Der Autor dieses Textes stimmt nicht oft mit den Entscheidungen überein, die zum Abschluss der Internationalen Filmfestspiele in Berlin gefällt werden,
Der Hauptpreis, der Goldene Bär, ging an Cesare deve morire (Cäsar muss sterben) von dem italienischen Regisseursduo Paolo und Vittorio Taviani. Der Silberne Bär ging an den Film Csak a szél (Nur der Wind) des jungen ungarischen Regisseurs Bence Fliegauf; und der Preis für den besten Regisseur ging an den deutschen Christian Petzold für seinen Film Barbara. Zwar ging es in allen drei Filmen um verschiedene Themen, aber alle drei waren intellektuell und emotional anspruchsvolle Portraits von Protagonisten, die auf ihre jeweiligen sozialen Umfelder reagieren, die sorgfältig dargestellt sind.
Gleichzeitig darf man nicht annehmen, dass die drei Siegerfilme repräsentativ für das Festival insgesamt sind. Festivalleiter Dieter Kosslick betonte in seiner Eröffnungsrede den politischen Inhalt des Programms und kam zu dem Schluss: „Viele Filme handeln von Revolutionen und Neuanfängen. Im Vordergrund stehen Menschen, die protestieren, um alte, überholte Regimes loszuwerden.“
Tatsächlich gehörten die Filme, die direkt oder indirekt politische Ereignisse behandelten, zu den schwächsten des Festivals. Einige davon werden in einem eigenen Artikel besprochen werden.
Ein Höhepunkt des diesjährigen Festivals war zweifellos die Retrospektive, bei der es um die sowjetisch-deutsche Filmgesellschaft Meschrabpom ging. Meschrabpom produzierte in den Zwanziger und Dreißiger Jahren über 400 Filme, bevor die Studios in Deutschland und der Sowjetunion von Hitler, bzw. von Stalin geschlossen wurden. Einige der Meschrabpom-Filme, die auf dem Festival gezeigt wurden – darunter Liebeskomödien, Dokumentationen, Science Fiction-Filme und politische Satiren – zeigten die breite Palette der Filmkunst, die nach der russischen Revolution aufblühte. Einige dieser Filme werden in Artikeln besprochen werden.
Cäsar muss sterben
Die Taviani-Brüder Paolo (80) und Vittorio (82) traten international erstmals 1977 mit dem Film Padre Padrone in Erscheinung – ein Film, der fest in der Tradition des realistischen Kinos stand. Für ihr neuestes Projekt nahmen die Regisseure die Einladung an, eine Verfilmung von Shakespeares Stück Julius Caesar zu machen; die Schauspieler sind Strafgefangene aus dem Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses Rebibiba bei Rom.
Zu Anfang des Filmes sieht man ein Vorsprechen, in dem die Figuren vorgestellt werden. Einer nach dem anderen nennen die Gefangenen ihren Namen und Geburtsort. In Untertiteln wird erklärt, dass sie zu langen Haftstrafen verurteilt wurden, einige lebenslänglich, für verschiedene schwere Verbrechen, darunter Drogenhandel und Mord. Einige von ihnen waren zuvor Mitglieder der Mafia.
Der Film beginnt und endet mit kurzen Szenen vor einem Publikum im Hauptsaal des Gefängnisses, aber einen Großteil des Films über verbringen die Insassen damit, zusammen zu proben und in der klaustrophobischen Atmosphäre der Gänge und winzigen Zellen (die von bis zu fünf Gefangenen bewohnt werden) mit Mühe ihre Texte zu lernen. Die Szenen aus Shakespeares Stück, die man im Film sieht – die Vorbereitungen der Verschwörer, Cäsar zu ermorden und der Mord durch eine Gruppe, zu der sein engster Verbündeter Brutus gehört, werden von den Gefangenen mit großer Leidenschaft und Überzeugungskraft gespielt.
In seiner Begräbnisrede für Cäsar nennt Marcus Antonius Brutus und die anderen Verschwörer aus Shakespeares Stück sarkastisch „ehrenwerte Männer“ – in Anlehnung an die Bezeichnung „Uomo d’Onore“ (Ehrenmann) aus der Gangstersprache der italienischen Mafia. Die Kraft der Darstellung in Cäsar muss sterben ergibt sich daraus, dass sich die Insassen von Rebibiba leicht mit den Kernthemen des Stückes, das vor über 500 Jahren geschrieben wurde, identifizieren können – Freundschaft, Rivalität, Macht und Machtmissbrauch, vor allem aber Verrat.
