Die Suche nach den Ursachen des Einsturzes des Kölner Stadtarchivs am 3. März ist auch drei Wochen nach dem Unglück, das zwei Todesopfer forderte, noch immer nicht vollständig geklärt. Die beiden jungen Menschen, ein Bäckerlehrling und ein Designstudent wurden offenbar durch den Einsturz des benachbarten Hauses im Schlaf überrascht. In der Nacht zum 8. März war zunächst die Leiche des 17-jährigen Kevin K. und erst vier Tage später die des 24-jährigen Khalil G. geborgen worden.
Immer deutlicher wird, dass der Einsturz alles andere als ein nicht vorhersehbares Naturereignis war. Es gab mehrfache Warnungen, die aber im Interesse von Profiteuren beim U-Bahnbau und der Stadtentwicklung von den verantwortlichen Behörden und Firmen ignoriert wurden. Nicht allein die in Köln bekannte "Klüngelwirtschaft", Schlamperei und Vetternwirtschaft ist dafür verantwortlich zu machen, dass Menschenleben und einmalige historische Werte vernichtet wurden. Infolge von Sparmaßnahmen, Deregulierung und Privatisierung wurden Inkompetenz, Kostendruck und Gewinnstreben zu wesentlichen Faktoren.
Die Schuldfrage wird seit Wochen hin- und hergeschoben zwischen dem Bauherrn, den Kölner Verkehrsbetrieben (KVB), der Stadt Köln und den beteiligten Baufirmen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt vorläufig weiter gegen "unbekannt", wegen Baugefährdung und fahrlässiger Tötung.
Wie die Süddeutsche Zeitung am 18.März berichtete, war die KVB durch die gigantische Baumaßnahme vollkommen überfordert. Sie hatte offenbar weder das dafür erforderliche Knowhow noch entsprechend ausgebildetes Personal, das die an Privatfirmen vergebenen Aufträge entsprechend hätte überprüfen können. Daher musste man sich, so der ehemalige Kölner Baudezernent Bela Dören, auf die beauftragten Firmen verlassen. Das Baukonsortium besteht aus den Firmen Bilfinger Berger, Wayss + Freytag und Züblin.
Entscheidungen fielen, so der Diplomingenieur Peter Jacobs in einem Referat im Juni 2008 zum Thema Restrukturierung und Kostendruck versus Sicherheit und Verfügbarkeit, durch parteipolitische Einflüsse. Die technische Kompetenz der Entscheider, meist Juristen oder Kaufleute, sei - insbesondere auf der Ebene der Vorstände oder Geschäftsführer - "vielfach nicht mehr vorhanden". Eine große Rolle spielten daher nicht die technischen Detailkenntnisse, sondern "Forderungen zur Kostenersparnis".
Bis 2002 war in Köln das für seine Kompetenz bekannte Amt für Brücken- und Stadtbahnbau für den Bau der U-Bahnen verantwortlich. Von der Bodenuntersuchung über die Entwurfsentwicklung und die Ausschreibungen bis hin zur Bauüberwachung und Bauunterhaltung lag alles dort in der Hand erfahrener Fachleute.
Um Kosten zu sparen, beschloss der Rat, das Amt zu "verschlanken" und der KVB den U-Bahn-Bau zu übertragen. Die von der EU vorgeschriebenen europaweiten Ausschreibungen für Dienstleistungen, nach denen das jeweils "wirtschaftlichste" Angebot zu nehmen ist, trugen vermutlich ebenfalls ihren Teil dazu bei, dass nicht die Sicherheitsstandards an erster Stelle kamen.
Was bis jetzt feststeht: Das Unglück hätte vermieden werden können, wenn die Verantwortlichen, wer auch immer das jeweils war, rechtzeitig und angemessen reagiert hätten, nachdem erste Gefahrenmomente bekannt wurden. Ähnliche Probleme wie in Köln waren beim U-Bahnbau in Amsterdam aufgetaucht, der danach sofort gestoppt wurde. Auch beim U-Bahnbau in Leipzig tauchten solche Probleme auf, die durch entsprechende Sicherheitsmaßnahmen behoben wurden.
Hydraulischer Grundbruch
Als wahrscheinlichste Ursache für den Einsturz gilt inzwischen ein Grundbruch beim U-Bahnbau, durch den Grundwasser und riesige Erdmassen in den U-Bahn-Schacht eingebrochen sind und der Boden unter dem Stadtarchiv und den angrenzenden Häusern absackte.
