Seit Anfang der Woche breitet sich eine neue Streik- und Protestwelle in Ägypten aus. Textilarbeiter streiken in Mahalla al-Kubra im Nildelta, in Alexandria und in der Küstenprovinz Daqaliya.
Im Streik befinden sich auch Keramikarbeiter in der Industriestadt Suez, Ärzte in Marsa Matrouh, Universitätsmitarbeiter in Kafr el-Sheikh, Postbedienstete in Alexandria und Assiut und Beschäftigte im Gesundheitswesen auf der Halbinsel Sinai. Andere Proteste und Streiks werden aus Kairo, Bani Sueif und Minya berichtet.
Die neuen Streiks und Proteste sind Ausdruck der wachsenden Empörung in der Arbeiterklasse über die reaktionäre Politik der amerikafreundlichen Militärjunta und ihrer neuen islamistischen Galionsfigur, Präsident Mohammed Mursi.
Nach Mursis Amtseinführung als erster Präsident nach dem revolutionären Sturz von Diktator Hosni Mubarak will die ägyptische Elite die Wirtschaft weiter privatisieren, Subventionen kürzen und mehr ausländische Investitionen anziehen.
Die Islamisten und die Junta-Generale führen im Moment Gespräche über die Bildung einer neuen Regierung. Sie wird die Aufgabe haben, weitere Angriffe auf die Massen auszuführen. Als neuer Ministerpräsident sind drei prominente Banker im Gespräch: Farouk El-Oqda, der momentane Gouverneur der ägyptischen Zentralbank (CBE), der ehemalige Gouverneur der CBE, Mahmud Abul-Oyoun und der ehemalige stellvertretende CBE-Gouverneur, Hesham Ramez.
Die Streiks sind die Antwort der Arbeiterklasse darauf, dass die Politik der freien Marktwirtschaft unter Mubarak heute immer noch fortgesetzt wird.
Am Sonntag traten 25.000 Textilarbeiter der staatlichen Spinnerei und Weberei Mahalla Misr Spinning and Weaving Company in der Industriestast Mahalla al-Kubra in den Streik und führten ein Sit-in in der Fabrik durch. Die Arbeiter fordern einen höheren Anteil an den Profiten der Firma, höhere Rentenbeiträge und die Absetzung des Managements.
Die Arbeiter von Mahalla spielten in der Revolution im vergangenen Jahr eine führende Rolle, und die herrschende Elite ist besorgt, dass die Massenstreiks eine zweite Revolution auslösen könnten. Am Montag und Dienstag traten sieben weitere Textilfabriken im Nildelta in den Streik und erhoben die gleichen Forderungen wie die Arbeiter in Mahalla.
Mitglieder der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei (FJP), des politischen Arms der Moslembruderschaft (MB), sollen versucht haben, die Arbeiter zum Abbruch ihres Streiks zu bewegen, seien aber davongejagt worden.
Die Tageszeitung Al-Masry Al-Youm veröffentlichte ein Video der streikenden Arbeiter von Mahalla, das einen Eindruck von der militanten Stimmung unter den ägyptischen Arbeitern vermittelt.
In dem Video äußert eine Arbeiterin ihre Enttäuschung über den islamistischen Präsidenten, der sich nur um eine winzige reiche Elite kümmere. „Sobald er Präsident war, hat er uns als erstes vergessen. Er denkt nur an die, die 200.000 oder eine halbe Million verdienen. Er denkt nicht an die Arbeiter, die Blut und Schweiß vergießen müssen. Wo sind unsere Rechte? Wir können uns nicht mal einen Kanten Brot leisten. Wo ist unser Präsident jetzt? Wir wollen den Mindestlohn. Nicht eine unserer Forderungen ist erfüllt worden.“
Ein Kollege fügt hinzu: “Die Revolution hat den Arbeitern von Misr Spinning in Mahalla gar nichts gebracht. 2006 erhielten wir noch Erfolgsbeteiligungen von viereinhalb Monatslöhnen. Andere bekommen jetzt mehr, wir bekommen weniger. Wie können sie jemanden wie Fuad Abd-al-Alim einsetzen [den neuen Chef der staatlichen Holding der Textil- und Bekleidungsindustrie]? Er war der korrupteste von allen. Er hat die Fabrik in Mahalla zerstört, und er wird auch noch die übrigen staatlichen Textilfabriken zerstören. Die Arbeiter beginnen mit der Revolution noch mal ganz von vorne. Die kommende Revolution wird eine Arbeiterrevolution sein.“
Aufgeschreckt vom Gespenst einer erneuten Revolution, versuchen die Junta und die Islamisten die Streikwelle gewaltsam zu unterdrücken.
