Der russische Zoll verhindert seit Donnerstag den Import ukrainischer Waren nach Russland. Mit der Maßnahme will die Regierung in Moskau die Unterzeichnung eines Assoziierungs- und Freihandelsabkommens zwischen der Ukraine und der EU verhindern und die Ukraine zum Beitritt in eine von Russland dominierte Zollunion bewegen.
Seit dem 14. August stuft das russische Zollamt einen Großteil der ukrainischen Importe als „Risikowaren“ ein und verzögert ihren Weitertransport um Wochen, teils auch um Monate. Derart umfassende Maßnahmen gegen ausländische Waren hat der russische Zoll bislang nicht verhängt.
Der ukrainische Arbeitgeberverband und zahlreiche Politiker beschuldigten Moskau am Donnerstag, einen Handelskrieg begonnen zu haben. Für die Ukraine ist Russland nach der EU der zweitgrößte Exportmarkt. Im letzten Jahr betrug der Gesamtwert der ukrainischen Exporte nach Russland 12,3 Mrd. Euro.
Der Kreml leugnete zuerst, dass die Maßnahmen politisch begründet seien. Am Sonntag erklärte Sergej Glasjew, ein Berater des Präsidenten Wladimir Putin, jedoch offen, es handle sich um „prophylaktische Maßnahmen“. Sollte die Ukraine „den suizidalen Schritt“ machen und im November wie geplant ein Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit der EU unterschreiben, würde Russland den Import ukrainischer Waren langfristig ganz unterbinden.
Nach einem Telefonat zwischen dem ukrainischen Premierminister Juri Boiko und seinem russischen Amtskollegen Dmitrij Medwedew am Sonntag erklärten beide, von einem Handelskrieg könne keine Rede sein.
Russland bemüht sich seit fast zwei Jahren darum, dass die Ukraine der Zollunion zwischen Russland, Weißrussland und Kasachstan beitritt. Gestützt auf die Zollunion will Russland die Eurasische Union gründen, der ein Großteil der ehemaligen Sowjetunion angehören soll. Mit beiden Projekten versucht der Kreml der wirtschaftlichen Krise und dem sinkenden politischen Einflusses im post-sowjetischen Raum entgegenzuwirken.
Präsident Putin hat den Aufbau der Eurasischen Union zu einer Priorität der Außenpolitik seiner dritten Amtsperiode erhoben. Ohne die Ukraine, einem der geostrategisch und wirtschaftlich bedeutendsten Länder der ehemaligen Sowjetunion, würden allerdings die Eurasische Union und die Zollunion wenig Sinn machen.
Die Ukraine hat den Beitritt bisher strikt abgelehnt. Unter Präsidenten Wiktor Janukowitsch versucht Kiew zwischen Russland und der EU zu balancieren. Janukowitsch bezeichnet Russland zwar stets als „strategischen Partner“ und hatte kurz nach seinem Amtsantritt vor dreieinhalb Jahren das Beitrittsgesuch zur NATO fallen lassen. Die ukrainische Regierung hat aber auch die Unterzeichnung des Assoziierungs- und Freihandelsabkommens mit der EU und eine Reduzierung der Abhängigkeit von russischen Gasimporten zu Prioritäten ihrer Politik erhoben.
Russland hat wiederholt erklärt, Kiew müsse sich zwischen Moskau und Brüssel entscheiden, und stellt sich vehement gegen das Abkommen zwischen der Ukraine und der EU. Durch das Freihandelsabkommen würden europäische Waren massenweise in die Ukraine eingeführt, die momentan noch zu den wichtigsten Abnehmern russischer Güter zählt. Russische Unternehmen befürchten, dass europäische Waren dann auch verstärkt nach Russland gelangen und dort inländischen Herstellern Konkurrenz machen werden.
Die Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland sind seit Jahren vor allem wegen energiepolitischen Fragen angespannt. Seit fast zwei Jahren verhandeln die ukrainische Regierung und der russische Energiekonzern Gazprom erfolglos über eine Senkung der Gaspreise. Die Ukraine bezieht fast ihr gesamtes Gas aus Russland und bezahlt mit 406 US-Dollar pro Kubikmeter Gas weit mehr als den Gazprom-Durchschnittspreis.
