Am Sonntagabend trat der Führer des Allgemeinen Gewerkschaftsbunds CGT, Philippe Martinez, vor die Kameras einer Politiksendung von BFM-TV. Es ging um die Streikbewegung gegen die verhasste Arbeitsmarktreform der PS-Regierung, die sich immer weiter ausbreitet. Die Moderatorin Apolline de Malherbe, mehrere Journalisten und der PS-Abgeordnete Philippe Doucet setzten Martinez hart zu und griffen die Entscheidung der CGT an, gegen das verhasste Gesetz zum Streik aufzurufen.
Martinez ist in letzter Zeit um ein radikales Image bemüht. Vor zwei Wochen hatten die Jugendproteste und Streiks gegen das Gesetz der PS-Arbeitsministerin Myriam El Khomri begonnen, und seit zwei Wochen ruft die CGT dagegen zu Arbeitskämpfen auf. Martinez spricht davon, dass man die Streiks gegen das El-Khomri-Gesetz „generalisieren“ müsse. Aber sein Fernsehauftritt bestätigt einmal mehr, dass die CGT sich insgeheim zu Gesprächen mit der PS trifft, einen Deal mit ihr aushandelt und alles tut, damit die Regierung das Gesetz am Ende durchsetzen kann.
Das stellt die CGT-Bürokratie vor enorme Schwierigkeiten: Eine riesige Streikwelle baut sich auf, die das reale Potential eines Generalstreiks in Frankreich und ganz Europa in sich trägt. Präsident François Hollande, Premierminister Manuel Valls und der Generalsekretär der PS, Jean-Christophe Cambadélis, erlauben höchstens kosmetische Änderungen am Gesetz. Martinez‘ Erklärung lässt nur eine Schlussfolgerung zu: Wenn der Kampf gegen das Gesetz nicht verraten werden soll, dann müssen Arbeiter der CGT den Kampf aus der Hand nehmen und sich unabhängig von ihr organisieren.
Malherbe und ihre Gäste bemühten sich redlich, Martinez von rechts anzugreifen. Sie versuchten, jegliche Streiks und Proteste gegen das Gesetz in ein schlechtes Licht zu rücken. Provokativ hob Doucet ein Bild einer regionalen PS-Zentrale mit Einschusslöchern in die Höhe, die im Lauf einer Demonstration beschossen worden war. Er griff die CGT an und forderte Martinez hysterisch auf, sich von gewalttätigen Angriffen auf die PS zu distanzieren. Malherbe und der Journalist von Le Parisien verurteilten die CGT, weil sie mehrere Tageszeitungen bestreikt hatte, die sich geweigert hatten, einen Beitrag von Martinez zu veröffentlichen.
Der Kern von Martinez‘ Aussage waren mehrere Erklärungen, in denen er – verklausuliert aber unmissverständlich – zu verstehen gab, dass die CGT die PS-Regierung unterstützt und einen Deal anstrebt.
Martinez erklärte: „Manuel Valls hat mich am Samstagmorgen angerufen. Es ist doch besser, wenn sich der Premierminister nicht mehr so versteift und man zusammen reden kann. Seit zwei Monaten haben wir nichts von ihm gehört.“ Als die Journalisten ihn baten, der Öffentlichkeit mitzuteilen, was er mit Valls diskutiert habe, lehnte Martinez das glattweg ab.
„Das Gespräch ist geheim“, antwortete er.
Martinez weigert sich zwar, die Bevölkerung über seine vertraulichen Hinterzimmer-Gespräche mit Valls zu informieren, aber seine Kommentare zeigen, dass er einen Rückzug vorbereitet. Frühere Aufforderungen der Gewerkschaftsfunktionäre nach einer „Rücknahme“ des Gesetzes hat er völlig fallengelassen und fordert stattdessen, das Gesetz müsse „neu diskutiert“ werden.
Martinez beteuerte wiederholt, die CGT werde sich nicht auf einen politischen Konflikt mit der PS einlassen. Er erklärte, er wolle keine „Auseinandersetzung mit Valls unter vier Augen“. Er betonte, die CGT „spielt ihre Rolle … Wir spielen unsere angemessene Rolle als Gewerkschaft.“
Das war eine nur schwach verhüllte Unterstützungsbekundung für die PS. Als man ihn fragte, ob er die Entscheidung der CGT, bei der Präsidentschaftswahl von 2012 für die Wahl von Hollande aufzurufen, bereue, sagte Martinez weder ja noch nein. Er erklärte nur, die CGT habe der Sache damals „nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt“. Er stellte es so dar, dass 2012 der damalige CGT-Generalsekretär Bernard Thibault dazu aufgerufen habe, Hollandes rechten Gegenspieler, Nicolas Sarkozy, abzulösen. Dann erklärte er etwas gewunden, die CGT habe „in einer anderen Zeit“ auch schon offene Empfehlungen für einen Präsidentschaftskandidaten abgegeben.
