Das vom Verteidigungsministerium vorgelegte „Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“ markiert ein neues Stadium der Rückkehr des deutschen Imperialismus und muss von Arbeitern und Jugendlichen sehr ernst genommen werden.
Der Entwurf, aus dem die Süddeutsche Zeitung in ihrer Dienstagsausgabe zitierte, räumt mit zentralen Beschränkungen auf, denen sich der deutsche Imperialismus nach zwei verlorenen Weltkriegen unterwerfen musste, und kommt einer Blaupause für die Errichtung eines neuen deutschen Polizei- und Militärstaats gleich.
Der Entwurf beinhaltet drei Kernpunkte: den Einsatz der Bundeswehr im Inneren, eine Ausweitung der Auslandseinsätze auch unabhängig von den Verbündeten der Nachkriegszeit und die Stärkung des Bundessicherheitsrats.
Zum Einsatz der Armee im Inneren heißt es: „Charakter und Dynamik gegenwärtiger und zukünftiger sicherheitspolitischer Bedrohungen machen hier Weiterentwicklungen erforderlich, um einen wirkungsvollen Beitrag der Bundeswehr zur Gefahrenabwehr an der Grenze von innerer und äußerer Sicherheit auf einer klaren Grundlage zu ermöglichen.“
Im Klartext: Das Verbot von Bundeswehreinsätzen im Innern sowie die Trennung zwischen Polizei und Armee, die aufgrund der Erfahrungen im Kaiserreich, der Weimarer Republik und der Nazi-Diktatur im Grundgesetz verankert wurden, sollen über Bord geworfen werden. Diese Grundsätze sind zwar seit der Verabschiedung der Notstandgesetze im Mai 1968 immer wieder aufgeweicht worden, ein landesweiter bewaffneter Einsatz der Armee ist in Deutschland aber bislang verboten.
Neben dem Abbau der Hürden für den Einsatz der Bundeswehr im Innern werden im Weißbuch-Entwurf auch die bislang geltenden gesetzlichen Grenzen von Auslandseinsätzen weiter ausgehöhlt. „In jüngster Zeit nimmt die Zahl der Einsätze und Missionen zu, die ein verzugsloses und konsequentes Handeln erfordern“, zitiert die Süddeutsche Zeitung aus dem Dokument. Es werde aber zunehmend schwierig, „den Rahmen einer Einbindung in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einzuhalten“.
Hintergrund, so die Süddeutsche Zeitung, sei „die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der Auslandseinsätze nur möglich sind, wenn sich die Bundesrepublik in ein solches System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnet“. Laut Weißbuch gebe es jedoch mehr und mehr Einsätze „durch Ad-hoc-Kooperationen“ von Staaten. „Angesichts der weiter steigenden sicherheitspolitischen Verantwortung Deutschlands“ müsse man „diesen Herausforderungen“ Rechnung zu tragen.
Seit dem berüchtigten „Out-of-Area“-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1994 ist es zwar „legal“, die Bundeswehr im Rahmen bewaffneter Auslandseinsätze de facto weltweit einzusetzen, allerdings nur im Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme wie der UNO oder der Nato. Zog Deutschland im Kosovo, in Afghanistan oder jüngst in Syrien und Mali noch im Bündnis mit den USA und anderen europäischen Mächten in den Krieg, bereitet es sich nun darauf vor, seine imperialistischen Interessen unabhängiger und von den anderen Großmächten zu verfolgen.
In diesem Zusammenhang muss die im neuen Weißbuch angestrebte Stärkung der Rolle des Bundessicherheitsrats (BSR) gesehen werden. Der BSR, der bislang vor allem bei der Genehmigung heikler Rüstungsexporte in Erscheinung getreten ist, solle sich künftig „kontinuierlich mit strategischen Fragen“ befassen, zitiert die Süddeutsche Zeitung den Weißbuch-Entwurf. Der BSR werde „als strategischer Impulsgeber und Steuerungsgremium […] gestärkt“ und dazu „mit einer Arbeitsstruktur unterlegt“ sowie „durch ein nachgeordnetes Koordinierungsgremium ergänzt“.
Die geplante Aufwertung des BSR ist eine weitere besorgniserregende Entwicklung. Mit ihr wird das ebenfalls im Grundgesetz verankerte und auf die schrecklichen Geschichte des deutschen Militarismus zurückgehende „Primat der Politik über das Militär“ in sein Gegenteil verkehrt. Wie im Kaiserreich und unter den Nazis tritt ein kleiner Zirkel von Kriegspolitikern und Generälen wieder als Wortführer und Architekt der deutschen Außen- und Kriegspolitik auf.
Der BSR unterliegt keiner parlamentarischen Kontrolle und hat derzeit neun feste Mitglieder: Die Bundeskanzlerin (Merkel), den Chef des Kanzleramts (Altmeier), die Bundesminister des Auswärtigen (Steinmeier), der Verteidigung (von der Leyen), der Finanzen (Schäuble), der Justiz (Maas), der Wirtschaft (Gabriel) und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung (Müller). In der Regel nimmt auch der Generalinspekteur der Bundeswehr, Volker Wieker, an den Sitzungen des BSR teil.
