Die Verhaftung des Filmregisseurs Roman Polanski in der Schweiz und die angedrohte Auslieferung an die USA haben die Law and Order`-Scharfmacher auf den Plan gerufen. Diese Kräfte reagieren in solchen Fällen - auch im Vorgriff - aggressiv, damit humanitäre Erwägungen oder gar der Gedanke des Verzeihens das öffentliche Bewusstsein nicht beeinflussen. Ohne das geringste Interesse an den genauen Umständen des Falls zu zeigen, haben sich unzählige reaktionäre Stimmen zu Wort gemeldet, die hartnäckig fordern, dass Polanski zum Wohle der Gesellschaft weggesperrt werde.
Zu diesen Stimmen können wir jetzt auch die Redaktion der New York Times, der führenden liberalen Zeitung, zählen. In einem politisch bedeutsamen Artikel haben sich die Herausgeber schadenfroh und mit Häme auf die Seite der Vollstreckungsbehörden von Los Angeles gestellt.
"Der Fall Polanski", lautet der Titel des Artikels in der Ausgabe vom 30. September 2009, und gleich zu Beginn werden die Proteste gegen die Festnahme Polanskis verspottet: " Hört man die Proteste aus Frankreich, Polen und anderen europäischen Ländern, könnte man glatt auf die Idee kommen, der Regisseur sei von einem totalitären Regime verhaftet worden, weil er die Machthaber kritisiert hat."
Die Verletzung von Menschenrechten kann also nur unter "totalitären Regimes" geschehen, und nicht in kapitalistischen "Demokratien?" Amnesty International hat sich in diesem Jahr schon einige Male so geäußert: "Im Namen der Terrorismusabwehr haben die USA die Menschenrechte im Irak, Afghanistan, Guantánamo und anderswo verletzt. Die Menschenrechtsverletzungen, die von der USA und in ihrem Auftrag seit dem 11. September 2001 begangen wurden, haben in zahlreichen Fällen und verschiedensten Formen stattgefunden", und, "Immer wieder gab es 2009 Berichte über Polizeibrutalität und Misshandlungen in (amerikanischen) Gefängnissen, Zuchthäusern und Auffanglagern für Immigranten. Dutzende Personen starben durch den polizeilichen Einsatz von Elektroschockwaffen."
Und weshalb sollte man die Unschuldsvermutung gegenüber dem Schweizer Staat gelten lassen, dessen politische Geschichte von Grundsatzlosigkeit und Geldgier geprägt ist? Schließlich war es die damalige Schweizer Regierung, die dem berüchtigten Finanzbetrüger Marc Rich Schutz gewährte, als er vor der amerikanischen Justiz floh.
In diesem Fall gab es natürlich einen "guten Ausgang". In den letzten Tagen seiner Amtszeit kam Rich in den Genuss der Begnadigung durch den Präsidenten der USA. Clinton entschied positiv aufgrund einer Empfehlung des damaligen Vize-Justizministers Eric Holder, der inzwischen Justizminister der Obama-Regierung ist. Rich war natürlich nicht Polanski. Der Finanzier war klug genug, sich von seinen Sünden durch große Geldzuwendungen an Clinton und die Demokratische Partei reinzuwaschen.
Nach einer kurzen Zusammenfassung der Fakten von Polanskis Straftat und Schuldeingeständnis merkt die Times beiläufig an: "Die Entscheidung der Schweiz, den Regisseur gerade jetzt festzunehmen, mutet irgendwie seltsam an, nachdem man ihn drei Jahrzehnte lang unbehelligt ein- und ausreisen ließ. Ein Dokumentarfilm von Marina Zenovich aus dem Jahr 2008, Roman Polanski: Gesucht und erwünscht, brachte einige unangenehme Fragen über die wunderliche Art auf, wie ein publicitysüchtiger Richter in Kalifornien, Laurence Rittenband, in diesem Fall agierte."