Moskau hat eine Senkung des Gaspreises an die Bedingungen geknüpft, dass die Ukraine der Zollunion beitritt und das ukrainische Gastransportnetz an Gazprom verkauft. Ende Mai hat die Ukraine die Schaffung eines ukrainisch-russischen Konsortiums zur Verwaltung des Netzes in Aussicht gestellt.
Der Transit von russischem Gas nach Europa ist für die Ukraine mit einem jährlichen Erlös von rund 3 Mrd. US-Dollar eine wichtige Einnahmequelle. Durch den Bau der Pipeline Nord Stream, die Gas durch die Ostsee direkt von Russland nach Deutschland liefert, ist der Gastransit nach Westeuropa bereits eingebrochen. Von 120 Mrd. Kubikmeter im Jahr 2004 ging er auf 84 Mrd. Kubikmeter 2012 zurück. Der Bau der Pipeline South Stream, die Gas vom Schwarzen Meer nach Südosteuropa liefern und 2016 fertig sein soll, wird die Bedeutung der Ukraine als Transitland weiter mindern.
Die Ukraine hat inzwischen angefangen, ihre eigenen Gasimporte aus Russland zurückzuschrauben. Vom deutschen Unternehmen RWE Supply&Trading bezieht sie seit November letzten Jahres verstärkt Gas, das über Ungarn und Polen geliefert wird. Insgesamt sind die russischen Gaslieferungen, die die Ukraine für ihren Eigenbedarf verwendet, in den ersten sieben Monaten des Jahres gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 35 Prozent gesunken.
Bis 2014 will die Ukraine die russischen Gasimporte weiter reduzieren und den Import aus Europa verdoppeln. Gleichzeitig versucht die ukrainische Regierung, die Eigenproduktion durch die Förderung von Schiefergas zu erhöhen und mehr Flüssiggas zu importieren.
Diese Politik erhält offene Unterstützung aus den USA. Der neue US-amerikanische Botschafter in der Ukraine, Jeffrey Pyatthat, hat vor kurzem erklärt, Washington setze in seiner Ukraine-Politik zwei Prioritäten: eine umfassende Unterstützung der Orientierung Kiews nach Europa und die Erlangung von Energieunabhängigkeit. Amerikanische Unternehmen wollen sich vor allem an der Suche nach Schiefergasvorkommen in der Ukraine beteiligen.
Die USA sehen eine Orientierung der Ukraine auf Russland und die Eurasische Union als Bedrohung ihrer eigenen geopolitischen Interessen im eurasischen Raum. Ex-US-Außenministerin Hillary Clinton bezeichnete Ende 2012 die Eurasische Union als einen Versuch, die Region unter russischer Vorherrschaft zu „re-sowjetisieren“. Sie warnte, die USA würden alles daran setzen, dieses Projekt zu unterbinden. Auch Ariel Cohen von der Heritage Foundation, einem Think Tank in Washington D.C., warnte vor kurzem in einem Beitrag, die Eurasische Union gefährde die Interessen der USA und die Stabilität in der Region.
Die europäische Bourgeoisie ist über die Frage der Ukraine gespalten, nicht zuletzt wegen der Implikationen für die ohnehin angespannten Beziehungen zu Russland. Diese haben sich zuletzt vor allem aufgrund der westlichen Kriegsvorbereitungen gegen den Iran und Syrien und Konflikten über die Abhängigkeit von russischen Energielieferungen verschlechtert.
Bis heute hat die EU nicht endgültig zugesagt, das Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit der Ukraine zu unterschreiben. Auch bei den Gasverhandlungen mit Russland hat die EU die Ukraine kaum unterstützt.
Der Russland-Experte Alexander Rahr, der bis Mitte 2012 als Berater für das Auswärtige Amt gearbeitet hat, fordert in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift WeltTrends unter der Überschrift „Kein Europa ohne Russland“ eine gemeinsame russisch-europäische Wirtschaftsstrategie, die auf eine „gemeinsame Freihandelszone zwischen der EU und der Eurasischen Union“ hinaus laufen solle. In diese solle die Ukraine integriert werden. Dies wäre laut Rahr „der einzige Weg, um die Integration des europäischen Kontinents friedlich zu vollenden“.