Perspektive

75 Jahre seit dem Nazi-Überfall auf die Sowjetunion

Heute vor 75 Jahren, am frühen Morgen des 22. Juni 1941, startete Nazi-Deutschland das „Unternehmen Barbarossa“, eine umfassende, nicht angekündigte Invasion der Sowjetunion. Im Verlauf der Operation griffen etwa vier Millionen Soldaten der Achsenmächte die UdSSR auf einer Länge von 2900 Kilometern an. Das war die größte Invasionsarmee der Kriegsgeschichte.

Die deutsche Regierung hatte das Unternehmen Barbarossa ausdrücklich als Vernichtungskrieg geplant. Sein Ziel war nicht einfach die Eroberung des Territoriums und die Inbesitznahme menschlicher und natürlicher Reichtümer, sondern die physische Vernichtung der Sowjetunion und das Ausrotten sämtlicher Spuren der Russischen Revolution von 1917.

Der Krieg gegen die Sowjetunion brachte das historische und politische Wesen des Nazi-Regimes an den Tag. Die deutsche Bourgeoisie hatte es an die Macht gebracht, um die Arbeiterbewegung zu zerstören und die Gefahr der sozialistischen Revolution ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Aber in einem tieferen Sinn drückte der Krieg gegen die Sowjetunion die Reaktion des Weltimperialismus und der internationalen Kapitalistenklasse auf die Krise ihres Systems und auf das Erstarken des revolutionären Marxismus aus.

Es ist bekannt, dass die westlichen imperialistischen Mächte und kapitalistischen Regierungen in den Jahren vor der deutschen Invasion das despotische Hitler-Regime mit Wohlwollen betrachteten und hofften, es werde zumindest anfänglich seine Militärmacht gen Osten richten und als Waffe für die Zerstörung der UdSSR dienen.

In seinem 2011 erschienenen Buch „Ostkrieg. Hitlers Vernichtungskrieg im Osten“ fasste der Historiker Stephen G. Fritz die Motive der Nazis für die Invasion folgendermaßen zusammen:

„Im Gegensatz zur Ansicht vieler Experten im Westen war der Krieg im Osten kein Fehler Hitlers. Für ihn war der Krieg gegen die Sowjetunion immer der ‚richtig Krieg‘, weil für ihn Deutschlands Schicksal vom ‚Lebensraum im Osten‘ und von der Lösung der ‚Judenfrage‘ abhing. Beide Themen waren nicht von der Zerstörung der Sowjetunion zu trennen. Welches dieser Ziele war das wichtigere? Von Hitlers Standpunkt aus war es müßig, einem der beiden den Vorrang zu geben oder sie voneinander zu trennen. Für ihn waren der Krieg gegen den ‚jüdischen Bolschewismus‘ und der ‚Krieg für Lebensraum‘ ein und dasselbe.“ [aus dem Englischen]

Dieses politische und historische Ziel bestimmte den Charakter des deutschen Kriegs im Osten und die Methoden, die dabei zum Einsatz kamen. Von Anbeginn und mit voller Absicht entfesselte die deutsche Wehrmacht eine Brutalität, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Bis zu drei Millionen Russen, hauptsächlich Zivilisten, wurden in den ersten drei Monaten der Invasion getötet.

Der „Generalplan Ost“, der 1940 beschlossen wurde, beinhaltete einen „Hungerplan”, der im Westen und Nordwesten Russlands die absichtliche, gezielte Ermordung von dreißig Millionen Menschen, d.h. von achtzehn Prozent der Sowjetbevölkerung, durch Verhungern vorsah.

Auf Befehl Hitlers und des Generalstabs wurden alle Grundprinzipien des internationalen Kriegs- und Völkerrechts außer Kraft gesetzt. Der schon vor der Invasion erlassene „Kommissarsbefehl“ verfügte: „In diesem Kampf ist Schonung und völkerrechtliche Rücksichtnahme diesen Elementen gegenüber falsch … Die Urheber barbarisch asiatischer Kampfmethoden sind die politischen Kommissare … Sie sind daher, wenn im Kampf oder Widerstand ergriffen, grundsätzlich sofort mit der Waffe zu erledigen.“

Mit folgenden Worten instruierte General Erich Hoepner die 4. Panzergruppe: „Der Kampf muss das Ziel verfolgen, das heutige Russland zu vernichten. Er muss daher mit beispielloser Härte geführt werden … keine Anhänger des heutigen russisch-bolschewistischen Systems dürfen davonkommen.“

Die Invasion Russlands hatte den Charakter eines Völkermords. Sie markierte eine neue Phase des Holocausts, der die systematische Vernichtung des europäischen Judentums bedeutete. Die

Wannseekonferenz, auf der die „Endlösung“ beschlossen wurde, fand sieben Monate nach Beginn von Barbarossa statt.

