Mit dem Marschbefehl an die zweite Marinebrigade hat die Obama-Regierung eine potentiell blutige Offensive in der Provinz Helmand begonnen. Das Ziel besteht darin, die paschtunische Bevölkerung im Süden Afghanistans zu unterwerfen, weil sie sich auch nach siebeneinhalb Jahren nicht mit der Besetzung ihres Landes durch die USA und die NATO abgefunden hat. Auch weigert sie sich nach wie vor, die Legitimität der afghanischen Marionettenregierung unter Präsident Hamid Karzai anzuerkennen.
Die Verlegung der zweiten Marinebrigade am frühen Donnerstagmorgen soll der größte Lufttransport seit den Zeiten des Vietnamkriegs gewesen sein. Jedenfalls ist die Operation unter dem Kodenamen "Khanjar" (auf paschtunisch "Schwertstreich") die größte Aktion der Marines seit dem Angriff auf die irakische Stadt Falludschah im November 2004. Etwa 4.000 Marines und ein 600 Mann starkes Bataillon der afghanischen Armee nehmen daran teil. Unterstützt werden sie von Kampfjets, Helikoptern und unbemannten Drohnen.
Am Freitagmorgen brachte die New York Times einen Artikel von Carlotta Gall, einer erfahrenen Kriegskorrespondentin, die seit 2001 in Afghanistan und Pakistan arbeitet. Sie erklärte darin, warum Obama als erstes großes Kriegsziel seines so genannten "Surge", d.h. seiner Afghanistan-Offensive, gerade Helmand ausgewählt hat.
Sie schreibt: "In einigen Teilen Südafghanistans ist die Stimmung der afghanischen Bevölkerung in einen Volksaufstand umgekippt". Die Menschen "greifen gegen die ausländischen Truppen zu den Waffen, um ihre Häuser zu beschützen, oder aus Wut, weil sie bei Luftschlägen ihre Verwandten verloren haben".
Gall schrieb: "Die Provinzen im Süden erleiden die schlimmsten zivilen Opfer, seitdem die NATO 2006 in diese Region einrückte. Tausende Menschen sind durch die Kämpfe vertrieben und in den Norden verschlagen worden. Heute sind mehr Menschen auf der Seite der Taliban als auf der Seite der Regierung’, sagt Abdul Qadir Noorzai, Chef der Unabhängigen Menschenrechtsorganisation Afghanistans..."
Ein Mann, der von Gall befragt wurde, sagte: "Wer sind die Taliban? Es sind die Einheimischen." Ein anderer, dessen Haus von US-Jets bombardiert worden war, sagte: "Wir Muslime mögen sie nicht [nämlich die fremden Soldaten]. Sie sind der Gefahrenherd."
Galls Schilderung der tatsächlichen Verhältnisse verweigert sich der einseitigen Propaganda, der zufolge die Offensive angeblich nötig sei, um die Menschen von der Tyrannei der Taliban zu befreien, ihnen die Teilnahme an der bevorstehenden Wahl zu ermöglichen und Bedingungen für einen Wirtschaftsaufschwung zu schaffen. Helmand stellt in Wirklichkeit das Epizentrum des Volkswiderstands gegen die Besatzung dar. Tausende Soldaten wurden dorthin verlegt, um die Bevölkerung zu unterwerfen.
In den ersten Tagen der Offensive sind Marineinfanteriesoldaten bis tief ins untere Tal des Flusses Helmand verlegt worden, südlich des neuen amerikanischen Stützpunkts bei der Stadt Laschkar Gah. Sie haben die Städte Nawa und Garmser besetzt, und auch Khan Neshin, das nur 130 Kilometer von der pakistanischen Grenze entfernt liegt. Seit mehr als fünf Jahren waren weder Okkupationskräfte noch afghanische Truppen in dieser Stadt.
Dem Angriff der Marines ging vor zwei Wochen eine britische Operation voraus, in deren Verlauf dreizehn Flussüberquerungen im Norden von Laschkar Gah eingenommen wurden. Dadurch sollen die Taliban daran gehindert werden, aus dem benachbarten Kandahar-Gebiet, das in der Hand der Aufständischen ist, Nachschubkräfte nach Helmand zu verlegen. Am Freitag begannen britische Einheiten eine neue Offensive, um die Straße zwischen Laschkar Gah und der Stadt Gereshk im Norden der Provinz zu sichern.