Den Gefangenen wurde zwar erlaubt, sich bei dem Vorsprechen Pseudonyme zu geben, aber keiner von ihnen wollte das. Sie nutzten die Gelegenheit, ihre echten Namen zu nennen und Verantwortung für ihre Verbrechen zu übernehmen. Der Film, aber auch der Preis in Berlin sind eine Würdigung ihrer Existenz, aber eine bewegende Darbietung in einem Film ist noch kein Grund, ihre Strafe zu erlassen. Einer der Gefangenen erklärte, die Befreiung, die er durch das Spielen dieser Rolle fühlte, habe ihm erst richtig zum Bewusstsein gebracht, dass er dazu verurteilt sei, den Rest seines Lebens in einer Zelle zu verbringen. Die Taviani-Brüder haben mit ihrem neuen Film eine mutige und lohnende Wahl getroffen.
Nur der Wind
Nur der Wind von Bence Fliegauf ist ein Spielfilm, der eng auf den Pogromen gegen die Roma in Ungarn von 2008 und 2009 basiert. In dieser Zeit wurden Roma-Familien von gut organisierten Todesschwadronen angegriffen und wie Tiere gejagt. Sechs Roma wurden erschossen, darunter ein fünfjähriger Junge. Fünf weitere wurden schwer verletzt, nachdem in neun ungarischen Dörfern ganze Häuser angezündet wurden.
Fliegauf beschreibt sorgfältig 24 Stunden des Alltagslebens von Roma zu einer Zeit, in der die Pogrome in vollem Gange sind. In Interviews über seinen Film stellte Fliegauf klar, dass er bei seiner Darstellung der Roma Stereotypen vermeiden wollte, und dass an ihrem Alltagsleben nichts Romantisches ist.
Die Mutter verlässt morgens ihr schäbiges Haus, um zu einem ihrer beiden Jobs zu gehen, Müll von der Straße zu kehren. Ihre junge Tochter bereitet schnell ein knappes Frühstück für ihren Großvater und geht in die Schule. Davor versucht sie noch ihren kleinen Bruder zu wecken, der noch in dem Bett schläft, das die ganze Familie benutzt. Der Junge schläft lieber weiter und schwänzt die Schule.
Nach ihrer Arbeit auf der Straße geht die Mutter zu ihrem zweiten Job; sie putzt in der Schule ihrer Tochter die Böden. Hier muss sie von ihrem Aufseher, dem Lehrer ihrer Tochter, rassistische Beleidigungen erdulden. Abgesehen von den ausbeuterischen Arbeitsbedingungen und den rassistischen Beschimpfungen lebt die Familie außerdem in andauernder Furcht vor den bewaffneten Banden, die in ihrer Gemeinde bereits Opfer gefordert haben. Die aufschlussreichsten Szenen sind die, in denen die kleinen Kinder durch die Wälder laufen. Auf der Straße taucht ein langsam fahrender Jeep auf. Der Junge geht schnell in die Knie und tut, als würde er sich die Schuhe zubinden, womit er ein schwereres Ziel ist. Der Jeep fährt weiter.
In einer weiteren schockierenden Szene inspizieren zwei Polizisten die Ruinen eines abgebrannten Roma-Hauses. Der Polizeihauptmann beklagt den Mord an den Roma. Er sagt seinem Kollegen, er kenne diese Familie; sie waren gute Arbeiter und ihre Ermordung ist das „falsche Signal.“ Er fährt fort, diejenigen, die rauben und stehlen, verdienen es zu sterben. Diese grauenhafte Aussage lässt offen, ob ungarische Behörden an den Pogromen beteiligt waren.
