Alexander Rabinowitch, „Die Sowjetmacht. Das erste Jahr“, 677 Seiten mit Abbildungen,
Gebunden mit Schutzumschlag, € 34,90 [D], € 35,90 [A], ISBN: 978-3-88634-090-3
Der Mehring Verlag hat The Bolsheviks in Power: The First Year of Bolshevik Rule in Petrograd des amerikanischen Historikers Alexander Rabinowitch in deutscher Übersetzung herausgebracht. Es kann jetzt über den Buchhandel bezogen oder beim Verlag bestellt werden. Die deutsche Ausgabe enthält eine Zeittafel, eine Bibliografie und ein Sach- und Personenregister.
Die folgende Besprechung des Buches, die wir hier erneut veröffentlichen, wurde 2007 anlässlich des Erscheinens der amerikanischen Ausgabe verfasst.
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Eine bedeutende Studie über das erste Jahr der Sowjetmacht
aus dem Englischen (9. November 2007)
Zum 90. Jahrestag der Oktoberrevolution erschien The Bolsheviks in Power von Alexander Rabinowitch, emeritierter Professor an der Indiana University. Dieses Werk wird auf Jahre hinaus Maßstäbe setzen für die geschichtswissenschaftliche Forschung über die sozialen und politischen Folgen, die sich aus dem Sturz der bürgerlichen Provisorischen Regierung und der Machtübernahme der Bolschewiki ergaben.
Im Gegensatz zu vielen anderen Akademikern, die sich bei der Auseinandersetzung mit der Geschichte der Sowjetunion an das derzeitige, von wissenschaftlicher Unredlichkeit und Zynismus geprägte Klima anpassen, hat sich Professor Rabinowitch seine Integrität als Historiker bewahrt. Er leistet einen wichtigen Beitrag zur Erforschung des ersten Jahres, in dem die Bolschewiki in Petrograd, der Wiege der Revolution, die Macht in Händen hielten. Mit dieser Würdigung soll sein Buch allerdings nicht von ernsten Mängeln freigesprochen werden. Auffallend ist in dieser Hinsicht das Fehlen eines theoretischen Fundaments, das Professor Rabinowitch befähigt hätte, die beeindruckende Menge an faktischen Details, die er ausbreitet, zu einem geschlossenen Ganzen zu ordnen. Natürlich sollen die Tatsachen nicht in ein vorgefasstes ideologisches Schema gepresst werden. Aber es gilt doch den historischen Zusammenhang zu beleuchten, der den Rahmen für politische Entscheidungen und Handlungen bildete. Wo dieser Zusammenhang ungenügend herausgearbeitet ist, kommt es bisweilen zu einer einseitigen Einschätzung der Ereignisse. Obwohl Professor Rabinowitch seiner wissenschaftlichen Zielsetzung treu bleibt, verfängt er sich zuweilen in den Fallstricken eines übersteigerten Empirismus.
Doch es gilt die unzweifelhaften Stärken des Buches zu würdigen. Rabinowitch hat in der Vorbereitung dieses Bandes über zwanzig Jahre hinweg eine gewaltige Forschungsarbeit geleistet. Im Vorwort erklärt er, wie er schon kurz nach Erscheinen seiner beiden früheren Werke Prelude to Revolution: The Petrograd Bolsheviks and the July 1917 Rising (1968) sowie The Bolsheviks Come to Power: The Revolution of 1917 in Petrograd (1976) die Rohfassung des vorliegenden Bandes entwarf. Er fand sie unbefriedigend, weil ihm besonders für das Jahr 1918 viel zu wenig Archivmaterial zur Verfügung stand. Nie hatte er damit gerechnet, Zugang zu den damals noch verschlossenen Archiven der Sowjetunion zu erhalten. Von daher war er sehr überrascht, als 1989 in Moskau eine russische Ausgabe von The Bolsheviks Come to Power erschien. Plötzlich öffneten sich einige Türen. 1991 erhielt er die Erlaubnis, in den Archiven der Regierung und Kommunistischen Partei in Moskau und danach in Leningrad zu arbeiten. 1993 erhielt er sogar Zugang zu den ehemaligen KGB-Archiven.
Das Material, das er dabei zum ersten Mal sichten konnte, ergibt eine lange Liste: Versammlungsprotokolle des Petersburger Komitees der Bolschewiki aus dem Jahr 1918 und von weiteren Parteiversammlungen in der Stadt; Protokolle von Bezirkskomitees der Bolschewistischen Partei; Versammlungsprotokolle des Rats der Volkskommissare (Sownarkom), stenographische Aufzeichnungen von wichtigen Sitzungen des Petrograder Sowjets und seiner Führungsgremien; Versammlungsprotokolle von Petrograder Bezirkssowjets; interne Memoranden; Korrespondenz; persönliche Aufzeichnungen wichtiger Führer der Bolschewiki; Fallakten der Allrussischen Außerordentlichen Kommission für den Kampf gegen Konterrevolution und Sabotage (WTscheka) usw. Zu diesem Archivmaterial kommt noch eine umfangreiche Liste weiterer Druckmaterialien hinzu: 51 Zeitungen (darunter einige außerordentlich seltene Exemplare), 31 Zeitschriften und Periodika und 14 Seiten bibliographischer Hinweise auf publizierte Dokumente, Tagebücher und Memoiren, Sekundärliteratur, Nachschlagewerke und vieles mehr. Welche Erkenntnisse nun hat dieses beeindruckende Forschungsprojekt gezeitigt?
