Die Spannungen zwischen Washington und Moskau sind so scharf wie während des Kalten Krieges. Vor diesem Hintergrund hielt der russische Präsident Wladimir Putin letzte Woche im Waldai-Klub in Sotschi eine Rede, in der er die USA heftig kritisierte. Das russische Staatsoberhaupt erklärte, Washingtons Hegemonialstreben und sein Kurs gegen Russland habe die globale Ordnung destabilisiert. Dennoch redete er die ganze Zeit über bewusst von seinen „Partnern“ im Westen.
Im Rahmen seiner Rede richtete Putin sinnlose Appelle an die Vereinten Nationen und lobte das Prinzip der nationalen Souveränität. Er machte deutlich, in welch prekäre Lage sich die herrschende Elite Russlands befindet und, dass sie unfähig ist, Washingtons Kriegskurs auf fortschrittliche Art entgegenzutreten.
Der russische Präsident begann seine Rede vor den versammelten Politikexperten, Regierungsfunktionären, Journalisten und Akademikern mit der Erklärung, es habe sich seit seinem letzten Auftritt vor dem Forum„nichts geändert“.
Die Auflösung der Sowjetunion erwähnte er nicht direkt, geschweige denn die Rolle, welche die sozialen Kräfte an deren Spitze er heute steht, bei der Wiedereinführung der kapitalistischen Marktwirtschaft gespielt haben. Allerdings sah er sich gezwungen, die Folgen dieses Ereignisses zu erwähnen: „Einige Länder sahen sich als die Sieger des Kalten Krieges“ und hätten versucht, „die ganze Welt ihren eigenen Organisationen, Normen und Regeln zu unterwerfen“ und „nur für sich selbst den Weg der Globalisierung und der Sicherheit“ gewählt.
Weiter erklärte er, dies habe u.a. zu „Luftangriffen auf Belgrad mitten in Europa geführt“. Den Kosovokrieg unter Führung der USA 1999 bezeichnete er als kriminelle Operation, die den Weg für die späteren Verstöße gegen das Völkerrecht in Afghanistan, dem Irak und Libyen bereitet hätte.
Putin warf den USA vor, sie bauten terroristische Organisationen auf und bewaffneten sie, die die Welt ins Chaos gestürzt hätten. Er fügte hinzu, die USA spielten ein „gefährliches Spiel“, wenn sie diese Kräfte weiterhin versorgten und ausbildeten.
Er wies auf die Scheinheiligkeit der amerikanischen Entscheidungsträger hin: „Wenn die herrschenden Mächte heute glauben, ein Standard oder eine Norm sei vorteilhaft für sie, zwingen sie sie allen anderen auf. Aber wenn ihnen morgen die gleichen Standards im Weg sind, lassen sie sie schnell fallen, erklären sie für veraltet und denken sich neue Regeln aus.“
Putin klagte, trotz seiner „persönlichen Abmachungen“ mit US-Präsident Barack Obama „gibt es in Washington Personen, die bereit sind, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um zu verhindern, dass diese Abmachungen in der Praxis umgesetzt werden.“
Er äußerte sich frustriert über die ständigen Hinweise auf die „militärische Bedrohung durch Russland“ und erklärte: „Das ist eine lukrative Methode, um mehr Geld in den Verteidigungsetat zu pumpen, Verbündete den Interessen einer einzigen Supermacht zu unterwerfen, die Nato zu vergrößern und ihre Infrastruktur, Militäreinheiten und Waffen näher an unsere Grenze zu bringen.“
Er fuhr fort: „Russland hat nicht die geringste Absicht, irgendjemanden anzugreifen. Das ist alles völlig absurd.“ Er wies darauf hin, dass Russland nur eine Bevölkerung von 146 Millionen Menschen hat, die Nato-Staaten hingegen zusammen 600 Millionen Menschen.
Die Vorwürfe, Russland mische sich in die amerikanische Präsidentschaftswahl ein, bezeichnete Putin als „Hysterie“ und „ein weiteres erfundenes und imaginäres Problem.“ Er stellte die rhetorische Frage: „Glaubt irgendwer ernsthaft, Russland könnte das Wahlverhalten der Amerikaner beeinflussen? Amerika ist schließlich nicht irgendeine Bananenrepublik, sondern eine Großmacht.“
Er argumentierte, der antirussische Kurs solle die amerikanische Bevölkerung von den innenpolitischen Problemen des Landes ablenken, u.a. von dem massiven Anstieg der Staatsschulden, „willkürlichem Verhalten der Polizei“ und einem „ausgehöhlten“ politischen System.
