparer abgewälzt werden, die ihr Geld in italienische Bankanleihen investiert haben.
Ein Sieg im Referendum hätte den Weg für Renzi frei gemacht, die Arbeiterklasse rücksichtslos anzugreifen.
Die Abstimmung ist auch eine Absage an die EU. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte Renzis Referendum unterstützt und ihn gelobt, er habe die „richtigen Reformen“ in Angriff genommen. Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble, der eine zentrale Rolle bei der Durchsetzung von Sparmaßnahmen in ganz Südeuropa spielt, unterstützte Renzis Referendum ebenfalls. Er erklärte: „Wenn ich wählen könnte, ich würde für ihn stimmen, obwohl er nicht meiner politischen Familie angehört … Ich wünsche ihm jeden Erfolg.“
Das italienische Referendum unterstreicht die tiefe Krise der Institutionen des europäischen und internationalen Kapitalismus. Erst vor einem Monat hatte die Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten viele überrascht und das politische Establishment erschüttert.
In ganz Europa sind Arbeiter und Jugendliche von der EU und ihren nationalen Regierungen tief enttäuscht und voller Wut. Nur sechs Monate vor dem italienischen Referendum haben die Wähler in Großbritannien für einen Austritt aus der EU gestimmt, obwohl ihre konservative Regierung sich für den Verbleib in der EU eingesetzt hatte. Jetzt hat eine Abstimmung in einer weiteren großen Wirtschaftsnation Europas und noch dazu in einem wichtigen Euro-Land, sich gegen die EU und gegen eine EU-freundliche Regierung entschieden.
Die große Gefahr für die Arbeiterklasse besteht jedoch darin, dass bislang hauptsächlich solche Parteien den Widerstand gegen das italienische Referendum für sich vereinnahmen, die einen aggressiven Nationalismus vertreten.
Der italienische Staatspräsident Sergio Mattarella wird heute wohl Renzis Rücktritt annehmen. Angesichts des Resultats des Referendums ist es unwahrscheinlich, dass Mattarella Renzi drängen wird, seine Entscheidung zu überdenken.
Danach wird sich der Präsident mit Staats- und Parteiführern treffen, um die Möglichkeit einer neuen Mehrheitsregierung abzuklopfen. Obwohl die PD sich auf eine Mehrheit in der Abgeordnetenkammer stützen kann, ist der Ausgang ungewiss, da die PD selbst seit Monaten tief zerstritten ist.
Diese innerparteiliche Zerrissenheit trat vor dem Referendum deutlich in Erscheinung. Der Ex-Stalinist und frühere Ministerpräsident Massimo D’Alema trat öffentlich gegen Renzis Verfassungsreform auf. Dabei sind seine Differenzen rein taktischer Natur und drehen sich nur um die Frage, wie man die soziale Unzufriedenheit am besten in den Griff bekommen und arbeiterfeindliche Maßnahmen durchsetzen kann.
Zwar könnte Mattarella einen anderen Politiker aus den Reihen der Demokraten mit der Regierungsbildung beauftragen. Es wäre jedoch ein riskanter Schritt, der soziale Unruhen provozieren könnte, denn in den vergangenen fünf Jahren gab es schon mehrere ungewählte Technokraten-Regierungen, und sie waren alle höchst unpopulär. Sie hatten alle die Aufgabe, die Arbeiter im Interesse der Banken und Konzerne anzugreifen.
Wenn Mattarella mit seinen Absprachen keine Mehrheit zustande bringt, könnte der Präsident beide Kammern, sowohl das Abgeordnetenhaus als auch den Senat, auflösen und vorgezogene Neuwahlen ausrufen. Das ist die Forderung der meisten rechten Parteien. Sie stützen sich auf die Ablehnung des Referendums und wollen sie nach besten Kräften für ihre rechten Ziele ausnutzen.
Das Fehlen einer echten Opposition links von der PD ermöglicht es den rechten Kräften, sich demagogisch und zu Unrecht als Verteidiger der Unterdrückten und Ausgebeuteten in Szene zu setzen.
Beppe Grillo, der Führer der rechten Fünf-Sterne-Bewegung (M5S), jubelte: „Die Demokratie hat gewonnen … Die Italiener müssen so rasch wie möglich zur Wahl gerufen werden.“ Angeblich um einer Neuwahl und einer neuen Regierung keine Steine in den Weg zu legen, erklärte Grillo, er ziehe seine Kritik an dem Wahlrecht „Italicum“ zurück, um „eine weitere Technokraten-Regierung à la Monti“ zu verhindern. Die Fünf-Sterne-Bewegung kann damit rechnen, von vorgezogenen Neuwahlen am stärksten zu profitieren. Wenn sie vierzig Prozent erreicht, würden ihr nach dem „Italicum“ 54 Prozent aller Sitze im Abgeordnetenhaus zustehen.
Giorgia Meloni, die Führerin der faschistischen Fratelli d’Italia, vermischte ähnliche Forderungen mit einer populistischen Rhetorik: „Es muss jetzt sehr rasch Neuwahlen geben… Die Italiener wollen eine Regierung, die nicht aus Hinterzimmer-Absprachen mit den Großkonzernen hervorgeht, sondern das Ergebnis einer Volksbefragung ist. Eine vierte nicht gewählte Regierung ist nicht zu akzeptieren.“
Ähnlich brüstete sich Matteo Salvini, Führer der chauvinistischen Lega Nord, mit einem „Sieg des Volkes gegen die Machthaber in drei Vierteln der Welt. Keine Kuschelregierung! Sofortige Neuwahlen!“
Renato Brunetta von der Forza Italia schlug versöhnlichere Töne an: „Die PD hat die Parlamentsmehrheit und hat die Pflicht, eine neue Regierung zu bilden, aber ohne Renzi.“
Die Pseudolinke feierte das „Nein“-Votum ebenfalls, versicherte aber gleichzeitig, dass sie weiterhin versuchen werde, die Opposition der Bevölkerung zu kontrollieren und eine unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse zu verhindern.
Nichi Vendolas Partei SEL (Linke, Ökologie, Freiheit) kritisierte Renzi heuchlerisch für seine arbeiterfeindliche Politik (nachdem sie seinen Aufstieg zum Ministerpräsidenten damals unterstützt hatte). Vendola ließ seine Bereitschaft erkennen, den Widerstand der Bevölkerung in der Sackgasse einer pseudolinken Bewegung aufzufangen: „Die Schubkraft des Renzitums hat sich erschöpft. Heute ist ein großer Tag für einen Neustart der Linken.“
Im Zentrum der internationalen Märkte steht jetzt natürlich die Krise der italienischen Banken. Mit dem „Nein“-Votum ist ein Versuch gescheitert, harte Umstrukturierungsmaßnahmen durchzusetzen. Damit sollten kleine Banken eliminiert und letztlich die gesellschaftliche Stellung der Arbeiterklasse geschwächt werden.
Nun ist Monte dei Paschi di Siena (MPS), die älteste Bank der Welt, akut gefährdet. Katar und amerikanische Investoren hatten angekündigt, den Ausgang des Referendums abzuwarten, ehe sie als „Ankerinvestoren“ fungieren und eine Kapitalspritze von anderthalb Milliarden Euro garantieren wollten. Geht MPS Bankrott, könnte dies eine größere Krise im italienischen Bankensystem und in der ganzen Eurozone auslösen.