Bereits in seinen ersten beiden Werken hatte Rabinowitch zum Verdruss vieler etablierter Historiker nachgewiesen, dass die Oktoberrevolution kein Militärputsch war, den Lenin mit einer kleinen Bande von Fanatikern angezettelt hätte. Rabinowitch hatte im Gegenteil festgestellt, „dass die Bolschewistische Partei in Petrograd 1917 zu einer Massenpartei herangewachsen war und keineswegs eine monolithische Bewegung darstellte, die sich im Gleichschritt hinter Lenin eingereiht hätte. Ihre Führung bestand vielmehr aus einem linken, einem zentristischen und einem gemäßigten Flügel, die alle dazu beitrugen, eine revolutionäre Strategie und Taktik zu entwickeln“. (S. x) Er verwies auf die Faktoren der „organisatorischen Flexibilität der Partei, ihrer Offenheit und Aufgeschlossenheit für die Anliegen der Bevölkerung sowie ihrer engen und sorgfältig gepflegten Verbindungen zu Fabrikarbeitern, Soldaten der Petrograder Garnison und Matrosen der Baltischen Flotte“. (S. x) In eindeutigen Formulierungen benannte er „die unwiderstehliche Anziehungskraft der Versprechen der Bolschewiki – sofortiger Frieden, Brot, Land für die Bauern und Basisdemokratie durch Mehrparteiensowjets“. (ebenda)
Rabinowitch hatte jedoch den Eindruck, dass ungeachtet der Verdienste seiner früheren Analyse eine entscheidende Frage unbeantwortet geblieben war: Wie konnte es sein, dass sich eine so demokratische und dezentralisierte Partei mit entsprechender Politik binnen Kurzem in eine aus Sicht des Historikers autoritäre und zentralisierte Organisation verwandelte? Was kennzeichnete den politischen Prozess, der die Sowjetdemokratie – das ursprüngliche Ziel der Bolschewiki – binnen einer relativ kurzen Frist scheitern ließ?
Diese Fragen versucht das Buch zu beantworten. Jedes seiner vier Teile umfasst etwa hundert Seiten und ist in drei oder vier Kapitel gegliedert. Im Mittelpunkt steht Petrograd, der Zeitrahmen beträgt ein Jahr, und die Analyse widmet sich – zuweilen mit einer verwirrenden Fülle an Einzelheiten – Parteien, Organisationen und Personen, die zum Teil wenig bekannt sind oder bisher vernachlässigt wurden.
Der Detailreichtum wirft jene zentrale Frage der Interpretation auf, die bereits oben angesprochen wurde. Wenn Rabinowitch zum Beispiel die Veränderung der strukturellen Beziehung zwischen der großen Zahl von Partei- und Sowjetorganisationen beschreibt, verliert sich der Leser leicht in der schieren Menge an Einzelheiten. In solchen Momenten spürt man, dass es trotz des reichhaltigen Faktenmaterials – oder vielleicht gerade deswegen –schwer ist, den theoretischen Rahmen auszumachen, welcher der Darstellung des Autors zugrundeliegt. Insgesamt ist Rabinowitch stets um aufrechte und konsequente Objektivität bemüht, aber sein Thema, das erste Jahr der bolschewistischen Herrschaft in Petrograd, kann durch eine vorwiegend empirisch geprägte Herangehensweise nicht erschöpfend behandelt werden. Schon vor mehr als 50 Jahren machte Carr darauf aufmerksam, dass der Historiker die Fakten, die er als historisch wertet, selbst benennt. Bei ihrer Auswahl kommt ein bestimmter begrifflicher Rahmen zum Tragen. So stellt sich beispielsweise die Frage, welche Perspektive der Historiker einnimmt, um das Wesentliche vom Unwesentlichen, das Notwendige vom Zufälligen zu unterscheiden.
Der marxistische Leser kann aus dem von Rabinowitch präsentierten Material viel lernen, selbst wenn er an einigen wichtigen Stellen dessen politische Bedeutung anders einschätzt. Immerhin waren in den Jahren, als dieses Buch geschrieben wurde, Darstellungen der Geschichte der Sowjetunion hauptsächlich von zwei lähmenden Tendenzen geprägt: Zum einen der Jahrzehnte alten Schule der stalinistischen Fälschung, die nicht nur in der ehemaligen Sowjetunion nach wie vor dominierte; und zum anderen der „Pro-Demokratie“-Richtung, die die Oktoberrevolution ablehnte und die Sowjetunion als ein gescheitertes Menschheitsexperiment ansah. Diese Tendenz machte aus Personen wie Lenin und Trotzki Erzschurken, die die „normale Entwicklung“ Russlands zu einer westlichen Demokratie aufgehalten hätten. Zwar lehnt Rabinowitch beide Tendenzen unzweideutig ab, musste ihnen bei seinen Archivforschungen jedoch ohne Zweifel Rechnung tragen. Die bloße Tatsache, dass er eine große Menge Archivmaterial zutage gefördert hat – auch die Namen von wichtigen Akteuren, von denen viele aus der offiziellen sowjetischen Geschichtsschreibung getilgt worden waren – stellt eine bedeutsame Leistung dar. Doch wenden wir uns nun dem Inhalt seines Buchs zu.
Im ersten Teil geht es um den Sturz der Provisorischen Regierung durch die Bolschewiki am Vorabend des Zweiten Gesamtrussischen Sowjetkongresses und die anschließenden Bemühungen um die Bildung einer neuen sozialistischen Regierung. Wenn Rabinowitch über die „Niederlage der Gemäßigten“ spricht, bezieht er sich nicht nur auf moderate Kräfte außerhalb der Bolschewistischen Partei. Er beschäftigt sich auch ausführlich mit der Opposition gegen die Politik Lenins und Trotzkis in den Reihen der Bolschewistischen Partei selbst.