Über die aktuellen Wahlen in den USA erklärte Putin abfällig, sie bestünden aus „nichts weiter als Skandalen und Verleumdungen.“ Später fügte er hinzu: „Und wenn man sich die Programme der Kandidaten anschaut, hat man eigentlich den Eindruck, sie wären alle aus dem gleichen Guss. Wenn es überhaupt Unterschiede gibt, dann sind sie geringfügig.“
Er erklärte: „Die Menschen merken, dass zwischen ihren Interessen und der Vorstellung der Elite vom einzig richtigen Weg - den die Elite natürlich selbst wählt - eine immer größere Kluft besteht. Das führt dazu, dass sich Referenden und Wahlen immer öfter zu Überraschungen für die Mächtigen entwickeln.“
Er fuhr fort, das politische Establishment käme mit dieser neuen Realität nicht zurecht. Daher behaupte es, dass „die Gesellschaft die Machthaber nicht versteht und noch nicht reif genug sei, damit die Früchte ihrer Arbeit zum allgemeinen Wohl genutzt werden können ... Oder sie versinken in Hysterie und behaupten, es wäre das Ergebnis ausländischer, meist russischer, Propaganda.“
Weiter erklärte er: „Freunde und Kollegen, ich hätte gerne eine solche Propagandamaschinerie in Russland, aber leider habe ich sie nicht. Wir haben nicht einmal internationale Medien, die es mit CNN, BBC, etc. aufnehmen können.“
Die amerikanische Presse berichtete nur sehr spärlich über Putins Rede. Seine Äußerungen wurden nur als Munition gegen Trumps Wahlkampf im Stil der McCarthy-Ära benutzt. Die Washington Post veröffentlichte am 31. Oktober einen Leitartikel mit dem Titel „Trump und Putin verbindet ein beängstigendes Weltbild.“
In Kommentaren wurden die Äußerungen des russischen Präsidenten als Absurditäten abgetan. Die Post schrieb: „Für jedes Verbrechen seines Kreml hatte Putin einen Vergleich mit einem angeblich identischen Verbrechen der amerikanischen 'herrschenden Klasse' parat, wie er es formulierte.“
Putins Rede ist ein Ausdruck der objektiven Krise der herrschenden kapitalistischen Oligarchie in Russland. Angesichts des unablässigen militärischen und wirtschaftlichen Drucks der USA, der Europäischen Union und der Nato sieht sich der Kreml-Chef zu gewissen zutreffenden Beobachtungen über die allgemeine Lage zu machen. Allerdings tut er das vom Standpunkt einer geschwächten und korrupten herrschenden Klasse, die verzweifelt nach einem Ausweg aus der selbst verursachten Katastrophe sucht.
Die Oligarchen und Geheimdienste, in deren Namen Putin regiert, waren für die Wiedereinführung des Kapitalismus in den späten 1980ern und 1990ern verantwortlich. Die stalinistische Bürokratie war zunehmend frustriert über die Einschränkungen ihrer Macht und ihrer Privilegien, und sie fürchteten den wachsenden Widerstand der russischen Arbeiterklasse. Daher verwandelten sie sich in die neue herrschende Klasse, indem sie sich das Vermögen aneigneten, das in der Sowjetzeit aufgebaut wurde, und beseitigten die letzten Überreste der Errungenschaften der Russischen Revolution.
Diese Konterrevolution wurde von der Bürokratie nicht nur als eine neue Form von „sozialer Gerechtigkeit“ dargestellt, sondern auch als der Beginn einer neuen Ära der „gemeinsamen Entwicklung, Schöpfung und der Kooperation,“ wie es der damalige Premier Michail Gorbatschow formulierte. 1990 erklärte Gorbatschow beim letzten Kongress der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, die „Einbeziehung unserer nationalen Wirtschaft in die Weltwirtschaft“ sei notwendig für den gemeinsamen Aufbau der materiellen Grundlagen einer unweigerlich friedlichen Periode der Geschichte mit anderen Völkern, und für die Lösung der globalen Probleme der Menschheit.“
Das alles hat sich als illusorisch erwiesen. In Wirklichkeit betrachtet Washington Russland als unannehmbares Hindernis bei der Ausbeutung Eurasiens und auf dem Weg zur Kontrolle über die eurasische Landmasse. Die herrschende Elite in Moskau ist jetzt mit den Folgen ihrer eigenen Dummheit und Blindheit konfrontiert.
