Mit einem relativ milden Urteil ging in der letzten Woche in München einer der wohl letzten Prozesse gegen Nazi-Verbrecher zu Ende. Der gebürtige Ukrainer John Demjanjuk wurde wegen Beihilfe zum Mord an 28.000 Juden im Vernichtungslager Sobibor im besetzten Polen zu einer Haftstrafe von fünf Jahren verurteilt. Die Schwurgerichtskammer war zu der Überzeugung gekommen, dass sich der Angeklagte als kriegsgefangener Rotarmist den Nazischergen freiwillig für das Vernichtungsgeschäft zur Verfügung gestellt hatte.
Vorläufig bleibt Demjanjuk frei, da die Strafe ausgesetzt wurde, bis das Urteil rechtskräftig ist. Als Begründung, warum Demjanjuk aus der Haft entlassen wird, führte das Gericht an, bei einem Staatenlosen bestehe keine Fluchtgefahr. Der 91-Jährige konnte das Gefängnis in München bereits am Freitag verlassen. Ob er seine Strafe jemals wird absitzen müssen, ist angesichts seines hohen Alters und seines schlechten Gesundheitszustands mehr als fraglich, zumal die Verteidigung beim Bundesgerichtshof umgehend Revision einlegte.
In den Medien im In- und Ausland hatte es zum Auftakt des Prozesses große Aufmerksamkeit gegeben, Die Süddeutsche Zeitung schrieb damals: „Die letzte Chance der Justiz, wenigstens ein bisschen Wiedergutmachung zu leisten für die Versäumnisse der jungen Bundesrepublik! Die letzte Chance, den Opfern des Holocaust Gerechtigkeit widerfahren zu lassen!“
Der Prozess gegen Demjanjuk begann vor zwei Jahren. Er war 2009 von den USA abgeschoben worden. Bereits 2001 hatte ein US-Gericht festgestellt, dass er während des Zweiten Weltkriegs in verschiedenen Konzentrationslagern als Aufseher tätig war. Im Juni 2004 war ihm dann die amerikanische Staatsbürgerschaft aberkannt worden. Diese hatte er erhalten, nachdem er sich 1945 aus dem Lager Flossenbürg abgesetzt hatte, wo er zuletzt von der SS eingesetzt worden war. Er ließ sich als Displaced Person registrieren und wurde von der US-Armee in Bayern als Lastwagenfahrer eingestellt.
Im Dezember 2005 sollte er von den USA in die Ukraine abgeschoben werden, wogegen er sich wehrte. Im Februar 2009 betätigte das Bayerische Landeskriminalamt die Echtheit eines in den USA archivierten SS-Dienstausweises von Demjanjuk. Die Münchner Staatsanwaltschaft I beantragte daraufhin am 11. März 2009 einen internationalen Haftbefehl, und am folgenden Tag wurde Demjanjuk nach Deutschland ausgeliefert.
Nachdem Ärzte bescheinigt hatten, dass der gesundheitlich instabile, hochbetagte Mann für zwei mal 90 Minuten am Tag verhandlungsfähig sei, konnte der Prozess beginnen. Den größten Teil des Prozesses verbrachte der Angeklagte in einem Spezialbett neben seinen Verteidigern. Er verfolgte die Verhandlungen, ohne je eine Emotion oder Erregung zu zeigen, und nahm das Urteil ebenso unbewegt entgegen. Ein Schlusswort wollte er nicht halten.
An fast allen Verhandlungstagen wurden historische Dokumente präsentiert. Sie bewiesen, dass Demjanjuk ein „fremdvölkischer Hilfswilliger“ der SS war, dessen Name in mehreren Dokumenten auftaucht. Der wichtigste Beweis für die Schuld Demjanjuks war sein SS-Dienstausweis mit der Nummer 1393, der, wie viel anderes Material für die Beweisführung, ursprünglich aus sowjetischen Archiven stammte. Anderes kam aus Polen, darunter ein ganzes Konvolut, das der Rechtsvertreter der Nebenkläger, der Kölner Strafrechtsprofessor Cornelius Nestler, zusammengetragen hat.