Die fast vollständige Vernichtung der Juden in allen eroberten Territorien begann mit den ersten Tagen des Unternehmens Barbarossa. In den baltischen Sowjetrepubliken wurde eine große Mehrheit der jüdischen Bevölkerung innerhalb der ersten sechs Monate der Invasion umgebracht. Die Todesschwadronen der „Einsatzgruppen“ ermordeten mehr als eine Million sowjetischer Juden.

Bis heute ist die Zahl der zivilen Opfer der Sowjetunion nicht eindeutig geklärt. Aber meistens wird von einer Zahl von achtzehn Millionen Menschen ausgegangen. Insgesamt kamen 27 Millionen Sowjetbürger im Krieg ums Leben.

Der Krieg begann fast zwei Jahre nach Unterzeichnung des Nichtangriffspakts im August 1939, mit dem Hitler und Stalin den Weg für den deutschen Überfall auf Polen und den Beginn des Zweiten Weltkriegs frei gemacht hatten. Dieser Pakt hatte die internationale Arbeiterbewegung der Orientierung beraubt. Zwei Jahre zuvor war es im Großen Terror von 1937–1938 schon zur Säuberung der Roten Armee gekommen. Dieses historisch beispiellose Massaker an Offizieren der Roten Armee am Vorabend eines großen Krieges machte die Sowjetunion äußerst verwundbar für einen deutschen Angriff. Stalin tötete mehr hohe Offiziere, als in den vier Jahren des darauf folgenden Kriegs umkamen.

Stalin eliminierte praktisch den gesamten Armeestab, der aus der Revolution und dem Bürgerkrieg von 1918 bis 1921 hervorgegangen war, und den Leo Trotzki, der zweite Führer der Russischen Revolution und Gründer und Chef der Roten Armee, in den Anfangsjahren ausgebildet hatte. Insgesamt wurden etwa 30.000 Offiziere exekutiert, darunter ein hoher Prozentsatz von Divisions-, Corps- und Armeekommandeuren.

Deutschland begann schon Monate vor der Invasion, Truppen und Material nahe der sowjetischen Grenze zu konzentrieren. Obwohl Stalin vom britischen Geheimdienst und von seinen eigenen Geheimdiensten gewarnt wurde, dass Hitler einen Angriff vorbereite, schob er den Wiederaufbau der Grenzverteidigung immer wieder hinaus.

Hinter Stalins Politik stand die Furcht der konterrevolutionären Bürokratie, das sowjetische Proletariat könnte sich gegen ihre Herrschaft erheben. Als Folge davon wurden die russischen Truppen schnell überwältigt, als die Wehrmacht die Grenze überschritt. In den ersten Wochen des Kriegs rückten die deutschen und alliierten Kräfte praktisch auf der gesamten Front mit atemberaubender Geschwindigkeit vor und besetzten, vor allem in der Ukraine, einige der wichtigsten Wirtschaftszentren der UdSSR. Stalin wurde völlig überrascht; er geriet in Panik und erlitt einen Nervenzusammenbruch. Erst am 3. Juli, das heißt elf Tage nach Beginn der Invasion, wandte er sich in einer Rede an die Nation.

Hitler hatte den Krieg unter der Voraussetzung begonnen, dass er ihn schnell gewinnen könne. Aber trotz des katastrophalen Versagens der stalinistischen Führung und der schrecklichen Verluste in den ersten Wochen, nahm der fast spontane Widerstand der Sowjetbevölkerung enorme Ausmaße und einen wirklich historischen Charakter an. Obwohl die Deutschen etwa 950 Kilometer vorgestoßen waren, Leningrad belagerten und fast in Sichtweite von Moskau gelangten, kam das deutsche Oberkommando in der Herbstmitte 1941 zur Einsicht, dass die Invasion gescheitert sei. Deutschland war offenbar in die Falle eines langen Kriegs geraten, den es nicht gewinnen konnte.

Im Dezember 1941 führte die Rote Armee einen verheerenden Gegenangriff, und die faschistischen Heere wurden zum ersten Mal zurückgeworfen. Das Scheitern der Operation Barbarossa war für die Geschicke des Dritten Reichs ein entscheidender Wendepunkt. Der Widerstand der Volksmassen in der Sowjetunion und der ungeheure Mut und die Opferbereitschaft der sowjetischen Bevölkerung legten Zeugnis ab für den welthistorischen Charakter und die progressive Bedeutung der Russischen Revolution und des durch sie an die Macht gebrachten ersten Arbeiterstaates. Daran änderten auch die Verbrechen und Plünderungen der herrschenden stalinistischen Clique nichts.

Der sowjetische Sieg, der bis zu seinem vollen Erfolg noch vier weitere Jahre Kampf und menschliches Leid erforderte, übte einen starken Einfluss auf die Arbeiterklasse in der ganzen Welt aus. Beim Sieg über den Faschismus spielte die immer noch vorhandene Stärke der Russischen Revolution die entscheidende Rolle. Die sowjetische Gegenoffensive inspirierte den Widerstand in allen von den Nazis besetzten Ländern Europas und weltweit.