Rabinowitch hebt immer wieder hervor, dass Lenin und Trotzki in den Jahren 1917 und 1918 durchgehend eng zusammenarbeiteten und an der Spitze des linken Parteiflügels standen: „Für sie war die Errichtung einer revolutionären Sowjetregierung in Russland kein eigenständiges Ziel, sondern der Auftakt zur unmittelbar bevorstehenden sozialistischen Weltrevolution.“ (S. 3) Nur kurz streift er die Parteimitte (Bersin, Bubnow, Urizki, Swerdlow) und widmet sich dann über viele Seiten hinweg dem Verhalten der „gemäßigten“ Parteiführer, unter ihnen Kamenew, Sinowjew, Miljutin, Rykow, Bogin und Lunatscharski. Ihnen schlossen sich im Juli 1917 wiederum führende linke Menschewiki an, darunter Larin, Losowski und Rjasanow.
Man spürt, dass der Historiker Sympathien für die Gemäßigten hegt. Aus dem Material, das Professor Rabinowitch präsentiert, lässt sich allerdings schwerlich ableiten, wie deren Bemühungen um einen politischen Kompromiss mit den Menschewiki hätten Erfolg haben können, ohne den Sturz der Provisorischen Regierung rückgängig zu machen. Der Historiker erwähnt, dass das Zentralkomitee der Menschewiki nur zwei Tage nach der Entmachtung der Provisorischen Regierung eine „unversöhnlich gehaltene Resolution“ annahm, die „jegliche Verhandlungen mit den Bolschewiki vor der endgültigen Niederschlagung ihres ‚Abenteuers‘“ untersagte. (S. 36) Ausgehend von der Annahme, dass die Bolschewiki isoliert werden könnten, forderte diese Resolution des Weiteren, „dem MRK [Militärischen Revolutionskomitee unter dem Vorsitz Trotzkis] die sofortige Kapitulation anzutragen. Im Gegenzug sollte die persönliche Unversehrtheit seiner Führer garantiert und die Entscheidung darüber, ob sie vor Gericht gestellt werden sollten, der Konstituierenden Versammlung überlassen werden“. (ebenda)
Jeder wusste, dass die Forderungen der Menschewiki, wären sie erfüllt worden, direkt zu einem konterrevolutionären Blutbad geführt hätten. Rabinowitch zitiert eine entsprechende Warnung von A. A. Blum, einem Mitglied der eher linken Menschewiki-Internationalisten, gegenüber den Delegierten des „Allrussischen Komitees zur Rettung des Vaterlands und der Revolution“: „Haben Sie sich überlegt, was eine Niederlage der Bolschewiki bedeuten würde? Das Handeln der Bolschewiki ist gleichbedeutend mit dem Handeln von Arbeitern und Soldaten. Mit der Partei des Proletariats würden auch die Arbeiter und Soldaten niedergeschlagen.“ (S. 37f)
Erstaunlich ist, dass in den turbulenten Debatten über die Bildung einer neuen Regierung die Forderung der Menschewiki, Sozialrevolutionäre, Wikschel-Delegierte (des Eisenbahnerverbands) und anderer, Lenin und Trotzki von vornherein auszuschließen, von einigen „gemäßigten Bolschewiki“ ernsthaft in Erwägung gezogen wurde. In der Führung der Bolschewiki sah sich Lenin zu einem erbitterten Kampf gegen die Gemäßigten genötigt. Rabinowitch merkt an, dass in einer wichtigen Phase dieses Kampfes, am 1. November 1917, Leo Trotzki der einzige bolschewistische Führer war, für den Lenin lobende Worte fand. Während der gesamten, heftigen Kämpfe innerhalb der Parteiführung in der Zeit nach der Oktoberrevolution stand Lenin „Arm in Arm mit Trotzki“ gegen die Kompromissler. (S. 46)
Die Einführung eines Mehrparteiensystems unter Ausschluss (und wahrscheinlich bei Verhaftung, wenn nicht Hinrichtung) Lenins und Trotzkis hätte die konkrete Gefahr einer Konterrevolution heraufbeschworen. Liest man die Schilderung dieser Auseinandersetzungen, kann man über die Sturheit der Gegner der Bolschewiki nur staunen. Sie bauten immer neue Hindernisse auf, die nur durch immer rigorosere Gegenmaßnahmen zu überwinden waren. Schließlich wurde ein ausschließlich aus Bolschewiki bestehender Sownarkom (Rat der Volkskommissare) geschaffen. Die Beziehung dieses Gremiums zum Zentralen Exekutivkomitee blieb wechselhaft und konfliktträchtig.
Der Übergang „Von der Rebellion zur Staatsmacht“ (so die Überschrift des zweiten Kapitels) war alles andere als einfach. Die Versorgung mit Lebensmitteln und Brennstoff, das Transportwesen, die Auszahlung von Löhnen, die Versorgung mit Wohnraum, das Gesundheitswesen und noch vieles mehr mussten organisiert werden, oft von Kadern, die keine Erfahrung mit Verwaltungsaufgaben hatten. Immer mehr Parteipersonal wurde für die Arbeit in den Sowjets oder beim Militär abgestellt, und viele wurden zur Unterstützung der Revolution in andere Teile des Landes geschickt.
Ausführlich beschreibt Rabinowitch die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung, den Versuch ihrer Bildung und ihr rasches Ende. Dabei erwies sich die Allianz zwischen Bolschewiki und Linken Sozialrevolutionären (deren Basis hauptsächlich in der Bauernschaft lag) als äußerst konfliktgeladen: Es kam zu Meinungsverschiedenheiten über die Tscheka (die wichtigste Sicherheitsinstitution), über die Reaktion auf große und potentiell gewaltsame Demonstrationen zugunsten der Konstituierenden Versammlung und schließlich über deren Auflösung am 6. Januar 1918. Auch hier stieß Lenins Politik selbst innerhalb der Bolschewistischen Partei auf starke Opposition, wobei Rjasanow eine wichtige Rolle spielte.
