Die US-amerikanische Socialist Equality Party (SEP) hat vom 3. bis 9. August 2008 ihren Gründungskongress durchgeführt. Der Kongress diskutierte und verabschiedete ein Dokument über die "historischen und internationalen Grundlagen der Socialist Equality Party", das wir hier in deutscher Übersetzung in elf Teilen veröffentlichen. Bereits in deutscher Übersetzung erschienen sind ein Bericht über den Gründungskongress und die Grundsatzerklärung der SEP, die ebenfalls vom Gründungskongress verabschiedet wurde.
Die Folgen der Politik des "Sozialismus in einem Land"
44. Trotzki und die Linke Opposition kämpften für die Einführung einer richtigen Wirtschaftspolitik in der Sowjetunion, aber sie beharrten vor allem darauf, dass das Schicksal des revolutionären Regimes von der Ausdehnung der Revolution über die Grenzen der UdSSR hinaus abhinge. Ohne den Sieg der Arbeiterklasse in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern Europas und in Nordamerika könne der Sowjetstaat nicht überleben. Dies war die wesentliche Frage, um die sich der Konflikt zwischen der Linken Opposition und der stalinistischen Bürokratie drehte. 1924 behauptete Stalin, unterstützt von Bucharin, der Sozialismus könne in der UdSSR auf nationaler Grundlage aufgebaut werden. Die Verkündung der Theorie des "Sozialismus in einem Land" stellte einen Fundamentalangriff auf einen wesentlichen Grundsatz der marxistischen Theorie und der Perspektive der Weltrevolution dar, auf die sich die Oktoberrevolution gegründet hatte. Sie bezeichnete einen Wendepunkt in der Geschichte der UdSSR: Die Bürokratie koppelte die Politik der Sowjetunion vom Schicksal der Weltrevolution ab. Die materiellen Interessen der Bürokratie fanden ihren Ausdruck im Programm des "nationalen Sozialismus". Insofern das staatliche Eigentum die Quelle für das Einkommen und die Privilegien der Bürokratie war, diente eine im Wesen defensive national orientierte Politik den Interessen des stalinistischen Regimes. Im Bereich der Außenpolitik ersetzten opportunistische Bewertungen des "nationalen Interesses" eine prinzipielle, internationalistische revolutionäre Ausrichtung. Das stalinistische Regime verwandelte die Kommunistische Internationale in ein Instrument für eine nationalistische sowjetische Außenpolitik. Das Sowjetregime benutzte die nationalen Kommunistischen Parteien als Mittel, um Druck auf die bürgerlichen Regierungen auszuüben. Dies war der Ursprung der Klassenzusammenarbeit, die schließlich die stalinistischen Parteien in Instrumente der Konterrevolution verwandelte.
45. Die Folgen der Wende in der sowjetischen Politik auf internationaler Ebene zeigten sich in der Niederlage des Generalstreiks in Großbritannien im Mai 1926. Stalin bemühte sich um die Sympathie der nationalen Führung der britischen Gewerkschaften und wies die britische Kommunistische Partei an, den Vorstand des Gewerkschaftsdachverbands Trades Union Congress (TUC), der von der Bürokratie kontrolliert wurde, bei der Mobilisierung für und während des Generalstreiks unkritisch zu unterstützen. Dadurch war die Arbeiterklasse auf den Verrat des Generalstreiks durch den TUC nicht vorbereitet.