Exakte Beweise für Demjanjuks Tatbeteiligung konnten allerdings nach fast 70 Jahre nicht erbracht werden. Individuelle Straftaten konnten ihm nicht zugeordnet werden, aber die Schwurgerichtskammer war nach den 18 Monate dauernden Verhandlungen überzeugt, dass der Angeklagte sich als gefangener Rotarmist im polnischen Ort Trawniki zum „Hilfswilligen“ der SS hatte ausbilden lassen. Er hatte dann von Ende März bis Mitte September 1943 als Wachmann im Lager Sobibor gedient, wo er Teil der Vernichtungsmaschinerie war.
Es gibt zwar keine Überlebenden, die bezeugen könnten, was er genau getan hat. Aber die Richter bezweifelten nicht, dass Demjanjuk wie alle dort eingesetzten ausländischen Wachmänner und die ca. 30 deutschen SS-Leute an sämtlichen Phasen der Ermordung der Juden beteiligt war. Das fing beim Entladen der Deportationszüge an und hörte beim Hineintreiben der Männer, Frauen und Kinder in die Gaskammern sowie der Beseitigung der Leichen auf. Das Gericht vertrat die Auffassung, dass der Angeklagte sich durch Flucht der Mittäterschaft hätte entziehen können und daher die Taten mit zu verantworten habe.
Dass die Flucht möglich gewesen sei, geht aus Zeugenaussagen zweifelsfrei hervor. Spiegel online zitiert entsprechende Zeugenberichte: „Die ausländischen Helfer konnten sich überraschend frei bewegen, so erzählten es jedenfalls unter anderem Anwohner des Vernichtungslagers Sobibor. Die ‚Schwarzen’, wie die Trawnikis ihrer dunklen Uniformen wegen genannt wurden, verbrachten Teile des Tages ohne Aufsicht. Ein polnischer Eisenbahner beobachtete: ‚Die Wachmänner hatten nach dem Dienst frei, fuhren in die nahe gelegenen Dörfer zum Tanz und tranken dort Wodka. Das Geld dafür besaßen sie von den Gefangenen aus dem Lager’.
Über ihre grausame Arbeit sprachen die Trawniki offenbar ganz offen. Ein Gleisarbeiter berichtet, er habe bei einem Plausch mit einem Wachmann erfahren, ‚dass die mit den Transporten ankommenden Juden sich nackt ausziehen mussten und danach in Gaskammern geschickt wurden.’ Dass die Wachmänner tatsächlich das Mordgeschäft besorgten, wurde ebenfalls bezeugt.“
Laut Spiegel online wies der Nebenkläger-Anwalt Nestler nach, dass mindestens 160 der rund 1.500 namentlich bekannten Trawnikis aus dem Lager fliehen konnten. Dazu gab es viele Gelegenheiten. So habe die polnische Bäuerin Rozalia Krasowska berichtet, wie ihr Mann, ein Fischer, häufig flüchtige Wachmänner mit SS-Emblemen über den Fluss Wieprz bei Trawniki brachte.
Milde Strafe
Der Prozess gegen Demjanjuk war ein langwieriges und quälendes Verfahren, nicht nur, weil der Gesundheitszustand des Angeklagten oft für Unterbrechungen sorgte, sondern vor allem, weil die Beweisaufnahme sehr kompliziert war.
Die Staatsanwaltschaft warf Demjanjuk vor, er habe als „fremdvölkischer“ Wachmann in den sechs Monaten, die er in Sobibor verbrachte, Tausende von Juden aus insgesamt 15 Zügen aus den Niederlanden in die Todeskammern getrieben. Er habe „bereitwillig“ an der Tötung der Juden teilgenommen und dabei den „Rassevernichtungswillen der NS-Ideologie in sich aufgenommen“. Sie plädierte jedoch nur für eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren, obwohl die nach dem Gesetz mögliche Höchststrafe 15 Jahre beträgt.
