Seit dem Frühjahr dieses Jahres beschäftigt ein großer Umweltskandal die Medien. In Dortmund wurden auf dem Gelände der Firma Envio Recycling GmbH & Co KG unter Missachtung elementarster Arbeitsschutzvorschriften Transformatoren, deren Isolierflüssigkeiten das hochgiftige PCB enthielten, demontiert und „recycelt“. Die Arbeiter waren dabei dauerhaft extrem hohen Dosen des giftigen Stoffes ausgesetzt.
PCBs (Polychlorierte Biphenyle) gelten als hochgiftig, krebserregend, erbgutverändernd und biologisch kaum abbaubar. Umweltorganisationen wie Greenpeace machten sie z. B. 1988 für das Massensterben von Robben an der Nordseeküste verantwortlich. Im Jahre 2001 wurden sie schließlich zusammen mit elf anderen hochgiftigen Stoffen (das „dreckige Dutzend“) im Rahmen der Stockholmer Konvention verboten.
Blutproben, die im Mai und Juni genommen wurden, wiesen bei 95 Prozent aller getesteten Envio-Beschäftigten Werte auf, die 8.600-fach über den Referenzwerten einer durchschnittlichen PCB Belastung lagen, wobei die Unbedenklichkeit dieser Referenzwerte auch nicht erwiesen ist. Das Extrem stellte ein 25.000-fach überhöhter Wert dar. Inzwischen wurden auch beim Personal benachbarter Firmen erhöhte PCB-Werte im Blut nachgewiesen.
Der Skandal flog auf, als sich ein Beschäftigter nach mehreren erfolglosen Versuchen, die Aufsichtsbehörden oder die Politik zum Einschreiten zu bewegen, schließlich gezielt an die Presse wandte (wir berichteten). Die Behörden konnten die Zustände nicht länger ignorieren, und am 20. Mai dieses Jahres wurde die Firma von der Bezirksregierung in Arnsberg stillgelegt.
Anfang August hat sich nun herausgestellt, dass neben den Beschäftigten und Anliegern des Industriegebietes auch die Familien der Envio-Arbeiter, zu einem großen Teil Leiharbeiter von Zeitarbeitsfirmen, in Mitleidenschaft gezogen wurden.
So berichtet die Westfälische Rundschau (WR), dass der Sohn eines Mitarbeiters, der über eine Zeitarbeitsfirma an Envio geraten war, in seinem Blut eine fast ebenso hohe Konzentration des dioxinähnlichen Giftes PCB 118 - 0,31 Mikrogramm pro Liter - hat, wie einige der erwachsenen Envio Mitarbeiter. Das Gift wurde offenbar über die Waschmaschine übertragen.
Am 6. August zitierte die WR den Vater: „,Da war Staub ohne Ende’, erinnert er sich. Arbeitskleidung wird nicht gestellt, weder von Envio, noch von der Zeitarbeitsfirma. Also trägt er eigene Sachen. ,Die klebten und stanken schon nach einem Tag erbärmlich.’“
Was die hohen Werte langfristig für Folgen haben werden, ist ungewiss, da es bisher keine verlässlichen Studien zu den Langzeitfolgen gibt. Fest steht nur, dass die gesamte Familie betroffen ist. Und schon allein die psychische Belastung angesichts dieser Ungewissheit ist enorm.
Der unsachgemäße Umgang mit den giftigen Stoffen bei Envio war so ungeheuerlich, dass die ganze Umgebung verseucht wurde. Sogar in einer Entfernung von 850 m wurden in einer Messstation des Landesamts für Umwelt und Naturschutz (LANUV) 50-fach überhöhte PCB-Werte gemessen. Aber obwohl diese gesundheitsgefährdenden Werte erstmals schon im Jahr 2007 festgestellt worden waren, konnte Envio weitere drei Jahre völlig unbehelligt ihrem gewinnbringenden Geschäften frönen.