Rabinowitch bewertet die Auseinandersetzungen über die Konstituierende Versammlung allerdings vollkommen anders als die meisten gängigen antibolschewistischen Darstellungen. Vor allem gelangt er zu folgendem Schluss: „Insgesamt waren die Ergebnisse der Wahl zur Konstituierenden Versammlung eine eindrucksvolle Bestätigung der bolschewistischen Politik und der Sowjetmacht durch die unteren Klassen in Petrograd und Umgebung.“ Er zitiert die Schlussfolgerung eines Korrespondenten der antibolschewistischen Zeitung Nowaja Schisn : „Wie immer wir dazu stehen, eines müssen wir zugeben: Selbst wenn es um die Frage der Konstituierenden Versammlung geht, erkennen die Arbeiter von Petrograd die Bolschewiki als ihre Führer und als Vertreter ihrer Klasseninteressen an.“ (S. 93) Rabinowitch sieht einen Zusammenhang zwischen diesem Wahlergebnis und den gescheiterten Bemühungen der Eisenbahnergewerkschaft, einen raschen Zusammenbruch der revolutionären sozialistischen Regierung herbeizuführen.
In einer ausführlichen Darstellung der Ereignisse bis zur Eröffnung der Konstituierenden Versammlung zeigt Rabinowitch eindrucksvoll auf, welche Klassengegensätze im Zusammenstoß der politischen Tendenzen zum Ausdruck kamen. Die Arbeiter in Petrograd glaubten den Bolschewiki, dass rechte Kräfte, an ihrer Spitze die bürgerliche Kadettenpartei, die Konstituierende Versammlung als Waffe gegen die Revolution einsetzen wollten. Die faktische Auflösung der Versammlung stieß auf keinen nennenswerten Widerstand. Rabinowitch bemerkt abschließend:
„Zu diesem Ausgang trug sicherlich bei, dass die Bolschewiki in der Region Petrograd, wie sich in den Wahlen zur Konstituierenden Versammlung Mitte November zeigte, über große Unterstützung in der Bevölkerung verfügten und dass die Führung der Sozialrevolutionäre nicht bereit war, die Sicherheit der Konstituierenden Versammlung mit militärischen Mitteln zu schützen, während die Bolschewiki und die Linken Sozialrevolutionäre die Sowjetmacht mit Waffengewalt verteidigten. Vor allem aber dürfte Swjatizki den Nagel auf den Kopf getroffen haben: Das russische Volk stand dem Schicksal der Konstituierenden Versammlung zutiefst gleichgültig gegenüber, sodass Lenin die Abgeordneten einfach nach Hause schicken konnte.“ (S. 174)
Teil zwei konzentriert sich auf die schwierigen Verhandlungen mit Deutschland in Brest-Litowsk, die Russlands Beteiligung am Ersten Weltkrieg „ohne Annexionen und Kontributionen“ beenden sollten. Anschaulich beschreibt Rabinowitch, wie Lenin Mitte Dezember zu dem Schluss gelangte, dass ein revolutionärer Krieg gegen Deutschland unmöglich sei und dass Russland einen sehr schmerzhaften Frieden mit Annexionen werde akzeptieren müssen, um eine vollständige Katastrophe zu vermeiden. Rabinowitch tritt hier den Auffassungen zweier anderer Historiker, Wolgokonow und Pipes, unmissverständlich entgegen: „Manche Historiker bestreiten, dass Lenin seine Haltung zur Friedensfrage verändert hatte. Wieder andere mutmaßen, dass er im Sold der Deutschen stand, und dies nicht nur im Frühjahr und Sommer 1917. Auch die Oktoberrevolution und vielleicht sogar der ,Verrat‘ in Brest sind nach dieser Lesart Teil eines bolschewistisch-deutschen Gemeinschaftsunterfangens, Russland zu destabilisieren und die Kampfhandlungen an der Ostfront zu beenden. Wenn wir die Frage deutscher Unterstützungsgelder für die Bolschewiki vor der Oktoberrevolution außen vor lassen, so sehe ich mich durch die verfügbaren Informationen zu folgender Interpretation veranlasst: Lenin war bereits vor der Machtübernahme davon überzeugt, dass ein sofortiger Frieden für das revolutionäre Russland überlebenswichtig war. Dies bereitete ihm wenig Kopfzerbrechen, da er uneingeschränkt auf den unmittelbaren Ausbruch sozialistischer Revolutionen im Ausland vertraute.“ Als Lenin zu der Einschätzung gelangte, dass die erwarteten Revolutionen erst mit einiger Verzögerung stattfinden würden, sah er „fortan keine Alternative zur Annahme aller Friedensbedingungen der Deutschen. Damit war die tiefste innerparteiliche Krise in Lenins Jahren als sowjetischer Staatschef vorprogrammiert“. (S. 190)
Die Krise innerhalb der Bolschewistischen Partei war in der Tat heftig. Zu verschiedenen Zeitpunkten führten Bucharin, Radek, Wolodarski und Rjasanow die Fraktion der Linkskommunisten an, die um jeden Preis einen revolutionären Krieg gegen den Imperialismus führen wollten, auch wenn die Revolution in Russland dafür geopfert werden müsse. Die Linken Sozialrevolutionäre meinten ebenfalls, man würde einen kolossalen Verrat an der Revolution begehen, wenn man den räuberischen territorialen Forderungen Deutschlands nachgäbe. Die Auseinandersetzungen innerhalb der Bolschewistischen Partei und mit anderen Parteien waren hitzig und erbittert. Trotzki bezweifelte inzwischen, dass Deutschland zu einer neuen militärischen Offensive fähig war, weil es von inneren Unruhen gebeutelt wurde. Er hoffte, dass die Bolschewiki sich seiner Position „weder Krieg noch Frieden“ anschließen, die Verhandlungen abbrechen und auf Zeitgewinn setzen würden. Das Zentralkomitee der Bolschewistischen Partei stimmte am 11. Januar dieser Taktik zu, und am nächsten Tag willigten auch die Sozialrevolutionäre ein. Selbst Martow, obwohl er ein erbitterter Gegner der Bolschewiki war, machte kein Hehl aus seiner Bewunderung für den revolutionären Elan, mit dem Trotzki die anti-imperialistische Sache bei den Verhandlungen in Brest-Litowsk vertreten hatte. Nachdem er Trotzkis Rede auf dem Gesamtrussischen Sowjetkongress gehört hatte, äußerte er „seine Bewunderung über die ,beeindruckenden Schritte‘ in Richtung eines allgemeinen Friedens, den die ,Gestalter der weltweiten, internationalen Revolution‘ ergriffen hatten“. (S. 198) Am 28. Januar erklärte Trotzki den verblüfften Deutschen, der Krieg sei zu Ende und Russland würde einseitig demobilisieren. Am 16. Februar teilte Deutschland mit, dass der vorläufige Waffenstillstand aufgehoben sei und Deutschland am 18. Februar die Kampfhandlungen wieder aufnehmen werde. Schon bald unternahm es einen Vorstoß, der Petrograd bedrohte.
