Neue filmische Versuche zur DDR

Der Preis von Elke Hauck und Vaterlandsverräter von Annekatrin Hendel

Bei der diesjährigen Berlinale wurden auch zwei neue, bemerkenswerte Filme zur DDR von jungen Regisseurinnen vorgestellt, die selbst in der DDR aufgewachsen sind.

Was hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin? Wie sind wir dahin gekommen, wo wir heute sind? Wie viel Vergangenheit steckt in der Gegenwart? Der Spielfilm Der Preis von Elke Hauck (geb. 1967) befasst sich mit ihrer eigenen Generation, die 1990 ohne Bedauern von der DDR Abschied nahm, „weil das Neue viel spannender war“, und nun, wie es im Pressematerial heißt, „mit zwiespältigen Gefühlen wagt zuzugeben, wo ihr Anfang lag“.

Alex, ein im Westen Deutschlands lebender Architekt hat einen Preis für sein Projekt, die Umgestaltung einer alten ostdeutschen Plattenbausiedlung im thüringischen Gera, gewonnen. Es ist die Plattenbausiedlung, in der er heranwuchs, wo Dinge passierten, die er lange verdrängt hat: Sein bester Schulfreund Michael nahm sich damals das Leben und Alex fühlt sich mitschuldig.

Der Preis Der Preis

Es war die Zeit kurz vor der Wende. Michael spürt die große Kluft zwischen den offiziellen Erfolgsparolen über den Aufbau des Sozialismus und der nüchternen Realität. Er stellt in der Schule unbequeme Fragen, die unbeantwortet bleiben, wird Punk, gibt sich als Anti-Kommunist und liest die westdeutsche „Bravo“. Schließlich droht er, in die Kleinkriminalität abzugleiten. Als die Schule darüber entscheidet, ob Michael an die Sportschule delegiert wird, ist auch Alex als FDJ-Sekretär der Klasse dabei. Während eine Lehrerin dafür plädiert, ihm eine Chance zu geben, spricht sich Alex gegen Michael aus, er sei menschlich noch nicht „reif“.

Der wirkliche Grund ist allerdings privater Natur. Alex rächt sich, weil Michael mit dem „systemkonformen“ Alex nichts mehr zu tun haben will und ihm den Umgang mit seiner Schwester Nicole untersagt, in die Alex verliebt ist.

In ruhigen Bildern schildert der Film die Geschichte. Immer wieder wechselt er von der Gegenwart in die Vergangenheit der damaligen DDR-Jugendlichen, als noch nicht abzusehen war, was später aus jedem einzelnen einmal werden würde – oder doch? Eine einst beflissene FDJlerin, wird zur devot-beflissenen Hotelangestellten, und Alex, der sich gut in der DDR einfügte, kommt auch in der kapitalistischen Welt ganz gut zurecht.

So unvermittelt mit der Vergangenheit konfrontiert, fühlt er sich allerdings unwohl und grenzt sich nun besonders gegenüber den ehemaligen alten „Bonzen“ der ostdeutschen Wohnungsgesellschaft ab. Am Ende des Films ist er weicher, hat sich mit Nicole ausgesprochen und lenkt auch gegenüber der Wohnungsbaugesellschaft ein, die kostensenkende Veränderungen im Bauprojekt fordert. Die Mieter wollten ohnehin keine Veränderungen aus Angst vor Mieterhöhungen.

Die präsente Filmfigur ist Michael. Er hat klare Konflikte mit der DDR, reagiert empfindlich auf das offizielle Schönfärben und Lügen. Der schwankende Schüler Alex, der schließlich zum Verräter wird, wirkt weniger anziehend.

Charakterlich noch nicht gefestigt, lernt Alex als FDJ-Sekretär der Klasse, so genannte gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Unter dem Schutz der FDJ kann er sich über die Mitschüler und Michael erheben und muss nicht Rechenschaft ablegen. Die Regisseurin hinterfragt nicht diese Funktionsweise des stalinistischen Apparats. In einem Interview sagt sie, sie wolle „die Schuld nicht dem Apparat an sich zuweisen“, denn es habe einfach in der DDR auch „Anpassung“ und „Nichtanpassung“ gegeben. Das Pressematerial zum Film nennt es „Verantwortung im Kleinen“.

