Am 31.Juli starb in Rom die berühmte Drehbuchautorin Suso Cecchi d’Amico im Alter von 96 Jahren. Sie war eine der letzten Veteranen jenes „goldenen Zeitalters des italienischen Kinos“, das 1943 mit dem Zusammenbruch von Mussolinis faschistischem Regime begann und bis in die frühen 1960er Jahre dauerte.
Die talentierte d’Amico schrieb im Verlauf ihrer sechzigjährigen Karriere über 110 Drehbücher, und viele davon wurden wahre Meisterwerke. Neunmal gewann sie das Silberne Band, einen italienischen Kinopreis, für das beste Drehbuch, und 1994 wurde ihr auf dem Filmfestival von Venedig der Goldene Löwe für ihr Lebenswerk übereicht.
Giovanna oder “Suso” Cecchi wurde 1914 in eine toskanische Familie der oberen Mittelklasse hineingeboren und wuchs in einer hochkulturellen Umgebung auf. Ihr Vater, Emilio Cecchi, war Schriftsteller und ein bekannter Literaturkritiker; ihre Mutter, die Malerin Leonetta Pieraccini, stammte aus einer bekannten Theaterfamilie.
Suso studierte in der Schweiz und in England und bewegte sich schon in jungen Jahren in der Kinowelt, da ihr Vater in den 1930ern Chef von Cines wurde, einer großen italienischen Filmproduktion. Sie sprach fließend Französisch und Englisch und arbeitete acht Jahre als Übersetzerin für das italienische Industrieministerium. 1938 heiratete sie Fedele d’Amico, ein Mitglied der christlichen Linksfraktion des antifaschistischen Widerstands, der eine Untergrundzeitung herausgab.
Suso d’Amico arbeitete mit ihrem Vater an der Übersetzung von Shakespeare und von Thomas Hardys Jude the Obscure (Herzen in Aufruhr). Mitte der 1940er Jahre übersetzte sie mehrere fremdsprachige Stücke, die Luchino Visconti auf die Bühne brachte. Darunter waren Werke von Jean-Paul Sartre, Marcel Achard, Jean Cocteau, Jean Anouilh, wie auch Ernest Hemingways Fünfte Kolonne über den spanischen Bürgerkrieg.
1946 begann d’Amico, Drehbücher zu schreiben. Ihre ersten Lorbeeren erntete sie für Renato Castellanis Mio figlio professore (Mein Sohn, der Professor), worauf zwei Bücher für Luigi Zampa folgten: Vivere in Pace (In Frieden leben), eine Tragikomödie über das italienische Landleben während der deutschen Besatzung, und den kommerziell erfolgreichen L’onorevole Angelina (Der Abgeordnete Angelina) mit Anna Magnani in der Titelrolle.
Ihre eigene Geschichte und ihre linksliberale Überzeugung trieben d’Amico naturgemäß in die neorealistische Bewegung. Dies führte zu ihrer Beteiligung an den Ladri di biciclette (Die Fahrraddiebe) von Vittorio de Sica. Der Film über einen Arbeitslosen und seinen siebenjährigen Sohn ist ein Meilenstein der Kinogeschichte. Wie bei vielen italienischen Filmen dieser Zeit war ein Team von mindestens sechs Autoren um den neorealistischen Theoretiker Cesare Zabattini an der Entstehung der Fahrraddiebe beteiligt.
D’Amico machte nie viel Aufhebens aus ihrem Beitrag zu diesem Film. Aber die Schlussszene dieses bahnbrechenden Werks geht auf eine Initiative von d’Amico zurück: Der Vater versucht, ein Fahrrad zu stehlen, was den Sohn schockiert und mit Scham erfüllt. Es ist einer der anrührendsten Momente im Nachkriegsfilm überhaupt.
