Akte Rosenburg: Das Bundesjustizministerium war ein Hort ehemaliger Nazis

Es ist seit langem bekannt, dass nach dem Zweiten Weltkrieg kaum ein Richter oder Staatsanwalt des Nazi-Regimes für seine grausamen Urteile und die Anwendung der Rassengesetze zur Rechenschaft gezogen wurde. Nahezu alle konnten ihre juristischen Karrieren in der Bundesrepublik nahtlos fortsetzen.

Nun zeigt sich deutlicher warum. Das Justizministerium der Bundesrepublik (BMJ) war bis in die 1970er Jahre hinein ein Hort ehemaliger NSDAP-Mitglieder. Sie übten entscheidenden Einfluss auf die Rechtsprechung, die Gesetzgebung und die Besetzung von Richter- und Staatsanwaltsstellen aus. Sie sorgten dafür, dass Zehntausende NS-Täter einer Strafverfolgung entgingen und ihre früheren Parteigenossen amnestiert und in führende Positionen gehievt wurden. Und sie stellten sicher, dass die überlebenden Opfer ihrer Rechtsprechung im Dritten Reich im Kampf um ihre Rehabilitierung und um Entschädigung auf massive Hindernisse stießen

Am Montag wurde in Berlin im Beisein von Bundesjustizminister Heiko Maas der Abschlussbericht einer Unabhängigen Wissenschaftlichen Kommission zur NS-Vergangenheit des BMJ, „Die Akte Rosenburg“, vorgestellt.

Die Kommission unter Leitung des Historikers Manfred Görtemaker und des Juristen Christoph Safferling war 2012 von der damaligen Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ins Leben gerufen worden, die zur Vorstellung des Berichts nach Berlin kam. Vier Jahre lang hatte sie eine Vielzahl Quellen und Personalakten des Ministeriums und des Bundesgerichtshofs aus der Zeit von 1949 bis 1973 erforscht, als das Ministerium seinen Sitz in der Landvilla „Rosenburg“ bei Bonn hatte.

Sowohl personell als auch sachbezogen kommt die Kommission zum Schluss, dass der viel beschworene Bruch auf dem Gebiet der Justiz 1945/46 bis in die 1970er Jahre hinein nicht stattfand. Die massive Anzahl ehemaliger NSDAP-Mitglieder in der Leitungsebene, die bereits unter dem Hitler-Regime hohe Posten bekleidet hatten, habe sie selbst überrascht, so die Wissenschaftler.

Nach der Gründung des BMJ 1949 gab es kaum Bemühungen, Richter und Staatsanwälte zu berufen, die von den Nazis als Juden oder politische Gegner entlassen oder verfolgt worden waren. Stattdessen bediente sich das Ministerium der Netzwerke ehemaliger Nazi-Juristen und begründete dies mit der erforderlichen „juristischen Erfahrung“.

Von den 170 untersuchten Personen im Leitungspersonal – Abteilungsleiter, Unterabteilungsleiter und Referatsleiter (damals Referenten genannt) – hatten 53 Prozent der NSDAP angehört. Jeder fünfte war sogar Mitglied der Schlägertruppe SA gewesen, viele waren zuvor im Reichsjustizministerium oder anderen Ministerien des NS-Regimes tätig gewesen. Im Verlauf der fünfziger Jahre stieg der Prozentsatz sogar noch an und erreichte 1957 mit 77 Prozent NSDAP-Mitgliedern und 33 Prozent SA-Mitgliedern einen Höhepunkt. Erst Ende der sechziger Jahre gingen diese Zahlen nach bisherigen Erkenntnissen leicht zurück. Dabei gebe es noch eine „große Dunkelziffer“, so Manfred Görtemaker am Montag.

Es gab damit in der Leitungsebene des BMJ mehr Nazis als in anderen Ministerien und Bundesbehörden, für die bereits in den vergangenen Jahren Forschungsergebnisse veröffentlicht wurden – wie das Auswärtige Amt (2010), das Bundeskriminalamt (2011), der Bundesverfassungsschutz (2015) und das Bundesinnenministerium, für das in einer 2015 vorgelegten Vorstudie 66 Prozent NS-Belastung festgestellt wurde.

Zu den skandalösesten Fällen, die der Abschlussbericht über das BMJ aufdeckt, gehören:

* Franz Massfeller, vor 1945 im Reichsjustizministerium für Familien- und Rasserecht zuständig, Teilnehmer an den Folgebesprechungen zur Wannsee-Konferenz und Kommentator des Blutschutzgesetzes. Von 1945 bis 1960 war er Ministerialrat im BMJ und Referatsleiter Familienrecht.

* Eduard Dreher, vor 1945 Erster Staatsanwalt am Sondergericht Innsbruck und an zahlreichen Todesurteilen wegen Nichtigkeiten beteiligt. Von 1951 bis 1969 war er im BMJ tätig, zuletzt als Ministerialdirigent, und schrieb sogar den Kommentar zum Strafgesetzbuch.

* Ernst Kanter, vor 1945 „Generalrichter“ im besetzten Dänemark, wo er an 103 Todesurteilen mitwirkte. Von 1949 bis 1958 war er Ministerialdirigent im BMJ.

* Josef Schafheutle, vor 1945 im Reichsministerium der Justiz zuständig für politisches Strafrecht und nach 1949 Ministerialdirektor und Leiter der Abteilung II (Strafrecht) im BMJ.