So hinterlässt Der Preis einen zwiespältigen Eindruck: Er bezeugt Achtung vor der persönlichen Geschichte ehemaliger DDR-Bürger und zeigt die Schwierigkeiten, mit denen Jugendliche in der DDR zu kämpfen hatten, tendiert aber dazu, ihre Probleme zu einer psychologischen Frage des Charakters einzelner Personen zu machen. Oder wie Elke Hauck in einem Interview mit baerlinale2011.de sagt; „Der eine ist angepasster und kommt deshalb mit dem Leben besser klar als der Unangepasstere.“ Die persönliche Korrumpierung und der Verrat zahlreicher Menschen in der DDR sind jedoch nicht zu erklären, ohne die Rolle der stalinistischen Bürokratie zu verstehen. Ihre Behauptung, sie vertrete die Interessen der Arbeiterklasse und baue den Sozialismus auf, war eine Lüge, die dazu diente, jede demokratische Kontrolle von unten zu unterdrücken.

Immerhin hat sich offenbar in der Generation, die nach dem Zusammenbruch der DDR begeistert in die neue Welt der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten aufbrach, Nachdenklichkeit breitgemacht. Die Sympathie für diejenigen, die sich nicht an die herrschenden Verhältnisse anpassen, wächst. So gesehen ist die DDR auch Synonym für die heutige, kapitalistische Realität 20 Jahre danach.

Vaterlandsverräter, ein Dokumentarfilm von Annekatrin Hendel befasst sich mit dem einstigen DDR-Schriftsteller und Stasi-Spitzel Paul Gratzik, geb. 1935, der heute als Rentner zurückgezogen auf einem Hof in der Uckermark lebt.

Vaterlandsverräter Vaterlandsverräter

Gratzik kommt aus einer armen Landarbeiterfamilie, erlebt als Kind in Mecklenburg die Bombardements der Alliierten, absolviert eine Tischlerlehre, arbeitet u. a. im Braunkohletagebau, beginnt 1963 ein Lehrerstudium, arbeitet als Erzieher. Ab 1971 ist er freier Schriftsteller, arbeitet nebenbei in der Produktion, wird Vertragsautor des renommierten Berliner Ensembles. Das Jahr nach dem Bau der Berliner Mauer ist für ihn bedeutsam. 1962 wird er FDJ-Funktionär in Weimar, gleichzeitig Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi. Die Stasi sorgt dafür, dass sein Roman „Transportpaule“ (1977) gedruckt wird, sein zweiter Roman „Kohlenkutte“ erscheint 1982 im Westen.

Nach 20 Jahren IM-Tätigkeit wird er Anfang der achtziger Jahre zum „Vaterlandsverräter“, steigt aus und informiert Kollegen über die Stasi-Tätigkeit. Er hält die Stasi für „konterrevolutionär“, wird nun selbst beschattet von einem Schriftsteller-Kollegen, den er früher förderte (und beschattete) und lebt in Angst vor einem Mordanschlag der Stasi. Gratzik gibt sich im Film zynisch, hält sich für verkommen, aber gleichzeitig für einen Kommunisten.

Zu den interessanten Momenten des Films gehören Hinweise auf die enge Verquickung der Berliner Theater- und Literaturszene mit der Stasi. Die ehemalige Lektorin des Westberliner Rotbuchverlags, die 1982 Gratziks Kohlenkutte herausbringt, erklärt im Film, ein sehr großer Prozentsatz der DDR-Literaturszene sei mit der Stasi verstrickt gewesen.

Dabei war Gratzik kein charakterloser Karrierist, sondern verstand sich als Sozialist, der die DDR verbessern wollte und in seinen Büchern durchaus kritische Töne anschlug. Selbst seine IM-Tätigkeit nutzte er für Kritik. So setzt er sich in einem Spitzelbericht über den Dramatiker Heiner Müller gleichzeitig für ihn ein. Wir erfahren durch den Film, dass die Stasi bewusst Leute wie Gratzik zu gewinnen suchte, die neben ihrer Loyalität gegenüber der DDR auch einen kritischen Geist bewahrt hatten.