In den folgenden Tagen kam es innerhalb der Bolschewistischen Partei zu heftigen Debatten, in deren Verlauf Lenin sogar mit Rücktritt drohte, falls die deutschen Bedingungen nicht unverzüglich angenommen würden. In einer berühmt gewordenen Abstimmung vom 23. Februar gab es sieben Ja-Stimmen für die Annahme der deutschen Bedingungen (Lenin, Stasowa, Sinowjew, Swerdlow, Stalin, Sokolnikow und Smilga), vier Gegenstimmen (Bubnow, Urizki, Bucharin und Lomow) und vier Enthaltungen (Trotzki, Krestinski, Dserschinski und Joffe). Wochen später, als der folgenschwere Brester Vertrag vom Vierten Gesamtrussischen Sowjetkongress in Moskau ratifiziert wurde, traten die Linken Sozialrevolutionäre und die Linkskommunisten aus dem Sownarkom (Rat der Volkskommissare) aus. In der Zwischenzeit war die Regierung von Petrograd nach Moskau übergesiedelt, weil Petrograd durch deutsche Streitkräfte leicht zu bedrohen war. Jedenfalls konnte man nicht garantieren, dass Deutschland nicht noch einmal versuchen würde, die Revolution zu erdrosseln.
Die Bolschewiki waren damals mit übermächtigen Problemen konfrontiert. Der dritte Teil des Bands trägt den Titel „Die Sowjetmacht am Rand des Abgrunds“. Hier führt Rabinowitch Zahlenmaterial an über den Bevölkerungsschwund, die Arbeitslosigkeit, den Hunger, eine Choleraepidemie und den Rückgang der Parteimitgliedschaft. Er beschreibt Unruhen in den Fabriken und der Flotte, den sich zuspitzenden Bürgerkrieg, die Ermordung von Wolodarski (20. Juni) und Urizki (30. August) in Petrograd und den Mordanschlag auf Lenin (30. August) in Moskau.
So waren von Januar bis April 1918 fast 134.000 Arbeiter bzw. 46 Prozent der Industriearbeiterschaft von Petrograd arbeitslos. Als die Nahrungsmittelknappheit akut wurde, verließen viele dieser Arbeitslosen Petrograd fluchtartig und zogen aufs Land, was zu einem Bevölkerungsrückgang der Stadt von 2,3 Millionen (Anfang 1917) auf knapp unter 1,5 Millionen im Juni 1918 beitrug. Während der Choleraepidemie im Sommer zogen abermals Tausende aus der Stadt weg aufs Land. Die Bolschewistische Partei lief nachgerade Gefahr, ihre lebenswichtigen Verbindungen zum Proletariat einzubüßen: In Petrograd nahm die Parteimitgliedschaft schnell ab, von 30.000 im Februar auf 13.472 im Juni, und betrug im September nur noch etwa 6.000. Die aktive Unterstützung der Fabrikarbeiterinnen schmolz dahin: Im September gab es in Petrograd nur noch 700 weibliche Parteimitglieder, unter ihnen nur fünfzig Fabrikarbeiterinnen, obwohl 44.629 der insgesamt 113.346 Lohnabhängigen Frauen waren.
Rabinowitch beschreibt sehr anschaulich, wie die Bolschewistische Partei und die Linken Sozialrevolutionäre auf diese Krisen reagierten. In diesen Kapiteln weicht er jedoch von der bewundernswert objektiven Betrachtungsweise ab, die ansonsten das ganze Buch auszeichnet. Besonders kritisch äußert sich Rabinowitch zu Lenins Politik der bewaffneten Abordnungen für die Lebensmittelrequirierung. Diese Kommandos wurden aus der Stadt zu den Bauern geschickt, um Getreideüberschüsse zu beschlagnahmen. Lenin hatte vorgeschlagen, den Bauern zu erlauben, ausreichend Getreide für den Eigenbedarf und für die Aussaat zu behalten. Was darüber hinausging, sollte konfisziert werden – wenn nötig mit Waffengewalt. „Komitees der Dorfarmut“ (Kombedy) wurden gebildet, um gehortete Getreidevorräte der reicheren Bauern aufzuspüren, insbesondere bei jenen (Kulaken), die Landarbeiter beschäftigten. Lenin legte seine Politik offen und ehrlich dar, wie zum Beispiel in einem Brief vom 22. Mai „An die Arbeiter in Petrograd“. Rabinowitch jedoch meint, dass Lenin in diesem zweiten Brief „noch hemmungsloser vom Leder zog als im ersten. Der bedeutsamste Unterschied zum ersten Brief lag in dem zornigen Angriff auf die Linken Sozialrevolutionäre, denen er vorwarf, sie seien die Partei der ,Charakterlosen‘, die den Kampf gegen die Kulaken fürchte, die unerlässliche Getreidebeschaffung hintertreibe und insgeheim gegen die Sowjetmacht agiere, genau wie die einheimische und internationale Konterrevolution“ (S. 364).