* Walter Roemer, vor 1945 Erster Staatsanwalt am Landgericht München I, wo er in die Hinrichtungen von Widerstandskämpfern im Gefängnis Stadelheim verwickelt war. Nach 1949 Ministerialdirektor und Leiter der für Grund- und Menschenrechte zuständigen Abteilung Öffentliches Recht im BMJ.

* Hans Gawlik, vor 1945 Staatsanwalt am Sondergericht Breslau, Beteiligter an zahlreichen Todesurteilen, nach 1945 Verteidiger des SS-Sicherheitsdiensts (SD) und einiger Einsatzgruppenführer in den Nürnberger Prozessen und nach 1949 Leiter der Zentralen Rechtsschutzstelle im BMJ. Diese warnte sogar deutsche Kriegsverbrecher vor Strafverfolgung im Ausland und erschwerte die Arbeit der Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen.

* Max Merten, von 1942 bis 1944 Kriegsverwaltungsrat beim Befehlshaber der Wehrmacht in Thessaloniki, wo er die Ausplünderung und Deportation von mehr als 50.000 griechischen Juden mit organisierte. Obwohl er damit zu den größten Kriegsverbrechern zählte, leitete er 1952 im BMJ einige Monate lang das Referat „Zwangsvollstreckung“.

Manfred Görtemaker führt die Einstellung der alten Nazis im Bundesjustizministerium auf die „unglaubliche Kommunistenhetze“ unter der Adenauer-Regierung zurück. „Antikommunismus war das Klebemittel“ zwischen der Justiz der Bundesrepublik und der NS-Diktatur. „Bei den Einstellungen konnte man auch Nazi sein, Hauptsache Antikommunist.“

Die Folgen für die Gesetzgebung nach dem Krieg waren fatal, so die beiden Wissenschaftler. Christoph Safferling erläuterte dies am Fall Eduard Dreher. Der NS-Staatsanwalt war eine Schlüsselfigur in der Verjährungsdebatte. Im Zusammenhang mit der Einführung eines „Ordnungswidrigkeitengesetzes“ 1968 sorgte er für eine rückwirkende Verkürzung der Verjährung von 20 auf 15 Jahre für so genannte Beihilfetaten, auch als „kalte Verjährung“ bekannt.

Dies sei eine „groß angelegte Aktion“ gewesen, sagte Safferling, um NS-Schreibtischtäter zu entlasten. Tausende von NS-Tätern, denen Beihilfe zum Mord vorgeworfen wurde und deren Verfahren bereits begonnen hatten, gingen damit straffrei aus, weil ihre Taten nun schon 1960 verjährt waren. Dazu gehörten unter anderen die Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes, deren Prozess erst 1968/1969 begann.

Auch in anderen Bereichen der Gesetzgebung wurde die Handschrift der Nazi-Justiz aufrechterhalten, wie beim Jugendstrafrecht, beim Familien- und Sexualstrafrecht und der Diskriminierung von Minderheiten wie Roma und Sinti oder Homosexuellen.

Ein besonderes Augenmerk richteten Bundesjustizminister Maas und Christoph Safferling am Montag auf ein geheimes Kriegsbuch mit Notverordnungen, das das Bundesjustizministerium zu Beginn der Debatte um die Notstandsgesetze ausgearbeitet hatte. Die Notstandsgesetze wurden letztlich 1968 von einer großen Koalition von CDU und SPD gegen heftigen Widerstand durchgesetzt. Sie enthielten Regelungen zur Einschränkung der Grundrechte bei einem militärischen Angriff, bei Katastrophen und bei einem „inneren Notstand“. Das Grundgesetz hatte derlei Notstandsregelungen aufgrund der Erfahrungen mit dem Ermächtigungsgesetz der Nazis nicht enthalten.

Wie „Die Akte Rosenburg“ detailliert aufzeigt, hatten die Beamten des Bundesjustizministeriums schon 1959 auf eine entsprechende Aufforderung der Regierung reagiert und in wenigen Tagen 45 Notverordnungen erstellt, die vorerst in der Schublade blieben. Die „erfahrenen“ NS-Juristen schlugen gravierende Einschnitte in die Gerichtsverfassung vor, die den Weg zu Ausnahmegerichten geebnet und die berüchtigte Schutzhaft der NS-Zeit wieder eingeführt hätten. Unter anderem stützten sie sich dabei auf die Kriegswirtschaftsverordnung von 1942.

„Ministerialdirektor Schafheutle ging bei seinen Planungen sogar von durch deutsche Truppen besetzten Gebieten aus“, unterstrich Christoph Safferling am Montag die braune Kontinuität der BMJ-Verordnungen. Das geheime „Kriegsbuch“ sei ein glatter Verfassungsbruch gewesen.

Die Fakten zum „geheimen Kriegsrecht“ hätten ihn „besonders betroffen“ gemacht, erklärte dazu am Montag Bundesjustizminister Maas und verwies auf heutige Gefahren für „Demokratie und Freiheit auch in demokratisch verfassten Ländern“.

Allerdings bezog er sich nicht auf die jüngsten Notfallpläne des Bundesinnenministeriums für einen künftigen Krieg in Europa, die Rückkehr zu einer aggressiven deutschen Außenpolitik und die Planungen für einen Bundeswehreinsatz im Innern; er zeigte stattdessen mit dem Finger auf die USA. Die „Exzesse bei der Terrorismusbekämpfung“ nach den Anschlägen vom 11. September, die bis zur Folter reichten, hätten ein regelrechtes „Feindstrafrecht“ gegen verdächtige Terroristen geschaffen.

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