Das war eine Anspielung auf die jahrelange Verbindung der CGT mit der französischen stalinistischen Kommunistischen Partei (PCF) seit dem Zweiten Weltkrieg. Sie hält bis heute an. Die PCF war bis zur Auflösung der UdSSR im Jahr 1991 eng mit der konterrevolutionären Sowjetbürokratie verbunden und unterhielt enge Beziehungen zur PS. Diese Verbindung geht auf die Gründung der PS kurz nach dem Generalstreik von 1968, der letzten revolutionären Erfahrung der französischen Arbeiterklasse, zurück. Seit Präsident François Mitterrand 1981 an die Macht kam, war die PCF offizieller oder inoffizieller Koalitionspartner jeder PS-Regierung.
Das ist der Grund, warum die CGT faktisch zur Führerin dieses Streiks geworden ist. Es ergab sich mangels einer Alternative. Keine der politischen Parteien, die jahrzehntelang als „links“ galten, kämpft heute gegen die PS oder versucht auch nur, sie herauszufordern. Das gilt für die PCF, für die Linksfront unter Führung von Jean-Luc Mélenchon und auch für die Neue Antikapitalistische Partei, NPA.
In der nachsowjetischen Zeit gingen diese Parteien den gleichen Weg wie vergleichbare Organisationen in ganz Europa, wie Rifondazione Comunista in Italien oder Syriza in Griechenland: Sie unterstützten eine Regierung, die eine Spar- und Kriegspolitik verfolgte, oder traten ihr sogar bei. Selbst heute, wo hunderttausende Industriearbeiter in ganz Frankreich im Kampf stehen und Gas- und Ölraffinerien, Auto- und Lastwagenwerke, Häfen und Verkehrsbetriebe bestreiken, fordern sie die PS nicht heraus und versuchen nicht, die Arbeiterklasse in einem politischen Kampf gegen Hollande zu mobilisieren.
In diesem Licht wird verständlich, was es bedeutet, dass die CGT nicht zu einem Generalstreik in Frankreich aufruft, sondern zu einer „Generalisierung“ des Streiks. Sie lehnt einen Generalstreik ab, d.h. einen gemeinsamen Kampf der gesamten Arbeiterklasse gegen die PS-Regierung und die kapitalistische Klasse. Während sich explosive Wut in breiten Arbeiterschichten aufstaut, wollen sie die Streiks „verallgemeinern“. Das bedeutet, sie wollen unzusammenhängende Streiks in unterschiedlichen Industriezweigen führen, um Dampf abzulassen, aber keineswegs, um die Regierung Hollande zu stürzen.
Angesichts der Tatsache, dass die PS-Regierung unbeugsam entschlossen ist, das Gesetz durchzusetzen, ist diese Strategie ein Versuch der CGT, die Kontrolle über die Kämpfe der Arbeiter zu behalten und gleichzeitig einen schmutzigen Ausverkauf in die Wege zu leiten.
Martinez verschleierte seine Vorbereitungen auf den Ausverkauf mit einer grotesken Lüge. Auf die Frage, warum sich die CGT verpflichtet fühle, auch weiterhin zu Streiks aufzurufen, erklärte Martinez: „Es ist in der Geschichte noch nicht vorgekommen“, dass die Arbeiter kämpfen wollten, die CGT sich aber geweigert habe und stattdessen eine Streikbewegung beenden wollte.
In Wirklichkeit gibt es zahlreiche Beispiele in der Geschichte des französischen Stalinismus, bei denen die Kommunistische Partei revolutionäre Kämpfe abwürgte, um die französische Bourgeoisie zu stabilisieren. Der Stalinismus lehnte das Programm der sozialistischen Weltrevolution, wie es Leo Trotzki und seine Anhänger vertraten, vollkommen ab. Das niederträchtigste Beispiel war der Generalstreik 1936, den die PCF verriet, als Maurice Thorez, Führer der Kommunistischen Partei, mit CGT-Unterstützung erklärte: „Man muss auch wissen, wie ein Streik beendet wird.“
CGT-Führer Georges Séguy wurde 1968 ausgebuht und aus der Renault-Fabrik in Boulogne-Billancourt geworfen, als er mitten im Generalstreik versuchte, die Arbeiter zurück an die Arbeit zu zwingen.
In der heutigen Situation wird die CGT die Arbeiter noch übler behandeln. Wie die PCF und die andern Gewerkschaften hat sie im Verlauf der letzten 25 Jahre seit Auflösung der UdSSR ihre Massenbasis in der Arbeiterklasse vollkommen verloren und ist zu einer kleinbürgerlichen Organisation geworden, die die Arbeiter zutiefst verachtet. Während die PS gerade dabei ist, die sozialen Errungenschaften der Arbeiter zu vernichten, unternimmt die CGT zynisch vereinzelte Kampfaktionen und bereitet im Hintergrund einen noch schlimmeren Ausverkauf vor.
Die Arbeiterklasse hat den Kampf gegen das kapitalistische System und die herrschende Klasse aufgenommen. Sie steht jetzt vor der entscheidenden Aufgabe, ihre organisatorische Unabhängigkeit von der PS und all ihren Trabanten, wie der CGT, herzustellen.