Bei der Strafzumessung wurde berücksichtigt, dass Demjanjuk in Israel acht Jahre in Haft verbrachte, nachdem man ihn zu Unrecht beschuldigt hatte, er sei als „Iwan der Schreckliche“ an der Massenvernichtung im Vernichtungslager Treblinka beteiligt gewesen. Es stellte sich jedoch später heraus, dass es sich um eine Verwechslung handelte, und Demjanjuk wurde entlassen und für die Haft entschädigt. Außerdem hielt das Gericht Demjanjuk zugute, dass er als Kriegsgefangener der roten Armee möglicherweise wie 3,3 Millionen andere sowjetische Kriegsgefangene auch in den deutschen Lagern umgekommen wäre, wenn er sich nicht freiwillig in den Dienst der SS gestellt hätte.
Die frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch lobte das Münchner Urteil als „Zeichen für den funktionierenden deutschen Rechtstaat“. NS-Kriegsverbrecher wüssten nun, „dass sie zur Rechenschaft gezogen werden und dass sie sich für ihr Tun verantworten müssen“. Nach so langer Zeit sind allerdings nicht mehr all zu viele übrig geblieben.
Andere Prozessbeobachter zeigten sich dagegen verwundert über die relativ milde Strafe für die vielfache Beihilfe zum Mord und über die Haftentlassung. Ein Vertreter des israelischen Simon-Wiesenthal-Zentrums kommentierte die Aufhebung des Haftbefehls mit den Worten: „Das ist eine ganz fürchterliche Entscheidung.“
Zahlreiche Zeugen hatten die Verhandlungen als Nebenkläger verfolgt. Es handelte sich um Menschen, vor allem Niederländer, deren Angehörige in Sobibor umgebracht wurden. Auch wenn viele von ihnen Demjanjuk lieber weiter im Gefängnis gesehen hätten, empfanden sie doch eine gewisse Genugtuung darüber, dass der Prozess die Wahrheit über Sobibor ans Licht gebracht und zur Verurteilung eines Mitschuldigen geführt hatte.
Einer von 30 Nebenklägern, Rob Fransman, der beide Eltern in Sobibor verloren hat, empfand das Urteil als gerecht, stellt aber fest, dass die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen noch längst nicht beendet sei. „Einer von vielen ist jetzt verurteilt“, sagte Fransman der Süddeutschen Zeitung und fügte hinzu: „In den Altersheimen Deutschlands gibt es noch Hunderte Demjanjuks.“
Deutsche Justiz und NS-Verbrechen
Das relativ klägliche Urteil von München ist auch eine Folge des jahrzehntelangen Desinteresses der deutschen Politik und Justiz an der Verfolgung der NS-Verbrecher. So fand erst zwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Frankfurt der erste Auschwitzprozess statt.
Von den vielen Tausenden NS-Verbrechern wurden nur relativ wenige vor Gericht gestellt. Seit Kriegsende ermittelte die deutsche Justiz zwar in über 100.000 Fällen, aber nur 6.500 Beschuldigte wurden verurteilt. Gemessen an den monströsen Verbrechen, an denen sie beteiligt waren, erhielten sie meist recht geringe Strafen. In der Regel beriefen sich die Täter auf einen „Befehlsnotstand“, was die Gerichte anerkannten.
Auch viele SS-Leute, die in Sobibor Dienst taten, kamen straffrei davon. So verhandelte das Landgericht Hagen 1965 gegen zwölf solche SS-Leute und sprach fünf von ihnen frei. Der freigesprochene SS-Mann Erich Lachmann hatte im Prozessverfahren erklärt: „Ich fühle mich am Tode der in Sobibor umgekommenen Juden nicht schuldig, weil ich sie nicht vergast habe.“
Selbst der Ausbilder von Demjanjuk in Trawniki, SS-Sturmbannführer Karl Streibl, wurde 1976 vom Landgericht Hamburg freigesprochen. Die Richter glaubten Streibls Behauptung, er habe nicht gewusst, wofür die von ihm ausgebildeten Männer eingesetzt würden. Von der Judenvernichtung wollte er erst später erfahren haben. So oder ähnlich verliefen viele Verfahren.