Später sagte sie einmal über diese Zeit: „Bei diesen Filmen, die wir im Neorealismus drehten – oder was man so Neorealismus nennt – hatten wir kein Geld, also drehten wir auf der Straße oder in Häusern. Wir konnten uns keine Schauspieler leisten, und es gab auch nicht viele Schauspieler, weil das Theater auf einem sehr armseligen Niveau war. Außerdem waren alle Theater durch Bomben zerstört. Also suchten wir einfach Leute auf der Straße. Man sah eine Person, die für die Rolle passte, und fragte sie, ob sie spielen wolle. So einfach war das.
Erst später kamen andere Leute an einem anderen Ort in der Welt auf die Idee und nannten dies ‘Neorealismus’ und schrieben viele Bücher darüber. Aber trotzdem waren wir nur eine kleine Gruppe von Freunden, die einfach Filme machen wollten und dazu auf die Straße gingen. Wenn es damals schon so viele Zeitungen und Magazine gegeben hätte wie heute, wären vielleicht einige von uns Journalisten geworden, statt Filme zu machen. Aber es gab nicht viel Papier, und Filme zu drehen war nicht teuer. Wir wollten hauptsächlich unsere Geschichten über unsere Erfahrungen dieser Zeit erzählen.“
D’Amico arbeitete auch an de Sicas Miracolo a Milano (1951, Das Wunder von Mailand), in dem es um Armut und Obdachlosigkeit geht. Der Film erntete jedoch Kritik bei den Neorealisten, weil sie seine phantastischen Szenen nicht mochten und das Ende „zu sentimental“ fanden.
Laut der neorealistischen Doktrin mussten Filmemacher sich ganz auf das Leben der Unterdrückten konzentrieren. Nicht überraschend, widersetzte sich d’Amico (und nicht nur sie) bald dieser Vorschrift und anderen ästhetischen Einschränkungen, was zu einer künstlerisch fruchtbaren und lebenslangen Zusammenarbeit mit Visconti führte. Diese begann mit Bellissima, einer Satire des Regisseurs über die italienische Filmindustrie und die verzweifelten Versuche einer werktätigen Mutter (Anna Magnani), ihre Tochter berühmt und reich zu machen.
Wie Visconti bezog auch d’Amico ihre Quellen künstlerischer Inspiration hauptsächlich aus der Literatur, aus Werken von Leo Tolstoi, Fjodor Dostojewski, Thomas Mann, Marcel Proust oder Gustave Flaubert. Ihr nächstes Drehbuch für Visconti schrieb sie für den opulenten und meisterhaften Film Senso (1954, Sehnsucht). Die aufwändige Produktion nach dem gleichnamigen Roman von Camillo Boito markierte definitiv den Bruch des Regisseurs mit der neorealistischen Periode. Der Film spielte im Venedig von 1866 und wurde in Farbe gedreht, die Musik war Verdi nachempfunden, und 1.300 Schauspieler, 8.000 Statisten und 2.100 Reiter wirkten mit.
Als nächstes kam d’Amicos Drehbuch für Viscontis Film Le notti bianche (1957, Weiße Nächte), nach einer Kurzgeschichte von Dostojewski, und dann ihr liebster Film, Rocco ei suoi fratelli (Rocco und seine Brüder), der „dem alltäglichen Elend eines Berufsboxers eine dramatische Wende verlieh, die auch Dostojewski wohl angestanden hätte“, wie ein Kritiker sagte. Für Nadia, eine tragische Prostituierte in dem Film, gab in der Tat eine Figur in Dostojewskis Der Idiot das Vorbild ab.
In dieser Zeit produzierte d’Amico Drehbücher – Melodramen, Komödien und Politkrimis – für alle führenden italienischen Filmemacher, zum Beispiel Michelangelo Antonioni (1953 La signora senza cameglie und 1955 Le amiche / Die Freundinnen), Luigi Comencini (1956 La finestra sul Luna Park / Fenster zum Lunapark), Mario Monicelli (1958 I soliti ignoti / Diebe haben’s schwer und 1960 Risate di gioia / Dieb aus Leidenschaft) bis hin zu Francesco Rosi (1958 La sfida / Die Herausforderung, 1959 I magliari / Auf St. Pauli ist der Teufel los und 1962 Salvatore Giuliano) und viele andere.