46. Es folgten noch größere Katastrophen. Die Sowjetbürokratie nahm die Theorie der Permanenten Revolution unter Beschuss und griff die menschewistische Zwei-Stufen-Theorie der Revolution in Ländern mit einer verzögerten kapitalistischen Entwicklung wieder auf. In den Jahren von 1925 bis 1927 befahl Stalin der Kommunistischen Partei Chinas, die bürgerliche Bewegung der Kuomintang zu unterstützen, was mit der Theorie des "Blocks der vier Klassen" gegen den Imperialismus begründet wurde. Trotzki widersprach dieser Politik der Klassenzusammenarbeit energisch und warnte vor ihren katastrophalen Folgen für die sozialistische Revolution in China. Die Tatsache, dass China vom Imperialismus unterdrückt war, bedeutete keine Abschwächung des Konflikts zwischen der chinesischen Bourgeoisie und der Arbeiterklasse. In Wirklichkeit war das Gegenteil der Fall. Wie Trotzki schrieb:
"Die gewaltige Bedeutung des ausländischen Kapitals für das Leben Chinas hat dazu geführt, dass mächtige Schichten der chinesischen Bourgeoisie, der Bürokratie und des Militärs ihr Schicksal mit dem des Imperialismus verbunden haben. Ohne diese Verbindung wäre der gewaltige Einfluss der so genannten Militärmachthaber’ auf das Leben Chinas in letzter Zeit undenkbar. Außerdem wäre es schlicht naiv zu glauben, es läge ein Abgrund zwischen der so genannten Kompradoren-Bourgeoisie, d.h. der ökonomischen und politischen Agentur des ausländischen Kapitals in China, und der so genannten nationalen Bourgeoisie. Diese beiden Schichten stehen einander ungleich näher als die Bourgeoisie den Arbeiter- und Bauernmassen... Es ist ein grober Fehler zu glauben, der Imperialismus schweiße alle Klassen Chinas mechanisch von außen zusammen... Der revolutionäre Kampf gegen den Imperialismus schwächt nicht die Entwicklung der Klassengegensätze, sondern verschärft sie."[30]
47. Trotzkis Warnungen bestätigten sich. Im April 1927 verübten militärische Einheiten der Kuomintang unter der Führung Tschiang Kai-Scheks ein Massaker an der Arbeiterklasse in Schanghai. Ein großer Teil der Führung der chinesischen Kommunistischen Partei wurde von bürgerlich-nationalistischen Kräften umgebracht. Nach dem April 1927 wurde die KP Chinas angewiesen, sich dem "linken" Flügel der Kuomintang unter Wang Tsching-Wei anzuschließen. Aber der "linke" Wang Tsching-Wei verübte an der Arbeiter- und Bauernbewegung ein nicht minder brutales Massaker als Tschiang Kai-Schek. Im August 1927 dann, nachdem die Kommunistische Partei nahezu vollständig demoralisiert und in Auflösung begriffen war, verlangte die Komintern den sofortigen Übergang zum bewaffneten Aufstand. Ein Versuch, diese Politik in Kanton umzusetzen, wurde in nur drei Tagen in Blut ertränkt. Diese katastrophalen Niederlagen, die so weit reichende Auswirkungen auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts haben sollten, bedeuteten das Ende der chinesischen KP als einer Massenpartei der chinesischen Arbeiterklasse. Um den Folgen dieses durch Stalins Politik angerichteten Desasters zu entfliehen, zogen sich die überlebenden KP-Führer einschließlich Mao Zedongs aufs Land zurück und gründeten die Kommunistische Partei neu als eine Organisation, die sich auf die Bauernschaft stützte. Die spätere Geschichte Chinas - bis hin zu seiner heutigen Form als Bastion der räuberischsten Form der kapitalistischen Ausbeutung - kann man nur verstehen, wenn man sich auf Trotzkis Kritik an Stalins "Block der vier Klassen" und der nachfolgenden Tragödie von 1927 stützt.
Der Ausschluss Trotzkis
48. Mit den Niederlagen in Großbritannien und China schwand das Vertrauen der sowjetischen Arbeiterklasse in die Revolution. Dies gab wiederum dem Konservatismus der Bürokratie Auftrieb und verstärkte deren Entfremdung von der Arbeiterklasse. Die Macht in der Sowjetunion konzentrierte sich in den Händen der bürokratischen Clique, an deren Spitze Stalin stand. 1926 vereinigte sich die Linke Opposition für kurze Zeit mit Kamenew und Sinowjew zur Vereinigten Opposition. Im Zeitraum Juli bis Oktober 1926 wurden Kamenew und Trotzki aus dem Politbüro ausgeschlossen, und im November 1927 wurden Trotzki und Sinowjew aus der Russischen Kommunistischen Partei ausgeschlossen. Im Dezember wurden auch alle Anhänger der Linken Opposition ausgeschlossen. Während Kamenew und Sinowjew später vor Stalin kapitulierten und wieder in die Kommunistische Partei eintraten, wurde Trotzki im Januar 1928 nach Alma Ata verbannt und im Februar 1929 aus der Sowjetunion ausgewiesen.