2006 machte die Gesellschaft einen Gewinn von 1,8 Millionen Euro. 2007 wuchs bei den beiden Geschäftsführern der Appetit auf mehr. Der Börsengang spülte ihnen fünf Millionen Euro in die Kasse, mit denen sie ihre lukrativen Geschäftstätigkeiten auf Südkorea und international ausweiten wollten. Der Jahresüberschuss betrug in diesem Jahr laut Geschäftsbericht 1,9 Millionen Euro. Über seine Verwendung entscheiden in einem ersten Schritt der Aufsichtsrat oder die Jahreshauptversammlung. Der verbleibende Teil kann bei Aktiengesellschaften nach Maßgabe der Anteilseigner ganz oder teilweise ausgeschüttet werden.
Neben dem Jahressalär von insgesamt 200.000 Euro, das die beiden Vorstände Christoph Harks und Dirk Neupert 2007 einstrichen, dürfte die „Gewinnausschüttung“ einiges zusätzlich auf ihre Konten gespült haben, da sie zusammen 75 Prozent der Aktien besaßen. Und die Entscheidung über die Verwendung des Jahresüberschusses dürfte auch nicht zu ihrem Nachteil ausgefallen sein, da die Vorsitzende des Aufsichtsrats, Frau Tatjana Hancke, gleichzeitig mit Geschäftsführer Dirk Neupert verheiratet ist.
Der Geschäftsbericht für 2008 weist einen Konzernbilanzgewinn in Höhe von 4,2 Millionen aus. Im selben Jahr erhielten die Stadt Dortmund und die Bezirksregierung in Arnsberg nachweislich erstmals detailliert Kenntnis über die katastrophalen Zustände bei Envio. Im September ging unter dem Betreff: „Illegale Aktivitäten der Firma Envio, Kanalstraße 25“ ein anonymes Schreiben beim Dortmunder Umweltamt ein, das das Amt nach Einsichtnahme zuständigkeitshalber an die Aufsichtsbehörde in Arnsberg weiterleitete.
In dem Schreiben wurden die Vorgänge so genau beschrieben, wie es nur ein Insider tun kann. Es wurde darauf hingewiesen, dass Envio Transformatoren von der Untertage-Sondermülldeponie in Herfa-Neurode zur Entsorgung angenommen habe, die schon allein wegen der Größe nicht zur Bearbeitung durch Envios Betriebsanlagen geeignet seien. Solche Transformatoren würden vor der Weiterbearbeitung unter freiem Himmel zerlegt, so dass das Gift ungehindert in die Umwelt entweichen könne.
Vor dem Hintergrund der erhöhten Messwerte des LANUVs hätte das Schreiben zum unverzüglichen Einschreiten der Behörden führen müssen. Aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen wurde - in der Öffentlichkeit - so getan, als sei es außerordentlich schwierig, mögliche Emittenten des die Umwelt verseuchenden PCBs zu ermitteln.
Es wurde sogar versucht, von den Spuren, die zu Envio führten, abzulenken. So las sich ein Pressebericht zu dieser Frage noch in diesem Jahr so: „Bislang war Envio diesbezüglich außen vor. Ein Emittent, vielleicht. Aber nicht der größte. Die indizieren Windrichtung und PCB-Konzentrationen weiter westwärts im Hafen.“ (Westfälische Rundschau). Dies führte dazu, dass die Verseuchung weiter ging.
Bei solchen Umständen drängt sich unweigerlich die Frage nach den Gründen für die gezielte Blindheit der Behörden auf. In Internet-Blogs und auch in der Presse wurde vielfach auf den massiven Personalabbau bei den Aufsichtsbehörden und auf die Lockerung der Kontrollreglungen hingewiesen. Diese wurden noch unter der rot-grünen Koalition in NRW im Rahmen des so genannten Bürokratieabbaus durchgesetzt und von Schwarz-Gelb weitergeführt.
Mit Sicherheit begünstigt der Umstand, dass zehn Kontrolleure für 20.000 Firmen zuständig sind, die Ausbreitung von Betrieben, die ihre Profite ohne die geringsten Skrupel auf Kosten der Gesundheit ihrer Beschäftigten und der ganzen Bevölkerung machen. Doch das ist es nicht allein. Im Fall Envio scheint dies auch mit Rückendeckung der Behördenspitzen geschehen zu sein. Nach wie vor gibt es Ungereimtheiten.