Immer wieder traten beim U-Bahn-Bau Probleme mit dem Grundwasser auf. Am 21. März wurde bekannt, dass es bereits am 8. September 2008 in der 28 Meter tiefen Bausgrube am Waidmarkt unmittelbar am Stadtarchivgebäude einen so genannten hydraulischen Grundbruch gab, durch den die Baugrube mit Grundwasser überschwemmt wurde. Das geht dass aus bisher nicht veröffentlichten Protokollen von Baustellen-Besprechungen aus dem Februar hervor.
Diese Protokolle wurden der Öffentlichkeit einschließlich des Rates und des Oberbürgermeisters vorenthalten. Das ist für Oberbürgermeister Fritz Schramma und die Verwaltung eine gute Gelegenheit, die Verantwortung von sich abzuwälzen und immer wieder neue Versionen aufzutischen, weshalb sie keine Schuld treffe. Schramma strengte inzwischen ein Disziplinarverfahren gegen seinen Baudezernenten Bernd Streitberger an, weil dieser schon 8 Tage vor ihm über die Protokolle vom Wassereinbruch im September informiert war und ihn nicht informiert hatte.
Obwohl ein derartiger Zwischenfall bei unterirdischen Bauarbeiten normalerweise als GAU gilt, wurde das Ereignis von den beteiligten Ingenieurfirmen und dem Bauherrn, den Kölner Verkehrsbetrieben verharmlost. Es wurden Mehrkosten berechnet, um zusätzliche Brunnen zu bauen.
Die Kölner Umweltdezernentin Marlies Bredehorst (Grüne)gab zu, dass es Verstöße gegen wasserrechtliche Genehmigungen gegeben habe. Die Baufirmen hatten nämlich statt der genehmigten vier Brunnen fünfzehn gebaut und viermal soviel Wasser abgepumpt als genehmigt war. Das war bei dem bekanntlich äußerst problematischen Kölner Baugrund aus Rheinkies, Fließsand und tausend Jahre altem Bauschutt zumindest riskant, wenn nicht unverantwortlich.
Am 30. September kam ein Gutachten des Aachener Hochschulinstituts für Geotechnik im Bauwesen zu beunruhigenden Ergebnissen. Es warnte, dass sich die "üblichen Berechnungsverfahren" als "auf der unsicheren Seite liegend" erwiesen hätten und die Einbindetiefen der die Baugruben stützenden Schlitzwände viel zu gering sein könnten. "Dadurch können Situationen entstehen, welche nicht nur wirtschaftlichen Schaden mit sich bringen, sondern unter Umständen auch Menschenleben gefährden können", hieß es in dem Gutachten. Wieweit dieses Gutachten zu Konsequenzen beim Weiterbau führte, darüber schweigt sich die KVB bisher aus
In den Bauprotokollen von der Baustelle Waidmarkt vom 3. und 17. Februar und vom Einsturztag, dem 3. März, wird jeweils unter Punkt "3.2 Terminplan" aufgeführt: "Nach Ansicht der Arge (Arbeitsgemeinschaft) Süd wird aufgrund des hydraulischen Grundbruchs im September ein erneuter Verzug von voraussichtlich 4-6 Wochen eintreten." An den Baustellenbesprechungen hatten unter anderem Mitarbeiter der KVB, der Firmen-Arbeitsgemeinschaft (Arge) Los Süd und ein Vertreter der städtischen Vermessungsabteilung teilgenommen.
Im Bauprotokoll vom 17. Februar 2009 ist außerdem davon die Rede, dass "durch zwei Schlitzwandfugen im Block weiterhin größere Mengen Wasser" in die Baugrube eindrängen. Das heißt, die Probleme waren keineswegs behoben, als weitergebaut wurde.
Absenkungen und Risse
Am 22. Oktober 2004 bereits hatte sich der Turm der in der nähe befindlichen Kirche St. Johann Baptist um 77 Zentimeter geneigt. Das war 15-mal soviel, wie bei der Planung der U-Bahn einkalkuliert worden war. Weitere Schäden und Absenkungen traten am Kölner Rathausturm und an der Kirche St. Maria im Kapitol sowie an Privathäusern entlang der U-Bahn-Trasse auf.
Im Dezember 2008 stellte ein Gutachter für Tragwerkstechnik bei einer Begehung des Historischen Stadtarchivs acht so genannte Setzrisse an Decken und Wänden des Gebäudes fest, die jedoch in "statischer Hinsicht" als unbedenklich eingestuft wurden. Allerdings warnte der Gutachter: "Um die genauen Ursachen für das unterschiedliche Setzverhalten herauszufinden, empfehle ich Ihnen, einen öffentlich anerkannten Sachverständigen für Bauwerksschäden einzuschalten." Dass dieser Rat nicht beachtet wurde, ist offensichtlich.