49. Von Beginn seines Exils an beharrte Trotzki darauf, dass alle Differenzen zwischen der stalinistischen Fraktion und der Linken Opposition auf zwei unversöhnlichen Auffassungen von Sozialismus beruhten. Die Stalinisten gingen von der Möglichkeit aus, auf der Grundlage der russischen Ressourcen eine national isolierte sozialistische Gesellschaft zu schaffen, während die Linke Opposition darauf bestand, dass das Schicksal des Arbeiterstaates und seine Weiterentwicklung zum Sozialismus untrennbar mit der Entwicklung der sozialistischen Weltrevolution verbunden waren. 1930 fasste Trotzki in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe seiner zwei Jahre zuvor geschriebenen Broschüre Die Permanente Revolution die wesentliche Frage so zusammen:
"Der Marxismus geht von der Weltwirtschaft aus nicht als einer Summe nationaler Teile, sondern als einer gewaltigen, selbständigen Realität, die durch die internationale Arbeitsteilung und den Weltmarkt geschaffen wurde und in der gegenwärtigen Epoche über die nationalen Märkte herrscht. Die Produktivkräfte der kapitalistischen Gesellschaft sind längst über die nationalen Grenzen hinausgewachsen. Der imperialistische Krieg war eine der Äußerungen dieser Tatsache. Die sozialistische Gesellschaft muss in produktionstechnischer Hinsicht im Vergleich zu der kapitalistischen Gesellschaft ein höheres Stadium darstellen. Sich das Ziel zu stecken, eine national isolierte sozialistische Gesellschaft aufzubauen, bedeutet, trotz aller vorübergehenden Erfolge, die Produktivkräfte, sogar im Vergleich zum Kapitalismus, zurückzerren zu wollen. Der Versuch, unabhängig von den geographischen, kulturellen und historischen Bedingungen der Entwicklung des Landes, das einen Teil der Weltgesamtheit darstellt, eine in sich selbst abgeschlossene Proportionalität aller Wirtschaftszweige in nationalem Rahmen zu verwirklichen, bedeutet, einer reaktionären Utopie nachzujagen."[31]
50. Trotzkis Kritik an Stalins nationaler sozialistischer Perspektive hatte politische Bedeutung über die Probleme der Politik der Sowjetunion hinaus. Es ging um die grundlegendsten Fragen der globalen Perspektive und strategischen Aufgaben der internationalen Arbeiterklasse in der Epoche des Imperialismus. Eine internationale Strategie war für die Arbeiterklasse in einem fortgeschrittenen kapitalistischen Land nicht weniger entscheidend als für die Arbeiterklasse Russlands. Trotzki schrieb:
"Der Abschluss einer sozialistischen Revolution ist im nationalen Rahmen undenkbar. Eine grundlegende Ursache für die Krise der bürgerlichen Gesellschaft besteht darin, dass die von dieser Gesellschaft geschaffenen Produktivkräfte sich mit dem Rahmen des nationalen Staates nicht vertragen. Daraus ergeben sich einerseits die imperialistischen Kriege, andererseits die Utopie der bürgerlichen Vereinigten Staaten von Europa. Die sozialistische Revolution beginnt auf nationalem Boden, entwickelt sich international und wird vollendet in der Weltarena. Folglich wird die sozialistische Revolution in einem neuen, breiteren Sinne des Wortes zu einer permanenten Revolution: sie findet ihren Abschluss nicht vor dem endgültigen Siege der neuen Gesellschaft auf unserem ganzen Planeten."[32]
Die frühen Kämpfe der internationalen Linken Opposition