Hinzu kommt, dass die deutsche Justiz nahezu nahtlos aus dem Nazireich in die Bundesrepublik übernommen wurde. Eine Verurteilung von Richtern oder Staatsanwälten, die willfährig Unrechtsurteile gefällt hatten, fand nicht statt. Viele konnten ihre Karriere unbehelligt fortsetzen oder gelangten – wie der Nazirichter Filbinger, der noch bei Kriegsende Todesurteile gegen Deserteure verhängt hatte – in hohe Staatsämter.
Was die ausländischen Gehilfen der Nazischergen und deren im Ausland begangene Straftaten anging, so lehnte die deutsche Justiz und Politik aus formaljuristischen Gründen lange Zeit jede Verfolgung ab.
So hatte das US-Office of Special Investigations 1982 dem deutschen Justizministerium mitgeteilt, dass mehr als hundert Männern und Frauen wegen ihrer Verwicklung in NS-Verbrechen die US-Staatsbürgerschaft aberkannt worden war. Doch Justizminister Jürgen Schmude (SPD) lehnte es ab, ihre Auslieferung zu verlangen und sie vor Gericht zu stellen. Er begründete dies damit, dass eine Auslieferung nur bei Straftaten zulässig sei, „die im Hoheitsgebiet des ersuchenden Staates begangen worden sind“. Wegen der Verjährungsfristen könnten ohnehin nur noch Mordtaten verfolgt werden. Zumindest um Beihilfe zu solchen Taten ging es jedoch wie jetzt im Prozess gegen Demjanjuk.
Demjanjuk ist der erste Ausländer, der von der deutschen Justiz verurteilt wurde, weil er im von der Wehrmacht besetzten Ausland NS-Verbrechen begangen hat. Sollte das Urteil rechtskräftig werden, wäre es möglich, noch weitere Trawniki-Wachmänner vor Gericht zu stellen, falls sie noch am Leben sind.
Dass es erst so spät zur Anklage und Verurteilung Demjanjuks kam, ist ebenfalls der langjährigen Verschleppungspraxis der deutschen Justiz und Behörden zu verdanken. Die „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ und andere Behörden zögerten jahrzehntelang, den zahlreichen Hinweisen auf seine NS-Verbrechen nachzugehen. So war spätestens 1993, nach der Aufhebung des Todesurteils in Israel, bekannt geworden, dass Demjanjuk Wachmann in Sobibor gewesen war, ohne dass die deutschen Behörden aktiv wurden.
Auch noch 2003 urteilte eine Delegation der „Zentralstelle“ nach einer zweiwöchigen Dienstreise nach Washington, wo sie Unterlagen gesichtet hatte, darunter auch die Dokumente über Demjanjuk: „Ein individueller Tatvorwurf ist aus den vorgelegten Unterlagen nicht ersichtlich.“ Mit dieser Begründung wurde der Fall weiter auf Eis gelegt. Erst 2008 eröffnete die Ludwigsburger „Zentralstelle“ ein Vorermittlungsverfahren.
Hans Holzhaider kommentierte am Tag nach der Urteilsverkündung diese Art des Umgangs mit NS-Verbrechen in der Süddeutschen Zeitung sehr treffend: „Als es noch Tausende Zeugen mit frischer Erinnerung gab, als Totschlag und Körperverletzung noch nicht verjährt waren, so lange es also aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen leicht gewesen wäre, die Gewalttäter des Naziregimes und deren Hintermänner zu ermitteln und abzuurteilen – so lange übte sich die deutsche Strafjustiz in striktester Zurückhaltung und penibelster Gesetzesexegese.“
So wurde denn fast schon zu spät Demjanjuk, dem „kleinsten der kleinen Fische“, wie es der emeritierte Strafrechtslehrer Christiaan F. Rüter der Universität von Amsterdam 2009 ausdrückte, erst im letzten Moment der Prozess gemacht und ein relativ mildes Urteil gesprochen. Dagegen kann oder konnte so mancher, der weit größere Verantwortung für die Verbrechen der Nazis trägt, in Ruhe seine Pension verzehren und seinen Lebensabend genießen.
siehe auch:
Vierzig Jahre nach dem Frankfurter Auschwitzprozess