Das Weißbuch 2016 ist ein weiterer praktischer Schritt auf dem Weg zur Rückkehr des deutschen Militarismus, die von Präsident Gauck und der Bundesregierung Anfang 2014 angekündigt worden war. Es wurde über ein Jahr lang diskutiert und ausgearbeitet. Wie schon beim Strategiepapier „Neue Macht – Neue Verantwortung. Elemente einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für eine Welt im Umbruch“, der ursprünglichen Vorlage für die neue deutsche Außen- und Großmachtpolitik, waren führende deutsche Journalisten, Akademiker, Militärs, Wirtschaftsvertreter und Politiker aller Bundestagsparteien an der Ausarbeitung beteiligt.
Zu den Mitgliedern der vier Arbeitsgruppen „Sicherheits- und Verteidigungspolitik“, „Partnerschaften und Bündnisse“, „Bundeswehr“ und „Nationaler Handlungsrahmen“, die das Weißbuch auf den Weg brachten, zählten unter anderem:
Sylke Tempel, die Chefredakteurin der Zeitschrift Internationale Politik; Thomas Bagger, der Chef des Planungsstabs im Auswärtigen Amt; Generalmajor Hans-Werner Wiermann, Kommandeur des Kommandos Territoriale Aufgaben der Bundeswehr in Berlin; Winfried Nachtwei, der ehemalige sicherheitspolitische Sprecher der Grünen; Henning Otte, der verteidigungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion; Constanze Stelzenmüller, frühere sicherheitspolitische Redakteurin der Zeit und Fellow beim amerikanischen Thinktank Brookings Institution; der Historiker Klaus Naumann vom Hamburger Institut für Sozialforschung und Matthias Herdegen, Professor der Rechtswissenschaften und Direktor des Instituts für Öffentliches Recht sowie Direktor des Instituts für Völkerrecht der Universität Bonn.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Auch Vertreter der Linkspartei, die bereits das Papier „Neue Macht – Neue Verantwortung“ mit ausgearbeitet hatte, waren am Weißbuch-Prozess beteiligt. Auf der vom Verteidigungsministerium eigens eingerichteten Website zum Weißbuch befinden sich ausführliche Video-Interviews mit der verteidigungspolitischen Sprecherin der Linkspartei, Christine Buchholz, und dem Obmann der Linkspartei im Verteidigungsausschuss des Bundestags, Alexander Neu. Buchholz hatte bereits an der Auftaktveranstaltung zum Weißbuch 2016 im vergangenen Februar teilgenommen und nur zwei Tage später selbst einen Vortrag zur neuen deutschen Außenpolitik in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) gehalten.
Der nun vom Verteidigungsministerium vorgelegte Entwurf des Weißbuchs 2016, der im Juni ins Bundeskabinett eingebracht werden soll, wurde von vielen Unionspolitikern ausdrücklich gelobt.
So sprach sich etwa der Vorsitzende der Innenministerkonferenz (IMK), Klaus Bouillon (CDU), für den Einsatz der Bundeswehr im Innern aus. „Die Bundeswehr muss ein verlässlicher Partner für die innere Sicherheit werden“, erklärte er am Dienstag in Saarbrücken. „Nach dem schrecklichen Terror in Belgien und Frankreich“ begrüße er die Überlegungen auf Bundesebene, das Grundgesetz entsprechend zu ändern. Um die Menschen zu schützen, müssten „alle verfügbaren Kräfte“ gebündelt werden, sagte er.
Von Vertretern der SPD, der Grünen und der Linkspartei wurde das Papier in einer Art und Weise kommentiert, die ebenfalls Zustimmung zur grundlegenden Stoßrichtung signalisiert.
Der Wehrbeauftragte des Bundestags Hans-Peter Bartels (SPD) erklärte, er halte eine Debatte über die Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr für sinnvoll. Allerdings äußerte er sich in Zeitungen der Funke Mediengruppe skeptisch, ob es dafür eine Grundgesetzänderung brauche: „Es gibt ja bereits die Artikel zum Inneren Notstand, zum Spannungsfall, zum Verteidigungsfall und zur Amtshilfe bei Naturkatastrophen und schweren Unglücksfällen, die Unterstützung durch die Streitkräfte bei uns zu Hause erlauben.“
Der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Rainer Arnold, sagte im Kölner Stadt-Anzeiger, es sei sinnvoller, die Polizei entsprechend aufzustocken, anstatt der ohnehin bereits überlasteten Bundeswehr zusätzliche Aufgaben aufzuhalsen. Die Bundestagsfraktionsvorsitzenden der Grünen und der Linkspartei stießen ins gleiche Horn. Anton Hofreiter (Grüne) forderte eine bessere Ausstattung der Polizei und Dietmar Bartsch (Linkspartei) erklärte: „Um Terroristen abzuwehren brauchen wir eine gut ausgebildete Polizei.“