Putin versucht zwar, Washingtons Politik nach dem Kalten Krieg als einen unvorhersehbaren und unerwarteten Verrat der Prinzipien des Weltfriedens und der Gleichheit unter Nationen darzustellen, aber das Vorgehen der USA war absolut vorhersehbar. Leo Trotzki, der gemeinsam mit Lenin die Russische Revolution angeführt und nach dessen Tod die sozialistische Opposition gegen Stalin angeführt hatte, schrieb 1929: „Ein kapitalistisches Russland könnte heute nicht einmal die drittrangige Position einnehmen, die dem zaristischen Russland durch den Verlauf des Krieges vorherbestimmt war. Der russische Kapitalismus von heute wäre ein abhängiger, halbkolonialer Kapitalismus ohne jede Perspektive. Das neue Russland würde eine Stellung irgendwo zwischen dem alten Russland und Indien einnehmen.“
Angesichts dieser unmöglichen Lage versucht der Kreml, seine Herrschaft durch Nationalismus und Populismus zu verbessern. Der russische Präsident wandte sich in seiner Rede im Waldai-Klub gegen „ideologische Ideen, die ... unsere kulturelle und nationale Identität zerstören“, und hob stattdessen Russlands „Identität, Freiheit und Unabhängigkeit“ hervor. Nationale Souveränität bezeichnete er als die „zentrale Grundlage des ganzen Systems internationaler Beziehungen.“
Mit der Forderung nach „Souveränität“ meint Putin das souveräne Recht des russischen Kapitalismus, seine eigene Bevölkerung auszubeuten. Ähnlich wie rechte Politiker in den USA, Frankreich, Großbritannien und anderen Ländern versucht er, die Wut der Bevölkerung über die katastrophalen wirtschaftlichen Bedingungen zu bändigen und in nationalistische Kanäle zu lenken.
Putin regiert über eine Gesellschaft mit extrem hoher sozialer Ungleichheit und wachsender Unzufriedenheit. Etwa 36 Prozent der russischen Haushalte können ihre wichtigsten Lebenshaltungskosten nicht decken. Die Statistikbehörde WTsIOM verzeichnete einen massiven Rückgang der Unterstützung der Regierung in der Bevölkerung gegenüber auf nur noch 26 Prozent, d.h. auf das niedrigste Niveau seit fünf Jahren.
Der Kreml schwankt zwischen dem Versuch, sich mit den USA zu einigen, machtlosen Appellen an die Vereinten Nationen und militärischen Abenteuern.
Putin sprach in seiner ganzen Rede immer von seinen „Partnern“ im Westen und erklärte: „Es ist meine feste Überzeugung, dass wir diese Bedrohungen und Herausforderungen nur bewältigen können, wenn wir auf der soliden Grundlage des Völkerrechts und der Charta der Vereinten Nationen zusammenarbeiten. Die Vereinten Nationen sind heute noch immer eine Organisation, deren repräsentativer Charakter und Allgemeingültigkeit beispiellos sind, ein einzigartiger Ort für gleichberechtigten Dialog.“
Weniger als vierundzwanzig Stunden nach dieser Rede wurde Russland aus dem UN-Menschenrechtsrat gewählt. Dieser historisch beispiellose Vorgang war Teil der Versuche der USA, Russland und das Putin-Regime für seine Intervention in den Krieg in Syrien zur Unterstützung des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad zu kriminalisieren. Moskaus Militärintervention seit September 2015 behindert Washingtons Ziel, das Regime in Damaskus zu stürzen und eine Marionettenregierung an die Macht zu bringen.
Die von Russland unterstützte Offensive der syrischen Regierung gegen Aleppo könnte zur Vertreibung der regierungsfeindlichen und Al Qaida-nahen islamistischen Kräfte aus dem Ostteil der Stadt führen, die von der CIA und Washingtons regionalen Verbündeten bewaffnet und unterstützt wurden, u.a. von Saudi-Arabien, Katar und der Türkei. Angesichts einer drohenden Niederlage der „Rebellen“ hat sich Washington an die Spitze einer Propagandakampagne gestellt, die Russland als „Schurkenstaat“ darstellt und ihm Kriegsverbrechen vorwirft.
Nachdem die UN Russland gehorsam aus ihrem irreführenderweise Menschenrechtsrat genannten Gremium gewählt hatten, wurde dafür das despotische saudische Regime aufgenommen, das Anfang des Monats ein Massaker mit über 140 toten Zivilisten angerichtet hatte, als es eine Trauerfeier in der Hauptstadt des Jemen bombardierte.
Der kriminelle Charakter des Putin-Regimes und seiner Politik wurde deutlich, als der russische Präsident die USA bei seiner Rede in Sotschi aufforderte, sich an einer effektiveren „Antiterror“-Kampagne zu beteiligen und dabei Israel als Vorbild für die Durchführung eines solchen Vorhabens nannte.
Der Kreml betrachtet Russlands Atomarsenal als sein stärkstes Verteidigungsmittel. In den russischen Medien wird regelmäßig über die Möglichkeit eines „heißen“ Kriegs diskutiert. Anfang Oktober veranstaltete das Putin-Regime Zivilschutzübungen, an denen 40 Millionen Menschen teilnahmen, darunter 200.000 Rettungskräfte. Derartige Übungen finden bereits seit 2012 statt. Dass sich der russische Kapitalismus in der Sackgasse befindet, könnte kaum besser dargestellt werden als durch die Tatsache, dass sein letzter Ausweg die Möglichkeit ist, Millionen Menschen in einem nuklearen Holocaust zu ermorden.