Die plötzliche Entscheidung der Schweiz, Polanski festzunehmen, der in diesem Land ein Landhaus besitzt und offensichtlich während des Sommers viel Zeit dort verbringt, ist mehr als nur "seltsam", und die Times -Herausgeber wissen das nur zu gut. Die Schweizer Behörden, die nie eine außenpolitische Entscheidung treffen, ohne ihre Auswirkungen auf die Profite ihrer Banken auf Heller und Pfennig zu kalkulieren, stehen wegen eines Steuerhinterziehungsskandals, in den der Schweizer Bankenriese UBS verwickelt ist, unter Druck. Mit der Verhaftung Polanskis haben sie den USA jetzt einen Knochen hingeworfen, als Teil eines zynischen Versuchs, ihre bedeutenden Finanzinstitutionen zu schützen.
Es erstaunt, dass die Times über die "unangenehmen Fragen", wie ein "publicitysüchtiger Richter" in dem ursprünglichen Verfahren agierte, kommentarlos hinweg geht. Ein Richter des Obersten Gerichtshofes in Los Angeles hat Anfang des Jahres eingeräumt, dass bei den Anhörungen 1970 "offenkundige Verfahrensfehler" im Spiel waren. Könnte dies nicht rechtliche und moralische Bedeutung dafür erlangen, ob Polanski mehr als 30 Jahre nach der Tat verfolgt und angeklagt werden sollte? Der Artikel, der sich ansonsten sehr für juristische Feinheiten interessiert, geht dieser Möglichkeit gar nicht nach.
Mit unüberbietbarem Zynismus fährt die Times fort: "Was soll eigentlich ungerecht daran sein, jemanden, mag er auch noch so talentiert sein, der Gerechtigkeit zuzuführen, der sich juristisch der Vergewaltigung für schuldig bekannt und sich dann aus dem Staub gemacht hat?"
Einen 76-jährigen - dessen Ankläger vor nur zehn Jahren gnadenlos Michael Jackson verfolgten, sein Leben zerstörten und zu seinem frühzeitigen Tod beitrugen - nach Los Angeles auszuliefern, das versteht die Times unter "der Gerechtigkeit zuführen!".
"Los Angeles" und "Gerechtigkeit"- das passt einfach nicht zusammen. Polanski floh aus den USA aus berechtigter Angst vor den rachsüchtigen Strafverfolgungsbehörden von Los Angeles, die für Korruption und die Billigung systematischer Polizeigewalt, Rassismus und falscher Anklagen bekannt sind. Der Regisseur hat sich nicht versteckt gehalten; seit seiner Flucht hat er zehn Spielfilme gedreht, darunter den preisgekrönten Streifen Der Pianist.
Dann stellt die führende Stimme des amerikanischen Liberalismus ihre spießerhafte Selbstgefälligkeit demonstrativ zur Schau, wenn sie zu dem Schluss kommt: "Wir stimmen überhaupt nicht mit Polanskis Verteidigern überein, und haben uns gefreut, dass andere prominente Europäer jetzt auch darauf hingewiesen haben, dass dieser Fall nichts mit Polanskis Werk oder mit seinem Alter zu tun hat. Es geht hier um einen Erwachsenen, der ein Kind geschändet hat. Er hat sich zu diesem Verbrechen bekannt und muss dafür geradestehen."
Widerlich! Wenn die Times sich überschlägt, um ein derartiges Ereignis in dieser Art und Weise zu kommentieren, steckt politische Bedeutung dahinter. Es handelt sich um ein kalkuliertes Zugeständnis an die extreme Rechte, die Verfechter der "Familienwerte", und an andere ungesunde soziale Kräfte. Da passt es gut ins Bild, dass der extrem rechte Kommentator Noel Sheppard sich hocherfreut über den Standpunkt der Times zeigte ("Das hören Sie bestimmt nicht oft von einem konservativen Medienanalysten: Bravo, NYT, bravo.")
Auch weiß die Times, dass ihr Standpunkt ins Gewicht fällt. Dieser Leitartikel wird das seine dazu beitragen, die Stimmung gegen Polanski anzuheizen und seine Möglichkeiten einzuschränken, sich gegen die Justiz zu verteidigen. Die Times wirft Polanski nur allzu gern den Wölfen zum Fraß vor, wenn sie damit ihre reaktionären Kritiker besänftigen kann, und sei es nur für einen Tag.