Am Ende des Films macht die Familie einen folgenschweren Fehler: Als sie zu Bett gehen wollen, tun sie den Lärm im Wald als Geräusche des Windes ab: „nur der Wind“. Fliegauf hat einen leidenschaftlichen und packenden Film über die Probleme der Roma in Ungarn gedreht. Gleichzeitig offenbaren sich ernsthafte Schwächen in Fliegaufs eigenem Verständnis von Rassismus. Dies zeigt sich daran, dass die Behörden in seinem Film nicht erwähnt werden. In seinen Notizen zum Film erklärt Fliegauf: „Rassismus ist nichts anderes als eine Reihe schwerer Fehler der Vernunft – also Unvernunft.“ Diese Vorstellung ist grundfalsch und beschönigt die Politik der Regierungen der vergangenen zwanzig Jahre, die in Ungarn immer wieder Rassismus geschürt haben, um ihre eigenen Ziele zu verfolgen.
Nach vielen Ausflüchten durch die Polizei und die ungarische Justiz wurden schließlich vier Männer verhaftet und stehen zurzeit in Budapest wegen der Angriffe von Juli 2008 bis August 2009 vor Gericht. Angesichts des breiten politischen Konsenses, der romafeindliche Gefühle in Ungarn entschuldigt, ist es unklar, ob jemals die Wahrheit über diese Pogrome herauskommen wird.
Barbara von Christian Petzold
Christian Petzold ist einer der interessantesten Regisseure, die momentan in Deutschland aktiv sind. In seinen bisherigen Filmen (Yella, 2007; Jerichow, 2008; Gespenster, 2005) wendet Petzold beträchtliche Energie auf, um die größtenteils unterdrückerische soziale Umgebung zu zeigen, in der seine Protagonisten agieren und oft scheitern. Barbara ist sein erster Film, der in der Vergangenheit spielt, in der stalinistischen Deutschen Demokratischen Republik (DDR)
Die Hauptfigur, die Ärztin Barbara (Nina Hoss), steht bei den Behörden der DDR in Ungnade, weil sie ein Ausreisevisum beantragt hat. Es ist 1980. Zur Strafe wurde sie aus Berlin in ein kleines Krankenhaus auf dem Land versetzt, wo sie ständig von dem örtlichen Stasi-Offizier belästigt wird.
Inzwischen bereitet Barbaras Geliebter in Westberlin ihre Flucht vor. Sie ist völlig desillusioniert von der DDR und betrachtet sie als Beeinträchtigung ihrer persönlichen Freiheit. Während sie in dem neuen Krankenhaus arbeitet, fühlt sie sich gegen ihren Willen immer mehr zu dem gewissenhaften jungen Arzt Andre hingezogen.
Da Barbara allem und jedem misstraut, denkt sie zuerst, Andre würde sie im Auftrag der Stasi ausspionieren. Dieser Verdacht ist nicht völlig unbegründet. Aufgrund einer Verfehlung in der Vergangenheit erpresst die Stasi Andre, als „informeller Mitarbeiter“ zu arbeiten. Andre selbst hat kein Interesse, seine Kollegin zu bespitzeln und ist bereit, dafür seine Karriere zu riskieren.
Zwischen Andre und Barbara entwickelt sich ein interessanter Dialog. Sie kann ihre Entscheidung, in den kapitalistischen Westen zu fahren, nur mit egoistischen Motiven begründen. Andre fühlt trotz der Verfolgung durch die Stasi noch eine Verpflichtung gegenüber dem Land, das ihm seine Berufsausbildung ermöglichte, und gegenüber den angeblich sozialistischen Idealen der DDR.
Petzold arbeitet eng mit seinen Schauspielern zusammen – mit Nina Hoss bereits zum fünften Mal – und gibt sich viel Mühe, eine authentische Atmosphäre für seine Charaktere zu schaffen – in diesem Fall das lähmende Klima bürokratischer Unterdrückung und Angst vor Denunziation, die in der Endphase der DDR herrschte.
Die Stärke von Barbara liegt darin, wie er sich von der klischeehaften Darstellung der DDR distanziert, die so viele Filme der Nach-Wende-Zeit auszeichnet, und wie er die Konflikte darstellt, unter denen viele DDR-Bürger litten. Sie waren angewidert von den Machenschaften der Bürokratie, aber hingen immer noch ohne klares Verständnis an den proklamierten sozialistischen Zielen des Regimes und misstrauten dem kapitalistischen freien Markt auf der anderen Seite der Grenze.