Weitere Absenkungen von Gebäuden wurden bei Messungen im Februar festgestellt. Die Messungen ergaben, dass sich das Gebäude an einem einzigen Tag um 7 Millimeter senkte, was von Experten bei dem besonders problematischen Baugrund für äußerst kritisch angesehen wird. Seit der sogenannten Null-Messung zu Beginn der Bauarbeiten hatte sich damit das Gebäude vorne um 20 Millimeter und hinten um 17 Millimeter gesenkt.
Kritik am U-Bahn-Bau
Kritiker des U-Bahn-Baus halten das ganze Projekt für vollkommen überflüssig, weil verkehrstechnisch andere Nord-Süd-Verbindungen möglich gewesen wären. So existierte beispielsweise noch eine oberirdische Trasse der Rheinuferbahn, die von Bonn bis zum Hauptbahnhof/Dom reichte. Sie diente nach der Stilllegung der Bahn bis vor kurzem noch als Bus-Parkplatz.
Angeblich geht es bei dem U-Bahn-Bau um die Verbesserung der Verkehrs-Verbindungen von der Kölner Südstadt bis zum Dom, sagen die Kölner Verkehrsbetriebe AG (die KVB ist durch Privatisierung zu einer Aktiengesellschaft geworden) und die SPD/CDU-Fraktion im Stadtrat. Diese beschloss 1992 den viel kostenaufwändigeren und gefährlichen U-Bahn-Bau, an dem eine Menge Privatfirmen auf Kosten der steuerzahlenden Bevölkerung viel Geld verdienen.
Hintergrund des Baus sind weitere Bauvorhaben. Dort, wo die U-Bahn endet, zwischen Südstadt und Raderberg, gibt es zur Zeit kaum Wohngebiete. Bis jetzt befindet sich dort seit 1939 der Kölner Großmarkt, der jedoch verlegt werden und Platz für ein städtebauliches Areal schaffen soll, das nach dem U-Bahnbau optimal vermarktet werden könnte. Davon würden die gleichen Firmen profitieren, die bereits bei den letzten derartigen Großvorhaben in Köln absahnen konnten, vor allem der Esch-Oppenheim-Fond, eine private Großbank, die auch in den skandalumwitterten Neubau der Köln-Messe verwickelt ist.
Wie stark die Kosten für die U-Bahn-Linie noch ansteigen werden, ist nicht absehbar. Die am Anfang auf 500 Millionen Euro veranschlagten Kosten sind inzwischen auf mindestens 1,3 Milliarden gestiegen.
Viele Geschäftsleute entlang der Baustelle haben große Einbußen, Anwohner fürchten um ihre Häuser und Wohnungen und dass sie ebenso wie diejenigen, die in den eingestürzten Gebäuden wohnten, alles verlieren könnten, was zu ihrem bisherigen Leben gehörte.
Wie viel noch passieren kann durch den Weiterbau der U-Bahn ist ebenfalls vollkommen ungeklärt. Zur Zeit kursiert im Moment im Internet ein Bild vom zerstörten Köln (vermutlich von 1945) mit der Überschrift "Köln in zwei Jahren" und der Unterschrift "Die U-Bahn ist fertig".
Vernachlässigung des Stadtarchivs durch Sparpolitik
Unbegreiflich ist auch, dass sich zwar das ebenfalls in der Severinstraße gelegene Polizeipräsidium und die Kirche Sankt Johann Baptist, deren Turm sich massiv gesenkt hatte, auf der Liste der durch den U-Bahn-Bau gefährdeten Gebäude befunden hatten, nicht jedoch das Stadtarchiv mit seinen unersetzbaren historischen Schätzen.
Schon seit vielen Jahren litt das Stadtarchiv unter der Sparpolitik der Stadt Köln, bei der zwar Millionensummen an Steuergeldern für alle möglichen Projekte locker gemacht wurden, bei denen zum Teil große Schmiergeldskandale aufgedeckt wurden. Aber wirklich für die Bevölkerung wichtige Vorhaben wurden immer wieder verzögert oder ganz fallengelassen.