Der heutige amerikanische Liberalismus ist vollkommen prinzipien- und skrupellos. Dieser erbärmliche Verlust an Prinzipien, ganz zu schweigen von Menschlichkeit, ist keinesfalls ein ausschließlich amerikanisches Phänomen. In Europa gibt es eine konzertierte Kampagne, die öffentliche Meinung, die Polanskis unglücklicher Lage zunächst mit Anteilnahme begegnete, gegen ihn zu kehren. Und auch dort spielen Vertreter der offiziellen "Linken" die führende Rolle.
Daniel Cohn-Bendit, ein führender Politiker der Grünen in Europa, hat unisono mit dem Faschisten Le Pen französischen Ministern Vorwürfe gemacht, weil sie sich über Polanskis Festnahme empört hatten. 1968 noch galt Cohn-Bendit als der berüchtigte "rote Danny". Einen großen Teil der vergangenen 40 Jahre hat er darauf verwendet, seine Jugendsünden abzubüßen und den Beweis zu liefern, dass der alte französische Spruch immer noch gilt: "Bis 30 ein Revolutionär, danach ein Schwein."
Der Gerechtigkeit muss Genüge getan werden, tönen die Times und der Rest der Mainstream-Medien. Ihre Heuchelei ist grenzenlos. Das gesamte amerikanische Establishment stimmt darin überein, dass "das Land vorwärts gehen muss", und dass die CIA und die Militärgangster, die Guantánamo, Abu Ghraib, Bagram und das weltweite Netz von Geheimgefängnissen, die "Black Sites" betrieben bzw. noch betreiben, wo die unrechtmäßig Eingekerkerten sexuell missbraucht, gefoltert und in einigen Fällen auch ermordet worden sind, für ihre verbrecherischen Taten straflos ausgehen sollen.
George W. Bush, Dick Cheney, Donald Rumsfeld und die übrigen Kandidaten, die einen unprovozierten Aggressionskrieg begannen, der nach den konservativsten Schätzungen Hunderttausende Iraker seit 2003 das Leben kostete, bleiben auf freiem Fuß, streichen horrende Summen ein für Reden, in denen sie sich für die verschiedensten politisch verbrecherischen Ziele stark machen. Diese Individuen waten in Blut. Nicht einmal hat sich die Times für ihre Verhaftung und strafrechtliche Verfolgung ausgesprochen.
Beim Versuch, jede Äußerung von Verständnis für Polanski zu diskreditieren und als unrechtmäßig abzustempeln, unterstellen die Times und der rechte Pöbel, dass Opposition gegen seine plötzliche Verhaftung und Einkerkerung gleichzusetzen sei mit Gleichgültigkeit gegenüber der Tatsache, dass er 1977 ein 13jähriges Mädchen sexuell missbrauchte. Bei diesem Ereignis von 1977 handelte es sich um eine Straftat. Wir sind jedoch nicht der Ansicht, dass Polanskis Persönlichkeit und sein gesamtes Leben anhand dieses einen tragischen Ereignisses beurteilt werden kann. Diese Meinung vertreten wir auch nicht nur, weil Polanski mit Sicherheit ein bedeutender Künstler ist (auch wenn wir durchaus denken, dass diese Tatsache nicht so unwichtig ist, wie seine reaktionären Ankläger betonen). Wie viele von den zwei Millionen Menschen, die in amerikanischen Gefängnissen schmachten, sind dort aus Gründen, die viel mehr mit gesellschaftlichen und milieubedingten Umständen zu tun haben als mit "angeborener" Verkommenheit.
Natürlich ist Roman Polanski ein sehr wohlhabender Mann. Doch es ist abwegig zu behaupten, wie es die Schar der Moralisierer tut, dass sein Handeln mit seinem übrigen traumatischen Leben "nichts zu tun" habe.
Berichte über seine ersten Lebensjahre weichen in Details geringfügig voneinander ab, doch alle lassen ihren tief tragischen Charakter erkennen. 1933 in Paris als Kind eines jüdischen Vaters und einer römisch-katholischen Mutter geboren, zog die Familie ins polnische Krakau, als er drei Jahre alt war. In einem Bericht des Guardian von 2005 heißt es: "Als die Deutschen einmarschierten, wurden die Polanskis ins Ghetto gesperrt, und 1943 mussten die Zivilisten auf Anordnung der Nazis das Ghetto verlassen. Seinem Vater gelang es, eine Lücke in den Stacheldrahtzaun zu schneiden, und er befahl dem verängstigten Roman, zu einer Familie zu flüchten, der er Geld gegeben hatte, damit sie sich um ihn kümmerte. 'Hau ab!' zischte er den schluchzenden Jungen an, als die SS-Offiziere den Juden befahlen, sich in einer Reihe aufzustellen. Roman rannte los, ohne noch einmal zurückzublicken.