51. Die Linke Opposition fand außerhalb der russischen Kommunistischen Partei Resonanz. Ein Durchbruch erfolgte, als Trotzkis Kritik des Programmentwurfs für die Kommunistische Internationale, die dieser für den Sechsten Kongress im Jahre 1928 vorbereitet hatte, durch einen glücklichen Zufall in die Hände von James P. Cannon fiel, einem langjährigen Revolutionär und Gründungsmitglied der amerikanischen Kommunistischen Partei. Nachdem sie das Dokument studiert hatten, beschlossen Cannon und der kanadische Revolutionär Maurice Spector, sich für Trotzkis Positionen einzusetzen. Nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten nahm Cannon mit Unterstützung von Max Shachtman und Martin Abern den Kampf für die Positionen der Linken Opposition in der Kommunistischen Partei auf. Eine Stellungnahme von Cannon, Shachtman und Abern wurde auf einem Treffen des Politischen Komitees der Kommunistischen Partei am 27. Oktober 1928 vorgelegt. Darin heißt es:
"Die Versuche, das Fundament der marxistisch-leninistischen Lehre durch die hohle Theorie des Sozialismus in einem Land zu revidieren, sind von der Opposition unter Führung Trotzkis zu Recht bekämpft worden. Diese falsche Theorie war der Ausgangspunkt einer Reihe revisionistischer und opportunistischer Fehler auf verschiedenen Gebieten der Tätigkeit der Komintern und in ihrer ideologischen Arbeit im allgemeinen. Die falsche Linie in der Frage der chinesischen Revolution, das Debakel des Anglo-Russischen Komitees, das beunruhigende und beispiellose Wuchern des Bürokratismus in der Komintern, eine falsche Haltung und Politik in der Sowjetunion, etc, etc., all dies kann wenigstens teilweise darauf zurückgeführt werden. Diese neue Theorie’ hängt damit zusammen, dass die Robustheit und Dauer der zeitweiligen Stabilisierung des Kapitalismus überschätzt wird. Das ist die wirkliche Quelle des Pessimismus in der Beurteilung der Entwicklung der proletarischen Weltrevolution. Zu den Hauptpflichten jedes Kommunisten in jeder Partei der Komintern gehört, gemeinsam mit der Opposition für die Lehren von Marx, Engels und Lenin in dieser grundlegenden Frage einzutreten."[33]
52. Noch auf der gleichen Sitzung des Politischen Komitees wurde Cannon aus der Partei ausgeschlossen. Er gründete daraufhin die Communist League of America. Damit nahm die trotzkistische Bewegung in den Vereinigten Staaten, die in der internationalen trotzkistischen Bewegung solch eine wichtige Rolle spielen sollte, ihre Arbeit auf einer prinzipiellen Grundlage auf. Ihr Ausgangspunkt war nicht ein Streit über organisatorische Fragen oder die nationale Taktik, sondern vielmehr über die entscheidende Frage der internationalen revolutionären Strategie. Das Dokument, das Cannon inspirierte, Trotzkis Kritik des Programmentwurfs für die Kommunistische Internationale, richtete sich umfassend gegen die nationalistische Orientierung der Stalinschen Führung und ihre Unfähigkeit, die strategischen Erfahrungen der internationalen Arbeiterklasse seit der Oktoberrevolution von 1917 auszuwerten. In seiner Einschätzung zur weltweiten politischen und wirtschaftlichen Lage kritisierte Trotzki, dass in dem Perspektivdokument eine Analyse der Bedeutung des amerikanischen Imperialismus fehle. Trotzki hob die stürmischen Folgen hervor, die es haben musste, wenn der amerikanische Imperialismus seine Vorherrschaft durchsetzen und aufrechterhalten würde. Er erwartete zwar eine schwere Wirtschaftskrise in den Vereinigten Staaten, meinte aber, dass dies die dominante Stellung Amerikas in der Weltpolitik nicht mindern werde.