Im Jahr 1963 arbeitete d’Amico mit Visconti zusammen am Drehbuch für Il gattopardo (Der Leopard), den Film nach dem berühmten Roman von Giuseppe Tomasi di Lampedusa. Dies war ohne Zweifel ihr wichtigstes Drehbuch. Es fing brillant das Ende der Ära aristokratischer Privilegien ein und stellte den Aufstieg der italienischen Bourgeoisie dar.
D’Amico schlug vor, den Epilog in Lampedusas Roman wegzulassen, und überzeugte Visconti, den Film mit einer ausgedehnten Ballszene der höhern Gesellschaft von Palermo abzuschließen.
Die abschließenden Filmsequenzen, so erklärte sie später, hätten die Aufgabe, „im Tanz und durch den Rhythmus des Films ein Gefühl von Tod und Dekadenz zu vermitteln, ohne den Roman zu verfälschen, und zu zeigen, was aus Tancredi [dem Sohn des sizilianischen Aristokraten] und Angelica [der Tochter des Bourgeois am Ort] schließlich werden würde. … Der Roman ist letztlich die Geschichte der ersten Zeit, in der sich unterschiedliche Klassen in Italien mischen.“
Die Arbeit mit Visconti brachte weitere Werke hervor: Lo straniero (1967, Der Fremde), Ludwig (1972, Ludwig II), und sein letzter Film: L’Innocente (1976, Die Unschuld). Visconti und d’Amico planten, Marcel Prousts A la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) zu verfilmen, doch konnte dies nicht mehr verwirklicht werden, weil der Regisseur 1976 starb.
D’Amico arbeitete beinahe bis zu ihrem Tod weiter. Zwischen 1976 und 2006 schrieb sie noch über dreißig Drehbücher, darunter eins für Martin Scorseses My Voyage to Italy (1999), eine sinnvolle und interessante Übersicht über italienisches Kino. Auch assistierte sie dem britischen Regisseur Derek Jarman, als dieser Caravaggio (1986) drehte.
Die entwaffnend bescheidene d’Amico versuchte niemals, ihre Verdienste oder das Drehbuchschreiben selbst zu beschönigen, und bestand darauf, es sei „ein Handwerk, keine Kunst“. Sie betonte jedoch, ein Drehbuchautor müsse „mit seinen Augen schreiben“, und in der letzten Zeit kritisierte sie oft den Niedergang der Filmkultur.
Als man sie 1999 fragte, ob ernsthaftes, qualitativ hochstehendes Kino in Gefahr sei, antwortete sie offen: “Ja, denn wir haben nur noch mittelmäßige Filme. … Leider leben wir nicht in einer Zeit, die dem Kino günstig ist. Das Unglück besteht darin, dass es zu teuer ist, Filme zu produzieren. Man wird zu vorsichtig, und es gibt keine Produzenten mehr. Es ist zum Geschäft geworden, eine Industrie.
Hätte ich Kino damals nicht für eine Kunst gehalten, dann wäre es wohl heute keine Industrie des schlechten Geschmacks. Der Grund ist zum Teil, dass das Fernsehen das Intelligenzniveau herunterdrückt, es immer schlechter, schlechter, schlechter macht. Wir brauchen unser Hirn nicht mehr anzustrengen, und die Leute sind mit dem Fernsehen zufrieden. … Es ist wichtig, dass man Filme für sich selbst macht, ohne über den Profit nachzudenken. Die Hauptsache ist, man ist selbst zufrieden mit dem, was man geschaffen hat.“
D’Amico führte eine ästhetische Intelligenz, Humanität und soziales Bewusstheit ins Kino ein, die der heutige Film schon lange verloren hat. An ihrer Beerdigung in Rom würdigte Mario Monicelli Suso Cecchi d’Amico al Schlüsselfigur ihrer Generation, die mit andern zusammen dazu beigetragen hatte, „einen neuen Weg zu zeigen, wie die Dinge angepackt wurden, wie produziert wurde. … Nun, wo sie von uns gegangen ist, fühle ich mich sehr allein“.