"Später fand er heraus, dass seine Mutter in der Gaskammer in Auschwitz ermordet wurde, doch sein Vater überlebte, obwohl er in einem Steinbruch Sklavenarbeit verrichten musste. Der Junge irrte umher, lebte von der Hand in den Mund, und Freunde wie auch Fremde nahmen ihn bei sich auf."
Als Jugendlicher, berichtete der Independen t (ebenfalls 2005): "gewann Polanski einen Preis an der berühmten Filmschule Lodz, wo man ihn an seinen Kurzfilmen sofort als künftiges Talent erkannte. In den Jahren davor war er nur knapp dem Tod entgangen, als ihm ein dreifacher Mörder nach dem Leben trachtete. Polanski war offensichtlich genetisch fürs Überleben programmiert, egal, was ihm im Leben zustoßen sollte.
"Von den Menschen, die ihm am nächsten waren, konnte man das nicht immer sagen. 1969 wurde seine zweite Frau, Sharon Tate, zusammen mit vier Freunden von Charles Manson und seiner Gruppe ermordet. Das Entsetzen war umso größer, da Tate mit dem ersten Kind im achten Monat schwanger war...Als sein Produktionsdesigner (bei den Dreharbeiten zu Macbeth) monierte, dass am Drehort zuviel Blut fließe, erwiderte Polanski: "'Ich kenne Gewalt. Sie hätten letzten Sommer mein Haus sehen sollen.'"
Wie könnten solch grauenhafte Erfahrungen, die in seinem filmischen Werk breiten Raum einnehmen, ohne jeglichen Bezug zu dem Verbrechen stehen, für das Polanski angeklagt wurde, und zu dem er sich bekannte? Welchen wirklichen Sinn könnte eine Gefängnisstrafe zum jetzigen Zeitpunkt haben? Welche Gefahr stellt er für die Gesellschaft dar?
Die Los Angeles Times, auch eine vorgebliche liberale Säule, veröffentlichte am 30. September einen schlüpfrigen Artikel eines Steve Lopez ("Polanskis Verteidiger verlieren das eigentliche Opfer aus den Augen"), der die unschönsten Details der ursprünglichen Aussage des Opfers vor dem Großen Geschworenengericht berichtet. Das ist Wasser auf die Mühlen der Rechten, angeblich mit dem edlen Ziel, für Gerechtigkeit zu sorgen. Lopez ist nur ein weiterer Schurke in den amerikanischen Medien, der jede Gelegenheit begrüßt, an die niedersten Instinkte in der Bevölkerung zu appellieren.
Das Opfer von Polanskis Verbrechen, Samantha Geimer, die heute 44 ist, hat genau dieses Verhalten der Medien verurteilt. Sie hat weitaus mehr Menschlichkeit bewiesen als die Gegner Polanskis, als sie 2003 in einem Kommentar schrieb: "Sollte er zurückkommen? Ich wünsche mir, dass er nicht auf der Flucht sein muss und frei reisen kann. Das ist was, was ich mir persönlich wünsche. Man hätte ihn nie in die Lage bringen sollen, die ihn zur Flucht trieb. Er hätte vor 25 Jahren eine zeitlich begrenzte Gefängnisstrafe verbüßen sollen, darin waren wir uns alle einig. Damals schrieb mein Anwalt, Lawrence Silver, an den Richter, dass die getroffene Vereinbarung Buße genug für ihn sei, um uns Genugtuung zu verschaffen. Das ist auch heute noch meine Meinung."
Die Times stört es nicht, dass die Auslieferung dieses 76jährigen außerordentlichen Künstlers an die USA und das unvermeidliche Medienspektakel die bösartigsten Folgen haben können. Sollte der schlimmste Fall eintreten, trägt ihre Redaktion Mitverantwortung.