Man findet Lenins Brief in Band 27, S. 385-393 der deutschen Ausgabe seiner Gesammelten Werke. Mag der Leser selbst entscheiden, ob er darin „hemmungslos vom Leder zog“. War es denn wirklich „zornig“, wenn er angesichts der bedrohlichen Lage in Petrograd, wo schlimme Hungersnot herrschte, die Linken Sozialrevolutionäre „charakterlos“ nannte, weil sie vor einer Politik zurückschreckten, die bei vielen Bauern unpopulär war? Rabinowitch gibt zu, dass Lenin als erster bereit war zuzugeben, dass die Bolschewiki im Umgang mit den Bauern „ganz außerordentlich gesündigt“ hatten. Lenin erklärte: „Aber infolge der Unerfahrenheit der Sowjetfunktionäre, infolge der Schwierigkeit der Frage trafen die Hiebe, die dem Kulaken zugedacht waren, vielfach die Mittelbauernschaft“. Sonderbarerweise kommentiert Rabinowitch dieses Eingeständnis mit folgender Frage: „Doch wer, wenn nicht Lenin, war für die ,Sünden‘ verantwortlich?“ (S. 384).
Ein noch schwerwiegenderes Fehlurteil unterläuft Professor Rabinowitch im Hinblick auf die sogenannte „Schtschastny-Affäre“. Im Zusammenhang mit der Krise in der Baltischen Flotte im Frühling und Frühsommer 1918 bezieht sich Rabinowitch auf das Schicksal eines damals populären russischen Offiziers, Alexei Schtschastny, der den Auftrag hatte, im Fall einer Eroberung durch die deutsche Marine die Versenkung der russischen Flotte vorzubereiten. Im Mai kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Schtschastny und Trotzki. Sie drehten sich um die Verlegung einer Minenlegerflotte in den Ladoga-See, die Vorbereitung der Flotte auf ihre Versenkung und die Zerstörung der Festung Ino (nahe Petrograd) sowie um den Umgang mit Befehlen, die diese Vorgänge betrafen. Am 22. Mai legte Schtschastny seinen Posten nieder. Rabinowitchs Urteil ist eindeutig: „Trotzki lehnte [seinen Rücktritt] ab, lud ihn nach Moskau vor, ließ ihn verhaften und organisierte eigenhändig eine Untersuchung und ein Scheinverfahren vor Gericht, das mit dem Todesurteil endete. Die Anklage lautete auf einen Umsturzversuch gegen die Petrograder Kommune, der dem langfristigen Ziel des Kampfs gegen die Sowjetrepublik gedient habe.“ (S. 325) In einer Fußnote dazu geht Rabinowitch noch weiter: „Trotzki war zum Beispiel der einzige Zeuge, der beim dem Schtschastny-Prozess vorgeladen wurde. Dies war vermutlich der erste sowjetische ,Schauprozess‘. 1995 wurde Schtschastny posthum von allen Anschuldigungen freigesprochen und offiziell rehabilitiert.“ (S. 587)
Rabinowitch hat bereits früher zwei Artikel über dieses Thema verfasst, einen auf Englisch (1999), einen weiteren auf Russisch (2001). Man muss ihm zugute halten, dass er das 362 Seiten starke Dossier über die Schtschastny-Affäre in den Archiven des russischen Sicherheitsdienstes von St. Petersburg gelesen hat, die vor seinem Artikel von 1999 freigegeben worden waren. Ohne Zugang zu diesem Material kann man unmöglich auf alle Vorwürfe Rabinowitchs antworten, doch einige Anmerkungen sind notwendig. Erstens lässt Rabinowitch den Leser nicht wissen, dass Trotzkis Anschuldigungen gegen Schtschastny in Band 1 seines Werks How the Revolution Armed (New Park, 1979, S. 173-82) enthalten sind. Und er teilt ihm auch nicht wie noch in seinem damaligen Artikel mit, dass die Anschuldigungen 1926 in Band 17, Teil I von Trotzkis Werken abgedruckt wurden. Mit anderen Worten: Weit davon entfernt, seine Zeugenaussage bei diesem so genannten „Scheinprozess“ zu verheimlichen, hat Trotzki sie zu jeder Zeit der breiten Öffentlichkeit vorgelegt. Trotzki war offensichtlich äußerst beunruhigt darüber, dass Schtschastny in der Baltischen Flotte das Gerücht verbreitete, die Bolschewiki würden einen Schacher mit den Deutschen vorbereiten, der die mögliche Zerstörung der russischen Flotte vorsah. Schtschastny trug sogar Briefe bei sich (die sich später als Fälschungen erwiesen), in denen behauptet wurde, die deutsche Marine fordere „die vollständige Entwaffnung von Kronstadt und der Schiffe im Marinehafen“ (ibid., S. 562). Angesichts der außerordentlich gespannten und konfusen Atmosphäre in der Baltischen Flotte (die Rabinowitch sehr gut dokumentiert), angesichts der Brisanz der Vorwürfe, die Bolschewiki hätten die Revolution in Brest-Litowsk verraten und würden sie weiter verraten, angesichts der drohenden Revolte unter den Minenlegern in Petrograd und den Obuchow-Arbeitern, und angesichts der unzweifelhaften Machenschaften des britischen Geheimdienstes und von Marineoffizieren wie Cromie, O’Reilly und Lockhart in Petrograd (ebenfalls überzeugend dokumentiert von Rabinowitch) – sollte der Autor da nicht etwas zurückhaltender sein, anstatt vorschnell den Stab über Trotzki zu brechen? Könnte es nicht durchaus sein, dass Untersuchung, Prozess und Todesurteil unter den gegebenen Umständen gerechtfertigt waren? Hier Rabinowitchs eigene Worte dazu:
„Am 22. Juni begannen die Minenleger, zu denen enttäuschte Arbeiter aus einer der größten Fabriken Petrograds, den Obuchow-Werken, stießen, einen bewaffneten Aufstand. Sie verlangten die sofortige Bildung einer einheitlich sozialistischen Sowjetregierung bis zur Wiedereinberufung der Konstituierenden Versammlung. Obwohl erfolgreich unterdrückt, war die Rebellion symptomatisch für die tiefe Krise, in der die Sowjetmacht in Petrograd zu jener Zeit steckte.“ (Alexander Rabinowitch, „The Shchastny File: Trotsky and the Case of the Hero of the Baltic Fleet,“ Russian Review, Band 58, Nr. 4 (Okt. 1999), S. 633).