So war der Neubau von 1971 des jetzt zusammengebrochenen Hauses an der Severinstraße die letzte große Investition in das Stadtarchiv - seitdem verfiel das Gebäude wie zahlreiche andere öffentliche Bauten in dieser Stadt immer mehr. Benutzer beschwerten sich über den Zustand der sanitären Anlagen, die technischen Einrichtungen ließen zu wünschen übrig, Kopien oder Digitalisate des Archivguts waren für die Forscher sehr teuer oder kaum zu bekommen.
Außer dem immer prekärer werdenden baulichen Zustand wurde auch Personal eingespart. Als Everhard Kleinertz, der Vorgänger der heutigen Archivleiterin Bettina Schmidt-Czaia, 1973 als Archivar im Stadtarchiv anfing, gab es dort noch 67 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. 2005 waren davon nach etlichen Kürz- und Streichrunden gerade noch 26 übrig geblieben. Darunter litten auch die Betreuung, Restaurierung und Erschließung der Archivalien.
Verluste für die Geschichtsforschung
Noch immer wird täglich von zahlreichen Helfern der Schutt aus dem 28 Meter tiefen Krater geräumt und dazwischen Archivgut gefunden und grob sortiert. Anschließend wird es in einer großen Halle von zahlreichen freiwilligen Helfern und Helferinnen untersucht und soweit möglich geordnet.
Feuchte Archivalien werden sofort in das Archiv nach Münster gebracht, wo sich eine ausreichend große Anlage zum Gefriertrocknen befindet. Danach wird ein langwieriger Prozess der Restaurierung nötig sein.
Der Zustand der gefundenen Stücke ist sehr unterschiedlich. Einige Dokumente, darunter der gesamte Nachlass des ehemaligen Kölner Oberbürgermeisters und späteren Bundeskanzlers Konrad Adenauer, konnten fast unversehrt geborgen werden, weil sie durch eine Betonplatte vor dem tagelangen Regen geschützt waren. Gefunden wurden u. a. auch Handschriften des mittelalterlichen Gelehrten und Lehrers von Thomas von Aquin Albertus Magnus. Vieles ist jedoch nach Meinung von Experten nicht mehr zu retten, entweder weil es durch den Aufprall völlig zermatscht wurde oder sich im Wasser auflöste.
Künstler und Wissenschaftler sind bestürzt über die Verluste
Der Leiter der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar Michael Knoche, der die Unglücksstelle besuchte, hält das Kölner Desaster für viel gravierender als den durch den Brand 2004 entstandenen Schaden in seiner Bibliothek. Die Bücher, die durch den Brand vollkommen zerstört wurden, konnten bis auf wenige einmalige Exemplare, Inkunabeln und Handschriften, ersetzt werden oder sind zumindest noch irgendwo anders vorhanden. Archivgut jedoch zeichnet sich vor allem durch seine Einmaligkeit aus.
Das Kölner Stadtarchiv war eines der bedeutendsten für die historische Erforschung der europäischen Stadtgeschichte. Die rund 1000 Jahre umfassenden Sammlungen waren in ihrer Vielseitigkeit und Vollständigkeit einmalig.
Wie viel von dem Kölner Archivgut noch zu retten ist, ist schwer abzuschätzen. Manche Experten gehen von höchstens 20 Prozent aus, andere hoffen, es könnten 50 Prozent sein.
Studierende und Forschende, die noch kürzlich das Archiv für ihre Arbeiten benutzt haben, sind entsetzt, weil sie ihre wissenschaftlichen Arbeiten jetzt nicht fortsetzen können und dadurch ihre Zukunft in Frage gestellt ist. Andere, die ihre Arbeiten abgeschlossen haben, können die von ihnen gefundenen Ergebnisse nicht mehr überprüfen lassen, weil die Quellen, die sie ausgewertet haben, nicht mehr vorhanden sind.
Zahlreiche Kölner Künstler und Kulturschaffende haben ihrer Empörung in einem offenen Brief an die Stadt Ausdruck gegeben. Sie protestieren dagegen, dass sich die Verantwortlichen in der Stadt nicht zu ihrer Mitschuld an der Katastrophe bekennen. In dem Schreiben heißt es: "Unsere Empörung ist aber auch darauf zurückzuführen, dass der Einsturz symptomatisch ist für die Art und Weise, wie die Stadt Köln in den letzten Jahren mit ihrer vergangenen und gegenwärtigen Geschichte und Kultur umgegangen ist."
Zu den Unterzeichnern gehören dem Zeitungsbericht zufolge unter anderen der Sohn von Heinrich Böll, René Böll, sowie die Künstler Jürgen Klauke, Rosemarie Trockel, Marcel Odenbach und Curtis Anderson. Auch Architekten unterzeichneten den Brief.