"Genau das Gegenteil trifft zu. Während der Krise wird sich die Hegemonie der Vereinigten Staaten noch viel vollständiger, offener, schärfer und rücksichtsloser auswirken als während der Aufstiegsperiode. Die Vereinigten Staaten werden versuchen, ihre Schwierigkeiten und Krankheiten vorwiegend auf Kosten Europas zu bekämpfen und zu überwinden, ganz gleich, ob in Asien, Kanada, Südamerika, Australien oder Europa selbst, oder ob auf friedlichem oder kriegerischem Wege."[34]
53. Mit dem Börsenkrach an der Wall Street im Oktober 1929 begann eine weltweite Depression, die den Kapitalismus in die größte Krise seiner Geschichte stürzte. Grade mal ein gutes Jahrzehnt nach Ende des Ersten Weltkriegs stellten die Große Depression der 1930er Jahre und die daraus entspringenden blutigen sozialen und politischen Unruhen eine weitere, gründliche Widerlegung der selbstzufriedenen Haltung aller Revisionisten und Reformisten dar. Der Kapitalismus war durch seine eigenen Widersprüche in Europa, Asien und Nordamerika an den Rand des Zusammenbruchs geraten. Dass er diese Unruhen überlebte, wenn auch auf Kosten einer unvorstellbaren Zahl an Menschenleben, war in erster Linie den bewussten politischen Verrätereien der Arbeitermassenorganisationen zu verdanken, die wiederum vor allem von den Stalinisten und Sozialdemokraten geführt wurden. Die Vierte Internationale entstand auf der Grundlage des Kampfes, den Trotzki gegen diese Verrätereien führte. Die Geschichte dieser Auseinandersetzungen und die Lehren daraus stellen bis heute die wesentliche historische, theoretische und politische Grundlage für die Ausbildung von Marxisten dar.
54. Nach seiner Ankunft in der Türkei 1929 setzte Trotzki sich weiterhin für eine richtige Politik in der Sowjetunion ein und forderte ein geplantes und rationelles Industrialisierungsprogramm. Das Ziel der Internationalen Linken Opposition bestand nach wie vor in der politischen Reform des Regimes in der Sowjetunion und der Rückkehr der Kommunistischen Internationale zu einer korrekten revolutionären Linie auf Grundlage marxistischer Prinzipien. Angesichts einer Massenhungersnot, die durch das Zurückhalten von Getreide von Seiten der Bauern ausgelöst worden war, wandte sich die stalinistische Bürokratie in den späten 1920er Jahren von der zuvor besonders bevorzugten Bauernschaft ab und ließ ihre Marktpolitik fallen. Stattdessen begann sie ein brutales und undurchdachtes Programm der Industrialisierung, der Kollektivierung der Landwirtschaft und die "Vernichtung der Kulaken als Klasse". Ihr Programm der raschen Industrialisierung, gegründet auf Wirtschaftsnationalismus und nationale Autarkie, ließ sich nicht ernsthaft mit dem Vorschlag Trotzkis vergleichen, der eine planmäßige staatliche Industrieentwicklung unter Ausnützung der Ressourcen der Weltwirtschaft und im Rahmen internationaler Arbeitsteilung vorsah. Ultralinke Schwankungen in der Innenpolitik wurden von einer scharfen Wende in der Komintern begleitet, die sich, gestützt auf die Theorie der "Dritten Periode", dem sektiererischen politischen Abenteurertum zuwandte. Die politische Perspektive, die diese "Theorie" - oder vielmehr Anti-Theorie - vertrat, ging von einer ständigen "Radikalisierung der Massen" aus, frei von allen Widersprüchen und offenbar ohne Beziehung zu objektiven wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Alle Probleme der politischen Strategie und Taktik wurden von den Stalinisten auf das einfache Herausbrüllen radikaler Parolen reduziert. Wie Trotzki warnend erklärte, kam diese stalinistische Hypothese der Karikatur einer marxistischen Analyse gleich. So schrieb er:
"Vom Standpunkt unserer Epoche als Ganzes geht die Entwicklung des Proletariats natürlich in revolutionärer Richtung. Es handelt sich aber nicht um eine gleichmäßige Entwicklung, wie auch der objektive Prozess der Vertiefung kapitalistischer Widersprüche nicht gleichmäßig verläuft. Die Reformisten überblicken nur die Aufschwünge, die formalen’ Revolutionäre nur die Abwärtsbewegung. Aber ein Marxist sieht den Verlauf als Ganzes, alle seine konjunkturellen Aufs und Abs, ohne einen Moment lang die Hauptrichtung - die Kriegskatastrophen und den Ausbruch von Revolutionen - aus den Augen zu verlieren."[35]
Der Sieg des Faschismus in Deutschland
55. Gemäß der Politik der "Dritten Periode" wurden die Kommunistischen Parteien angewiesen, ihre Anpassung an die Gewerkschaften, sozialdemokratischen Parteien und bürgerlichen Nationalisten zugunsten eines ultralinken Programms aufzugeben, dass die Gründung von "roten" Gewerkschaften und eine Ablehnung der Einheitsfronttaktik beinhaltete. An Stelle der Einheitsfronttaktik bezeichnete man die sozialdemokratischen Parteien nunmehr als "Sozialfaschisten".