Außerdem ist es eines Historikers vom Rang Rabinowitchs einfach nicht würdig, Trotzki der Teilnahme am „vermutlich ersten sowjetischen ‚Schauprozess‘“ zu bezichtigen. Zwischen der Lage, in der sich die bolschewistische Regierung im Bürgerkrieg befand, als es um Alles oder Nichts ging, und der Situation, der sich Stalin 1936 gegenüber sah, besteht ein himmelweiter Unterschied. Rabinowitch mag der Ansicht sein, dass Trotzki zu hart war, aber er legt keine Beweise dafür vor, dass Trotzki aus anderen Motiven handelte als denjenigen, die er vor dem revolutionären Tribunal darlegte. Außerdem weiß Rabinowitch genau, dass praktisch jede Person, die er in seinem Buch erwähnt und die vor 1936 keines natürlichen oder gewaltsamen Todes starb, in den „Schauprozessen“ umkam, die Stalin Jahre später im Terror von 1937-1938 inszenierte. Schon eine flüchtige Durchsicht von The Bolsheviks in Power ergibt die folgende Liste von Personen, die in Stalins Schauprozessen getötet wurden: Rjasanow, Sinowjew, Kamenew, Radek, Sorin, Bucharin, Miljutin, Smilga, Krestinski, Osinski, Losowski, Dingelstedt, Newski, Boki, Kosior, Spiridonowa und andere. Zu behaupten, Trotzki habe einen Präzedenzfall für dieses wahrhaft konterrevolutionäre Blutbad geschaffen, als er zur Verteidigung der Revolution Schtschastny vor Gericht brachte, zeugt von Blindheit in theoretischen Fragen. In Anbetracht der zahllosen Fälschungen, die nach wie vor über Trotzkis Leben im Umlauf sind, kann man sicher sein, dass die Schtschastny-Episode insbesondere in Russland ausgenutzt werden wird, um die fortgesetzte Verteufelung des Mannes zu rechtfertigen, der neben Lenin die wichtigste Persönlichkeit der Revolution war. Bleibt zu hoffen, dass Rabinowitch die Affäre Schtschastny überprüfen und in einer späteren Auflage dieses Buchs eine ausgewogenere Einschätzung vorlegen wird.
Der Titel des kurzen Kapitels, mit dem Rabinowitch Teil drei seines Buchs beschließt, entbehrt nicht einer gewissen Ironie: „Der Selbstmord der linken Sozialrevolutionäre“. Darin behandelt er die Ermordung des deutschen Botschafters Graf Mirbach am 6. Juli, die das Zentralkomitee der Linken Sozialrevolutionäre angeordnet hatte, um einen Angriff der deutschen Armee zu provozieren. Das Attentat wurde von der Bolschewistischen Partei als „Aufstand der Linken Sozialrevolutionäre“ bewertet, was Rabinowitch in Frage stellt, weil es offensichtlich, und speziell in Petrograd, keine Aufstandsvorbereitungen der Linken Sozialrevolutionäre gegeben hat. Hier ist Rabinowitch gegenüber Spiridonowa und anderen Linken Sozialrevolutionären weitaus nachsichtiger als jemals gegenüber Lenin oder Trotzki. Eine Erklärung dafür bietet er nicht.
Der abschließende Teil von The Bolsheviks in Power behandelt den Beginn des „Roten Terrors“ nach der Ermordung Urizkis am 30. August 1918 und den Schüssen auf Lenin am selben Tag. Auf 61 Seiten legt Rabinowitch dar, dass der Terror in erster Linie nicht auf entsprechende Forderungen Lenins oder die Morde an Wolodarski und Urizki bzw. den Anschlag auf Lenins Leben zurückzuführen war, sondern auf die bedrohlichen Rückschläge im Bürgerkrieg. Nüchtern beschreibt er das Ausmaß des Terrors und führt dessen Schärfe zurück auf die „Ungeduld eines Teils der Arbeiter in Petrograd, die sich während Urizkis Zeit als Chef der PTscheka aufgestaut hatte. Sie wollten endlich mit ihren vermeintlichen Feinden abrechnen“. (S. 479).