So ist bekannt geworden, dass die Arnsberger Aufsichtsbehörde schon 2007 von einem widerrechtlichen Envio-Außenlager(!) und ungenehmigten Eingriffen in das Abluftreinigungssystem Kenntnis hatte - und sich damals offenbar auch noch ihrer aufsichtsrechtlichen Pflichten bewusst war. In einem Schreiben des Dezernats für Überwachung schrieb der zuständige Sachbearbeiter damals an Envio: „Ich beabsichtige daher, die Anlagenteile stillzulegen.“
Hier hatten die (wenigen) Kontrolleure also offenbar den Missstand erkannt. Warum kam aber dann der Eifer trotz der schon bekannten und politisch brisanten Messungen des LANUVs zum Erliegen und warum wurden stattdessen die Anlagen trotz Fristüberschreitungen seitens Envios im Nachhinein einfach genehmigt?
Als sich 2010 in den Medien die Berichte über Envio als Verursacher der PCB-Verseuchung verdichteten, stattete die Research-Leiterin des Finanzinvestors Murphy & Spitz, der in Aktien von Envio investiert hatte, dem Unternehmen einen „angekündigten“ Besuch ab. Ganz im Gegensatz zu den Behörden, die bei ihren mehrfachen Vorort-Besichtigungen von Envio mit „ganz erheblicher krimineller Energie getäuscht worden“ sein wollen, so dass man „nichts Verdächtiges habe feststellen können“, kam die diplomierte Umwelttechnikern nach ihrem Besuch zu einem ganz anderen Schluss.
So äußerte Frau Nicole Vormann in einem Interview (
Wie groß die „kriminelle Energie“ Envios auch gewesen sein mag: Research-Leiterin Vormann ließ sich dadurch offensichtlich nicht täuschen. Bleibt die Frage: Was ist der wahre Grund, weshalb die Behörden sich dann haben täuschen lassen?
Eigentlich ist die Klärung all dieser Ungereimtheiten auch bezüglich der Aufsichtsbehörden Aufgabe der Staatsanwaltschaft. Man muss aber davon ausgehen, dass quer durch alle tragenden Institutionen dieser Gesellschaft mittlerweile die Verstrickungen und Beziehungen zur Wirtschaft immer enger geworden sind. Das ist der eigentliche Grund dafür, dass die Verantwortlichen immer wieder geschont werden.
So meinte denn auch die Oberstaatsanwältin und Pressesprecherin der Dortmunder Staatsanwaltschaft, Frau Ina Holznagel, gegenüber der Westfälischen Rundschau am 21. Juli: „Man hätte den Betrieb stilllegen können, musste es aber nicht.“ Arnsberg habe „einen Ermessensspielraum milde genutzt“. Fahrlässigkeit und Sorgfaltspflichtverstöße einer Überwachungsbehörde seien aber „nicht strafbar“.
Zuvor hatte sich die Staatsanwaltschaft genötigt gesehen, bei Envio Firmenunterlagen zu beschlagnahmen - allerdings erst, nachdem die Westfälische Rundschau skandalöse Passagen aus internen Firmenprotokollen, die ihr zugespielt worden waren, zitiert hatte. Die Frage, warum auch die Staatsanwaltschaft immer erst dann ernsthafte Ermittlungsschritte unternahm, wenn es zu öffentlichem Druck gekommen war, stellte die Zeitung aber nicht.
Die Geschäftsführung von Envio zeigt sich von den Vorgängen insgesamt wenig beeindruckt. Die Beschäftigten vor Ort hat sie „kostensparend“ und „betriebsbedingt“ entlassen und die Reinigungsarbeiten für das immer noch verseuchte Gelände aus Kostengründen eingestellt. Sie klagt derzeit gegen einen Beschluss der Bezirksregierung, der sie zur Hinterlegung einer Sicherheitsleistung in Höhe von 1,5 Millionen Euro verpflichtet. Darüber hinaus hat sie in der Vergangenheit ein undurchsichtiges Firmengeflecht aufgebaut, das ihr in anderen „Tochtergesellschaften“ die Fortführung ihrer lukrativen Geschäfte ermöglichen könnte. Bei den heutigen Aufsichtsbehörden und den „Ermittlungsgepflogenheiten“ der Dortmunder Staatsanwaltschaft liegt das durchaus im Bereich des Möglichen.