Wie amerikanische Offiziere der Washington Post sagten, ist die Operation "Khanjar" schon seit Monaten geplant. Die gleichen Personen, die schon den "Surge" der Bush-Regierung ausgearbeitet hatten, als 2007 Zehntausende zusätzlicher Soldaten in den Irak geworfen wurden, haben nun für Obama diese Offensive geplant. Die bekanntesten sind Verteidigungsminister Robert Gates, Generalstabschef Admiral Michael Mullen, Centcom-Kommandeur General David Petraeus und der vor kurzem ernannte US-Kommandant in Afghanistan, General Stanley McChrystal.
Die Offensive ist bewusst so angelegt, dass sie zeitlich mit dem Vordringen pakistanischer Militärverbände in die Stammesgebiete von Südwasiristan zusammen fällt. In den paschtunischen Stammesverbänden haben zum großen Teil islamistische Strömungen das Sagen, die enge Beziehungen zu jenen Taliban unterhalten, die der afghanischen Guerilla Unterschlupf gewähren und den Aufstand gegen die Besatzung mit eigenen Kämpfern verstärken.
Pakistanische Offiziere nennen das gemeinsame Vorgehen eine Strategie von "Hammer und Amboss". Die Absicht besteht darin, den Taliban einen Zweifrontenkrieg gegen US- und Nato-Verbände auf der einen Seite und gegen die pakistanische Armee auf der anderen Seite aufzuzwingen. Mahmood Shah, ein pakistanischer Offizier a. D., sagte der Washington Post vergangenen Monat, er habe von seinen Informanten erfahren, die Taliban-Führer hätten "ihre Kämpfer bereits aus Afghanistan zurückgezogen und bringen sie nach Pakistan", um einen bevorstehenden Angriff der Armee abzuwehren. Das pakistanische Militär hat außerdem zusätzliche Einheiten an die Grenze zwischen Helmand und der pakistanischen Provinz Belutschistan verlegt, um zu verhindern, dass die afghanischen Taliban den Marines entkommen.
Die Marines werden mit den gleichen Methoden wie im Irak vorgehen und sie sind dafür gut gerüstet. Die meisten der beiden MEB-Einheiten und viele der Offiziere und eingezogenen Soldaten haben eine oder mehrere Einsatzperioden in der Provinz Anbar im Westirak hinter sich. Die Taktik des Surge wurde zum ersten Mal in Anbar, einem Zentrum des sunnitisch-arabischen Widerstands gegen die US-Invasion getestet. Über zwei Jahre lang feilten die Marines an ihren Aufstandsbekämpfungsmethoden auf Kosten des Lebens Tausender Iraker und der Unterdrückung einer ganzen Bevölkerung.
In den jüngst besetzten Gebieten von Helmand werden alle - Männer, Frauen und Kinder - als potentielle Aufständische behandelt. Man wird Stützpunkte in Städten und Dörfern einrichten, und dort werden US-Soldaten die Bevölkerung einschüchtern, um Widerstandskämpfer ausfindig zu machen. Die Afghanen werden ständig mit Straßensperren, Personenkontrollen und Durchsuchungen schikaniert werden. Jeder, der vom Alter her ein Kämpfer sein könnte, wird auf besonders entwürdigende Weise behandelt werden. Den örtlichen Stammesführern wird man Bestechungsgelder zustecken, damit sie ihren Clan dazu bringen, mit den Besatzern zusammen zu arbeiten. Wer nicht mitmacht, wird als Taliban-Sympathisant verdächtigt.
In den geschönten Medienberichten wird kaum erwähnt, dass die amerikanische Taktik zur Aufstandsbekämpfung zum großen Teil auf gezielter Tötung und willkürlicher Gefangennahme basiert. Das Kommando in Afghanistan wurde in erster Linie deshalb General McChrystal anvertraut, weil er mit solchen Operationen große Erfahrung hat. Von 2003-08 stand er an der Spitze des Joint Special Operations Command (JSOC), dessen Todesschwadronen Hunderte angeblicher Führer und Anhänger des irakischen Widerstands getötet oder gefangengenommen haben. Die gleichen Methoden werden von amerikanischen, britischen und australischen Spezialkräften heute schon in ganz Afghanistan angewandt und werden nun auch auf das südliche Helmand ausgedehnt.
Am Donnerstag wurde eine Marinekompanie südlich von Garsmer in einen Kampf mit afghanischen Widerstandskämpfern verwickelt, was ein Offizier "einen höllischen Kampf" nannte. Nach stundenlangem Gewehrfeuer wurde ein Kampfjet herbei gerufen, um die Stellung der Aufständischen mit einer 500-Pfund-Bombe zu zerstören. Weitere kleine Zusammenstöße gab es gestern. Aus der Region um Nawa und Khan Neshin wurden keine Kämpfe berichtet.