Auf den verbleibenden Seiten nimmt das Buch eine etwas überraschende thematische Wende; es geht vorwiegend um die Vorbereitungen und Feiern zum ersten Jahrestag der Oktoberrevolution. Was die Arbeiter von Petrograd im Herbst 1918 eigentlich zu feiern hatten, fragt Rabinowitch, und geht dann auf wichtige Veränderungen in der Weltlage insbesondere in Europa ein. „Die deutschen Truppen befanden sich in ganz Westeuropa auf dem Rückzug. Im Oktober und November kam ihre Kriegsführung vollständig zum Erliegen, die Habsburger Monarchie löste sich auf, und demokratische Revolutionen brachten die bestehende Ordnung in Mitteleuropa zum Einsturz ... Sie [die bolschewistischen Führer Petrograds] bezogen ihre Zuversicht aus der Tatsache, dass die Sowjetmacht in Russland ein volles Jahr überstanden hatte (wesentlich länger als die legendäre Pariser Kommune), und aus dem festen Glauben, dass sie die Vorhut des beginnenden sozialistischen Jahrtausends auf der ganzen Welt seien“. (S. 481ff) Große Feiern wurden geplant, mit Theateraufführungen, Konzerten, Filmen, Paraden, Feuerwerken, Versammlungen, Dichterlesungen und Essen –sehr viel Essen. Der dritte Tag war den Kindern von Petrograd gewidmet, die mit ihren Eltern außerordentliche Entbehrungen erlitten hatten.
Gewiss war hier auch eine gehörige Portion Stolz im Spiel: „Von Beginn an sahen die Petrograder Behörden die Feiern zum ersten Jahrestag der Revolution als Mittel, den Anspruch des Roten Petrograd auf die Führung der sozialistischen Weltrevolution gegen den konkurrierenden Anspruch Moskaus durchzusetzen.“ (S. 501) Viele Berichte bezeugen, dass die Feiern vom 7.-9. November sehr groß, spektakulär und wahrhaft festlich waren. Dann, am Abend des 9. November, erreichte Petrograd die Nachricht, Kaiser Wilhelm habe abgedankt und eine Räteregierung nach russischem Vorbild habe in Berlin die Macht übernommen. Iljin-Schenewski, der sich in einem Theater in Petrograd aufhielt, erzählt: „Die Bekanntmachung wurde mit lauten Rufen begrüßt, und frenetischer Applaus dröhnte minutenlang durch das Theater ... Endlich war es so weit, sie war da, die Unterstützung des westeuropäischen Proletariats... unsere Gedanken waren weit weg, in Berlin, auf dessen Straßen rote Fahnen wehten, Arbeiterräte tagten, wo die Kette der proletarischen Weltrevolution um ein Glied erweitert worden war“. (S. 541)
Wie in einem Nachsatz bemerkt Rabinowitch abschließend, dass die „Abneigung gegen den bolschewistischen Extremismus“ maßgeblich dazu beigetragen habe, „dass aus der deutschen Revolution von 1918 eine gemäßigte Regierung hervorging“. Dieser euphemistischen Umschreibung für die damals kurz bevorstehende blutige Niederschlagung der sozialistischen Revolution fügt er betrübt an: „Nach ihren ausgelassenen Feiern zum ersten Jahrestag der Oktoberrevolution, nach denen die Vereinigung mit ihren revolutionären deutschen Brüdern ausblieb, blieben die Petrograder Bolschewiki, auf sich allein gestellt, ihrem Schicksal überlassen. Sie mussten ihren einsamen, entbehrungsreichen Kampf ums Überleben ohne eine echte Atempause fortsetzen.“ (S. 543)
Rabinowitch präsentiert in seiner Untersuchung viel neues, bedenkenswertes Material. Er schildert eindrücklich, welche Rolle Persönlichkeiten wie Rjasanow, Urizki, Wolodarski, Lunatscharski, Samoilowa und viele andere spielten. Durchgehend hebt er die Orientierung der Bolschewiki auf die sozialistische Weltrevolution hervor und beschreibt anschaulich, welche bedrohlichen Hindernisse zu überwinden waren, um so lange zu überleben, bis sich die Revolution nach Europa ausdehnen würde. Trotz all seines Lobs für die gemäßigten Sozialisten kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Rabinowitch sehr wohl weiß, dass der Triumph der Gemäßigten den Untergang der sozialistischen Revolution zur Folge gehabt hätte. Im Gedächtnis der Petrograder Bolschewiki war die Erinnerung an die Niederschlagung der Pariser Kommune noch frisch, und der im nahen Finnland 1918 wütende Weiße Terror ist in dem Buch Year One of the Revolution von Viktor Serge, den Rabinowitch zitiert, in seiner ganzen Brutalität beschrieben. Wären die Bolschewiki wirklich besser gefahren, wenn sie einen moderateren Kurs verfolgt hätten?
Immer wieder zeigt Rabinowitch in seinem Buch, dass Lenin und Trotzki weit größeren politischen Scharfsinn besaßen als ihre Gegner innerhalb und außerhalb der Bolschewistischen Partei. Fast reflexartig versucht er jedoch auf ihre realen oder angeblichen Charakterschwächen hinzuweisen. Die Strenge, die er in Trotzkis Verhalten (besonders Schtschastny gegenüber) ausmacht, lässt die Brutalisierung außer Acht, die im Ersten Weltkrieg sowohl die russische als auch die westeuropäische Gesellschaft ergriffen hatte. Obwohl der entschlossene Kampf Rjasanows gegen die Todesstrafe als Überbleibsel der kapitalistischen Barbarei Sympathie verdient und auch Urizkis und Wolodarskis Bemühungen, die Repression in Petrograd einzudämmen, aller Achtung wert sind, belegen doch die von Rabinowitch unterbreiteten Fakten, dass die Gegner des Bolschewismus alles andere als zimperlich waren. Tragischerweise wurden Urizki und Wolodarski für ihre Menschlichkeit belohnt, indem sie umgebracht wurden.
Trotz der erwähnten Mängel ist zu hoffen, dass Die Bolschewiki an der Macht eine große Leserschaft findet und das Buch zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Oktoberrevolution und ihren Folgen beitragen wird.