In Suez, einem revolutionären Zentrum, feuerten die Sicherheitskräfte am Dienstag Tränengas auf Hunderte Fabrikarbeiter der Keramikfirma Cleopatra. Die Arbeiter stürmten Regierungsgebäude in der Hafenstadt und forderten die Festnahme des Fabrikbesitzers Mohammed Abul Enein, einem ehemaligen Mitglied von Mubaraks inzwischen aufgelöster Nationaldemokratischer Partei (NDP). Die Arbeiter beschuldigen Enein, Löhne nicht gezahlt, Arbeiter illegal entlassen und an der berüchtigten „Schlacht der Kamele“ teilgenommen zu haben. Damals griffen Mubaraks Schergen protestierende Arbeiter und Jugendliche auf dem Tahrir-Platz mit einer wilden Kameljagd an.
In Suez sollen nach den Zusammenstößen zwischen Arbeitern und Polizeikräften Militäreinheiten eingerückt sein. Mindestens fünfzehn Arbeiter wurden verletzt und sechs festgenommen.
Im Südsinai sollen Sicherheitskräfte mit scharfer Munition geschossen haben, um hunderte Krankenhausmitarbeiter auseinanderzutreiben, die vor dem Büro des Staatssekretärs im Gesundheitsministerium ein Sit-in veranstaltet hatten. Die Arbeiter forderten höhere Zulagen und protestierten gegen die schlechten hygienischen Zustände in den Krankenhäusern im Südsinai und gegen einen Mangel an Medikamenten und Materialien.
Das Regime hat bisher noch nicht gewagt, die Textilarbeiter von Mahalla anzugreifen. Es verlässt sich noch auf seine pseudolinken Agenten, welche die Situation unter Kontrolle halten sollen. Angeblich will der Minister für Industrie und Handel, Mahmud Issa, die Mahalla-Arbeiter am Mittwoch besuchen. Am Dienstagabend gelang es dem Generalsekretär der Gouvernements Gharbiya nicht, die Arbeiter zu beruhigen, die daraufhin ankündigten, den Streik fortzusetzen.
Zu den Verhandlungsführern gehören erfahrene kleinbürgerliche Elemente, wie Kamal al-Fayumi, die den Streik beenden und ausverkaufen wollen. Diese Leute posieren als Arbeitervertreter, aber ihre Politik ist den Interessen der Arbeiterklasse direkt entgegengesetzt und spielt der Konterrevolution in die Hände.
Fayumi ist Mitglied der pseudolinken Gruppe Revolutionärer Sozialisten (RS), die eine zweite Revolution gegen die Junta und den Kampf für Arbeitermacht und Sozialismus ablehnt. Die RS haben Mursi bei der Präsidentschaftswahl unterstützt und behaupten nun, die Islamisten könnten zu sozialen Reformen gedrängt werden.
Mursi und die Junta gehen gewaltsam gegen streikende Arbeiter vor. Aber die RS behaupten in ihrer jüngsten Erklärung: „Druck auf Mursi und die Bruderschaft wird ihre Entscheidungen in die richtige Richtung treiben, und zwar in die Richtung der Vollendung der Ziele der Revolution, so dass die Militärherrschaft gestürzt und der Staat gesäubert wird.“