Zur Stunde ist ein US-Soldat getötet worden und elf wurden verwundet. Dutzende weitere mussten in der glühenden Hitze des afghanischen Sommers wegen Erschöpfung und Hitzschlag behandelt werden. Auch die britischen und dänischen Truppen, die im nördlichen Teil von Helmand operieren, erlitten Verluste. Am Mittwoch wurden zwei britische Soldaten getötet und sechs weitere verletzt, als am Stadtrand von Laschkar Gah eine Straßenbombe explodierte. Unter den Getöteten befindet sich Oberstleutnant Rupert Thorneloe. Er ist der höchstrangige britische Offizier, der seit dem Falkland-Krieg 1982 getötet wurde. Am gleichen Tag wurde ein dänischer Soldat vermutlich durch eine Tretmine schwer verletzt.
Obwohl es bisher kaum schwere Kämpfe gab, wird befürchtet, dass die Operation möglicherweise am Mangel an Soldaten scheitern könnte. Laut Washington Post hatte der Kommandant der zweiten Marinebrigade, Generalbrigadier Lawrence Nicholson, offenbar erwartet, dass sich Tausende Soldaten der afghanischen Armee an "Khanjar" beteiligen würden. Stattdessen sind es nur etwa 600 Mann.
Nicholson soll den Mangel an afghanischen Kräften als "kritische Schwachstelle" bezeichnet haben. Seine Marines werden ein nur relativ kleines Gebiet, das unter Kontrolle der Tailban steht, zu halten versuchen. Es ist unwahrscheinlich, dass sich ihnen die Aufständischen in offener Schlacht stellen werden. In den letzten sieben Jahren haben die Taliban gelernt, den ungleichen Kampf mit den viel besser ausgerüsteten Besatzungstruppen zu meiden. Die Widerstandskämpfer werden sich entweder unter die sympathisierende Zivilbevölkerung mischen oder auf sichere Stellungen in andern Gebieten Afghanistans ausweichen. Die Marines dagegen werden in einer nicht abreißenden Kette von Straßenbomben, Tretminen und andern Guerillaangriffen ständig neue Verluste erleiden.
Schon gibt es Anzeichen, dass führende Kommandanten des Pentagon Druck auf das Weiße Haus von Obama ausüben, mehr Soldaten nach Afghanistan zu schicken. Bisher hat Obama gesagt, er werde nicht mehr als die zusätzlichen 21.000 Soldaten bewilligen, die er bei seiner Amtsübernahme in das Land beorderte. General David McKiernan, ehemaliger US-Kommandant in Afghanistan, wurde im Mai kurzerhand entlassen, als er immer wieder neue Kräfte verlangte.
Die Unruhe in der Armeeführung ist offensichtlich nicht beschwichtigt. Am Mittwoch gab es in den Zeitungen der McClatchy-Gruppe Berichte, der nationale Sicherheitsberater James Jones, der gerade aus Zentralasien zurück gekehrt sei, habe "schon Gerüchte vernommen, dass neue Kommandeure und Diplomaten, die nach Afghanistan geschickt werden, schon bald einen neuen Strategiewechsel und noch mehr Soldaten fordern" würden. Ein nicht genannter Politiker soll dem Journalisten Bob Woodward gesagt haben, dass mindestens 100.000 Mann gebraucht würden.
Wenn alle Verstärkungen angekommen sind, werden sich 68.000 amerikanische Soldaten und etwa 30.000 weitere aus mehreren NATO-Ländern in dem Land befinden, viele von ihnen allerdings unter dem Vorbehalt, nicht in die Kampfzonen verlegt zu werden.
Vergangenen Mittwoch sagte Stabschef Admiral Mullen zu Journalisten, er habe General McChrystal Instruktionen erteilt, sich gegebenenfalls wegen zusätzlicher Soldaten an ihn zu wenden und "zu sagen, was gebraucht wird". Es gibt keinen Grund für die Annahme, dass Obama nicht akzeptieren wird, was immer die Militärköpfe fordern. Seit seiner Wahlkampagne hat er seine Präsidentschaft damit verknüpft, den Krieg in Afghanistan nicht nur zu "gewinnen", sondern auch nach Pakistan auszuweiten. Hinter dem Vorwand, den islamischen Extremismus und Terrorismus auszurotten, versteckt sich das Streben nach strategischer Dominanz der USA in ganz Zentralasien.