Stephen G. Fritz fasste die entscheidende Rolle der Roten Armee und des Widerstands der sowjetischen Massen im oben genannten Werk folgendermaßen zusammen:

„Der Zweite Weltkrieg wurde nicht ausschließlich an der Ostfront gewonnen oder verloren. Aber dort lag der Schlüssel. Der Umfang der dortigen Kämpfe stellte alles im Westen in den Schatten. Im Rückblick ist das Ungleichgewicht erstaunlich: Ungefähr achtzig Prozent aller gefallenen deutschen Soldaten fielen im Osten … Die Rote Armee opferte etwa zwölf Millionen Menschen (d.h. etwa dreißigmal so viele wie die anglo-amerikanische Seite). Sie brach der Wehrmacht das Rückgrat.“ [aus dem Englischen]

Leo Trotzki stand damals an der Spitze des internationalen Kampfs zur Verteidigung und Ausdehnung der Russischen Revolution, gestützt auf das Programm der sozialistischen Weltrevolution. Niemand verstand die Bedeutung der Roten Armee besser als er. In einem Artikel von 1934 mit dem Titel „Die Rote Armee“ kommt er zum Schluss:

„Man muss die Tatsachen so nehmen, wie sie sind: Nicht nur ist ein Krieg nicht ausgeschlossen, er ist nahezu unvermeidlich. Wer im Buch der Geschichte lesen kann und bereit ist, das zu tun, wird vor allem eins verstehen: Sollte die Russische Revolution, die seit dreißig Jahren – seit 1905 – den ständigen Wechsel von Ebbe und Flut erlebt, gezwungen sein, ihren Strom in das Flussbett des Kriegs zu leiten, dann wird sie eine ungeheure und alles überwältigende Kraft entfalten.“

75 Jahre danach existiert die Sowjetunion nicht mehr. Die reaktionäre, nationalistische Bürokratie hat sie zerstört. Auch davor hatte Trotzki gewarnt. Die Auflösung der UdSSR 1991 war der Höhepunkt des Verrats und der Verbrechen des stalinistischen Regimes und ein schwerer Schlag für die internationale Arbeiterklasse.

In den letzten 25 Jahren hat die kapitalistische Restauration Russland weder Frieden noch Demokratie gebracht, sondern weltweit eine neue Periode imperialistischer Kriege und Reaktion eingeleitet. Für Russland selbst waren diese Jahre eine Zeit der totalen Katastrophe. Eine Triebkraft der Oktoberrevolution war die Tatsache, dass Russland, wäre es unter kapitalistischer Herrschaft verblieben, unweigerlich von den westlichen imperialistischen Mächten aufgeteilt und auf den Status einer Halbkolonie reduziert worden wäre. Heute ist Russland militärisch umzingelt: Die Vereinigten Staaten und ihre Nato-Partner setzen das Land politisch, wirtschaftlich und diplomatisch gnadenlos unter Druck. Das kapitalistische Russland ist heute unfähig, seine Angreifer zurückzuschlagen. Das Putin-Regime verkörpert die Rückkehr zu den bankrotten Formen des russischen Nationalismus und dient den Interessen einer kriminellen kapitalistischen Oligarchie.

Die Tatsache, dass die Sowjetunion von der Bühne abgetreten ist, hat die interimperialistischen Konflikte und den Militarismus wieder angeheizt. Heute ist der Imperialismus auf dem Weg zu einem neuen Weltkrieg.

Es ist bemerkenswert, wie wenig über diesen Jahrestag gesagt und geschrieben wird, der doch eins der größten Verbrechen des zwanzigsten Jahrhunderts darstellt. Das ist kein Zufall.

Seit einiger Zeit ist ein grausamer Geist des Revanchismus unter Politikern, Ideologen und akademischen Lakaien des Imperialismus zu spüren. Dies umso mehr, als sich der hundertste Jahrestag der Oktoberrevolution nähert. Bücher werden verfasst, Artikel geschrieben und Interviews gegeben, um den Nazikrieg gegen die Sowjetunion zu rechtfertigen und zu entschuldigen. In ihren Verleumdungen und historischen Fälschungen begnügen sich diese Schreiberlinge nicht damit, die Invasoren mit den Überfallenen gleichzusetzen. Sie stellen die Behauptung auf, die unsäglichen Verbrechen der Nazis seien nichts anderes als die berechtigte Reaktion auf das angeblich größte Verbrechen des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen: den Sturz des Kapitalismus in Russland.

Es ist der vorbeugende – und letztlich vergebliche – Versuch, die nächste Generation von Arbeitern und Jugendlichen daran zu hindern, erneut den revolutionären Kampf aufzunehmen. Ihm zum Trotz werden sie sich unter das Banner des Sozialismus stellen. Das größte Ereignis der modernen Geschichte, die Oktoberrevolution von 1917, wird sie inspirieren, und sie werden die wirklichen Lehren aus dem heroischen und tragischen Schicksal der Sowjetunion ziehen.

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