„Die Armut in Deutschland hat nicht nur ein neuerliches trauriges Rekordhoch erreicht, auch ist Deutschland dabei, regional regelrecht auseinander zu fallen.“ So leitet der Paritätische Gesamtverband seinen alljährlichen Armutsbericht ein.
Obwohl die Wirtschaft leicht gewachsen und die Arbeitslosigkeit relativ gering ist, hat die Armut in Deutschland zugenommen; sie ist seit 2006 beinahe kontinuierlich gestiegen und beläuft sich jetzt auf 15,5 Prozent. Das heißt, rund 12,5 Millionen Menschen haben als Single monatlich weniger als 845 Euro oder als Familie mit zwei Kindern weniger als 1873 Euro zur Verfügung.
Mit Ausnahme der drei Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg rutschte die Bevölkerung überall weiter in die Armut. Hessen, Bayern und Baden-Württemberg weisen zwar unterdurchschnittliche Armutsquoten auf, waren von diesem Trend aber nicht ausgenommen.
Das Ruhrgebiet, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, in den drei vergangenen Berichten als Problemregionen bezeichnet, weisen auch diesmal einen hohen Zuwachs der Armut auf. In der Hauptstadt gilt mittlerweile jeder Fünfte als arm.
Dabei driften einzelne Regionen, was die Armut anbetrifft, immer weiter auseinander. Belief sich der Abstand der reichsten zur ärmsten Region 2006 noch auf 17,8 Prozentpunkte, sind es 2013 schon 24,8. So groß ist der Unterschied zwischen der Region Bodensee-Oberschwaben an der südlichen Grenze Deutschlands und der Hafenstadt Bremerhaven, wo fast jeder Dritte zu den Armen zählt. Sowohl diese Spreizung als auch die Armutsquote in Bremerhaven sind Rekordwerte.
Das Ausmaß der Armutsentwicklung ist so erschreckend wie ihr Tempo: Im Großraum Köln/Düsseldorf nahm die Armut in den letzten Jahren um über 30 Prozent zu, was die dortige Armutsquote auf überdurchschnittliche Werte bringt. Beinahe jeder Dritte der fünf Millionen Menschen dieser Großstadtregion hält sich mehr schlecht als recht über Wasser. Eine „neue Problemregion“ entstehe, so der Bericht.
Vor allem Erwerbslose, Alleinerziehende und Kinder müssen sich besonders oft mit dem „Existenzminimum“ durchschlagen. Die Mehrheit der Erwerbslosen und fast jeder zweite Alleinerziehende muss mit weniger als 845 Euro auskommen; in Berlin – so vermeldeten die Medien erst kürzlich – ist jedes dritte Kind auf das elterliche Hartz IV angewiesen. In Bremerhaven sind es mehr.
„Bedrohlich zugenommen“ hat auch die Altersarmut. Teilweise kommen alte Menschen nach jahrzehntelanger Arbeit trotz Einzahlung in die Rentenkasse nicht über die Armutsschwelle. Seit den Hartz-Reformen hat sich die Armut unter der älteren Generation „überproportional“ ausgebreitet. In den kommenden Jahren wird die Altersarmut aufgrund der in den Hartz-Gesetzen festgelegten Kürzungen bei den Renteneinzahlungen, den Kürzungen bei den Renten und dem Anwachsen des Niedriglohnsektors explodieren. Millionen von Männern und Frauen werden ihren Lebensabend in bitterer Armut verbringen, auch wenn sie jahrzehntelang gearbeitet haben.
Dieses Armutszeugnis stellt eine erschütternde Anklage gegen das kapitalistische Wirtschaftssystem dar. Es ist aber auch ein Vorwurf an die Eliten, die diese Verelendung breiter Gesellschaftsschichten bewusst betreiben. Etwas verstohlen macht der Bericht die Reformen verantwortlich, die den Namen eines Sozialdemokraten und Gewerkschafters tragen und dessen Helfer ebenfalls aus diesem Milieu kommen. Gemeint ist Peter Hartz.
Diese Reformen haben dazu beigetragen, dass „gesamtwirtschaftlicher Erfolg und zunehmender gesamtwirtschaftlicher Reichtum“ nicht mehr dazu führen, „dass die Armut in Deutschland geringer wird. Ganz im Gegenteil: Der zunehmende Reichtum geht mit einer immer größeren Ungleichverteilung einher…“
Die Armutsquote ist seit 2006 angestiegen, obwohl die Arbeitslosenquote und die Hartz-IV-Quote sanken. Immer mehr Menschen haben also Arbeit, diese ist aber so schlecht bezahlt, dass sie nicht über die Armutsschwelle hinauskommen. Der Bericht spricht von einer „wachsenden Zahl an Menschen im Niedriglohnsektor und in prekären Beschäftigungs- und nicht auskömmlichen Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen“.
Der seit Anfang des Jahres geltende Mindestlohn von gerade einmal 8,50 Euro pro Stunde ist völlig unzureichend, um daran etwas zu ändern. Der Bericht rechnet vor, dass man mit einem derart niedrigen Stundensatz selbst mit einer Vollzeitstelle nicht über die Armutsschwelle kommt.
Das Gutachten macht deutlich, „dass sich die steigende Armut von wirtschaftlichen Entwicklungen gänzlich abgekoppelt hat“ und die Einkommensschere weiter auseinander geht. Die Sozialleistungen schützen immer weniger Menschen vor dem Fall in die Armut; in einigen Regionen reicht die Grundsicherung bereits jetzt nicht mehr zum Leben aus, was besonders größere Familien hart trifft.
Die soziale und regionale Verelendung geht deshalb ungehindert weiter. „Noch nie war die Armut in Deutschland so hoch und noch nie war die regionale Zerrissenheit so tief wie heute“, kommentiert Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes.
Was ebenfalls richtig ist: Noch nie war der Reichtum in Deutschland so hoch und wohl noch nie war die soziale Zerrissenheit so tief wie heute. In vergangenen Berichten warnte die Wohlfahrtsorganisation deshalb vor sozialen Unruhen und Zerreißproben.
Die Vorschläge zur Eindämmung – nicht Beseitigung – der Armut, die im Bericht stehen, lesen sich, als hätten die Autoren schon vor der Formulierung gewusst, dass ihre Empfehlungen ohnehin nicht berücksichtigt werden.