56. Die neue Politik der Komintern hatte katastrophale Folgen in Deutschland, wo der Aufstieg des Faschismus eine tödliche Gefahr für die sozialistische Bewegung darstellte. Der Faschismus war eine Bewegung des demoralisierten Kleinbürgertums, das von der Wirtschaftskrise schwer gebeutelt war und sich zwischen den beiden Hauptklassen eingekeilt fand, der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse. Die Niederlagen der sozialistischen Bewegung hatten große Teile des Kleinbürgertums davon überzeugt, dass die Arbeiterklasse nicht die Lösung sondern die Wurzel ihrer Probleme sei. Die deutsche Bourgeoisie nutzte die Faschisten, um die Arbeiterorganisationen zu zerschlagen und die Arbeiterklasse zu atomisieren. Der Sieg von Hitlers Nazipartei im Januar 1933 war nur durch das Zusammenspiel der Verrätereien von Sozialdemokratie und Stalinismus möglich. Die Sozialdemokraten vertrauten auf die Weimarer Republik, die sich längst in Auflösung befand, und fesselten die Arbeiterklasse an den kapitalistischen Staat. Die stalinistische Politik des "Sozialfaschismus" - nach der es sich bei der SPD und Hitlers Partei um "Zwillinge" handelte - verbot alle Formen der Zusammenarbeit zwischen der Kommunistischen Partei und der Sozialdemokratie, und sei es auch nur zu Verteidigungszwecken. Sie raubte der Kommunistischen Partei jede Möglichkeit, das Vertrauen von Arbeitern zu gewinnen, die immer noch loyal zur SPD standen. Als die Führung der Kommunistischen Partei die kriminelle Parole "Nach Hitler kommen wir" ausgab, warnte Trotzki im Dezember 1931: "Arbeiter-Kommunisten, Ihr seid Hunderttausende, Millionen; ihr könnt nirgends hinfahren, für euch gibt es nicht genug Reisepässe. Wenn der Faschismus zur Macht gelangt, wird er wie ein furchtbarer Panzer über eure Schädel und Wirbelsäulen hinwegrollen. Rettung liegt nur in unbarmherzigem Kampf. Und Sieg im Kampf kann nur das Bündnis mit den sozialdemokratischen Arbeitern bringen. Eilt, Arbeiter-Kommunisten, es bleibt euch wenig Zeit"[36] Diese Warnung bestätigte sich auf tragische Weise, als Hitler 1933 an die Macht kam, die Führung der Arbeiterklasse verhaften und hinrichten ließ und die unabhängigen Arbeiterorganisationen zerschlug.