In Gratziks Kopf bohrte immer der Satz seiner Mutter: „Der größte Feind im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant.“ Doch erst nach der Ausweisung des Liedermachers Wolf Biermann 1976, so die Regisseurin im Interview, trug er sich mit dem Gedanken auszusteigen.

Das spezielle Verhältnis vieler Künstler zur Stasi wirft die Frage auf, was die intellektuelle „DDR-Opposition“ während der Wende unter einer demokratischen DDR verstand, die die Mehrzahl damals propagierte. Die Schauspielerin Steffi Spira, die, wie der Zuschauer erfährt, in engem persönlichen Kontakt zu Gratzik stand und durch seine Ausstiegsabsicht von dessen IM-Tätigkeit erfuhr, wurde 1989 populär durch ihre Rede auf der Kundgebung am 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz, wo sie sich für einen zukünftig menschlicheren Sozialismus „ohne Fahnenappell“ aussprach.

Es ist ein Verdienst des Films, dem Publikum einen so widersprüchlichen und in sich zerrissenen Menschen wie Gratzik vorzustellen. Neben dem schnell aufbrausenden Schriftsteller gewann die Regisseurin Zeitzeugen, ehemalige Kollegen, Freunde. Dass sie auch den damaligen Führungsoffizier Gratziks vor die Kamera bekam, bereichert den Film und ist eine echte Rarität. Gratzik selbst erweist sich im Film als ein ganz anderes Kaliber als die schattenhafte ‚graue Maus’ aus Das Leben der anderen (2006) von Florian Henckel von Donnersmarck. Dieser Stasi-Offizier hatte viel von einer Kunstfigur.

Aber auch dieser Dokumentarfilm behandelt seine Protagonisten nicht als Vertreter einer bestimmten historischen Zeit. Schon der Filmtitel Vaterlandsverräter führt, nimmt man ihn ernst, in die Irre. Gratzik verrät die DDR nicht, sondern verteidigt sie bis zum Schluss.

Als Gratzik im Film gegenüber der Regisseurin selbstzufrieden erklärt, man müsse erst die großen Weltzusammenhänge verstehen, um ihn beurteilen zu können, weicht diese aus. Die Homepage zum Film charakterisiert Gratzik gar als Mann, den man gleichzeitig „verfluchen und gern haben muss“. War Gratzik doch tragisches Opfer, das sich für eine vermeintlich gute „Utopie“ eingesetzt hat? Gratzik selbst zeigt gegen Ende des Films eine gewisse Genugtuung. Als alter Kader ist er gewohnt, auf Stimmungen in der Bevölkerung zu achten und hat richtig bemerkt, dass das Thema Sozialismus angesichts der gegenwärtigen kapitalistischen Krise wieder an Interesse gewinnt. Im Publikum stießen seine Attacken auf den Kapitalismus auf Sympathie.

Während Der Preis eine ambivalente Haltung zur DDR einnimmt, zeigt Annekatrin Hendel Anerkennung für den ‚Idealismus’ Gratzkis. Es sollte kein Film darüber werden, so die Regisseurin, „wie schlimm es war in der DDR“. Sie wollte vielmehr an Hand eines Täters zeigen, „wie absurd die DDR war. (...) Der Spitzel war der Bespitzelte.“ Diese Erkenntnis geht jedoch nicht sehr weit.

Die absurden Züge der DDR-Gesellschaft in ihrer Endphase waren Ausdruck des Bankrotts der stalinistischen Politik. Hinter den Parolen der Regierung, den „Lauf des Sozialismus halte niemand auf“, verbarg sich die größte Angst vor einer Bewegung von unten. Sie reagierte mit hysterischer Bespitzelung der Bevölkerung und stellte gleichzeitig die Weichen für die Wiedereinführung kapitalistischer Verhältnisse.

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