57. Der Sieg des Faschismus in Deutschland markierte einen entscheidenden Punkt im Niedergang der Kommunistischen Parteien. Trotz des ungeheuren Ausmaßes der Niederlage in Deutschland gab es in den Parteien der Kommunistischen Internationale keine Opposition. Trotzki reagierte darauf mit dem Aufruf zur Gründung neuer Parteien und einer neuen Internationale. "Die Moskauer Leitung erklärte nicht nur die Politik, die Hitlers Sieg gesichert hatte, für fehlerfrei, sondern verbot, über das Geschehene zu diskutieren", schrieb Trotzki im Juli 1933. "Und diese schmachvolle Verteidigung wurde weder zurückgewiesen, noch auch nur angegriffen. Kein nationaler Kongress, kein internationaler Kongress, keine Diskussion in den Parteiversammlungen, keine Polemik in der Presse! Eine Organisation, die der Donner des Faschismus nicht geweckt hat, und die demütig derartige Entgleisungen von Seiten der Bürokratie unterstützt, zeigt, dass sie tot ist und nichts sie wieder beleben wird."[37] Trotzki verstand die Sowjetunion weiterhin als Arbeiterstaat, wenn auch einen, der eine weit reichende Degeneration durchlaufen hatte. Er warnte jedoch, dass das langfristige Überleben der Sowjetunion, ganz zu schweigen von ihrer Entwicklung auf sozialistischer Grundlage, vom Sturz der Bürokratie in einer politischen Revolution abhängen werde.
Die Vierte Internationale und der Kampf gegen den Zentrismus
58. Der Aufruf zur Gründung der Vierten Internationale war kein taktisches Manöver. Er stützte sich auf eine objektive Einschätzung der gesellschaftlichen und politischen Transformation, die das Sowjetregime, die Komintern und deren Beziehung zur Arbeiterklasse durchlaufen hatten. An diesem Punkt geriet Trotzki Mitte der 1930er Jahre in Konflikt mit politischen Tendenzen, die er als "Zentristen" bezeichnete. Diese Gruppen bekannten sich zwar zur sozialistischen Revolution, wandten sich aber gegen den Aufbau der Vierten Internationale. Sie hofften vielmehr eine Art Mittelweg zwischen Stalinismus und Trotzkismus, zwischen reformistischer und revolutionärer Politik zu finden.
59. Ein Zentrist, schrieb Trotzki 1934, "steht dem revolutionären Prinzip: Aussprechen, was ist’, voll Widerwillen gegenüber; er neigt dazu, grundsätzliche Kritik mit persönlichem Kombinieren und kleinlicher Diplomatie zwischen Organisationen zu vertauschen." Er fügte hinzu: "Zwischen Opportunist und Marxist nimmt der Zentrist eine Stellung ein, die in gewissem Grade derjenigen entspricht, die der Kleinbürger zwischen Kapitalisten und Proletarier einnimmt: Er schmeichelt dem ersten und verachtet den zweiten." Einen weiteren Wesenszug des Zentrismus beschrieb Trotzki so: "Er begreift nicht, dass man in der heutigen Epoche die nationale revolutionäre Partei nur als Teil der internationalen Partei aufbauen kann; in der Wahl seiner internationalen Verbündeten ist er noch weniger wählerisch als im eigenen Lande."[38]
60. Als sich die Arbeiterklasse gegen die faschistische Bedrohung nach links bewegte, blockierten die zentristischen Gruppen den Aufbau einer wirklich revolutionären Partei. Die zentristischen Tendenzen - darunter die Independent Labour Party in Großbritannien, die von deutschen Emigranten geführte SAP (in der der spätere SPD-Parteichef und Kanzler Willy Brandt eine führende und verräterische Rolle spielte), die spanische POUM und andere - versuchten einen Mittelweg zwischen revolutionärer und reformistischer Politik zu finden. Hinter ihrer Behauptung, die Gründung der Vierten Internationale sei "verfrüht", stand 1) eine grundlegende Ablehnung von Trotzkis Einschätzung des stalinistischen Regimes und seiner verbündeten Parteien als konterrevolutionär und 2) eine Weigerung, entschlossen mit den opportunistischen Beziehungen zu brechen, die in ihrem jeweiligen nationalen Milieu vorherrschten.
Der Volksfront-Verrat
61. Die abwartende Haltung und Unentschlossenheit der zentristischen Tendenzen unterhöhlte den Kampf gegen den Stalinismus unter Bedingungen, wo das Sowjetregime immer offener einen konterrevolutionären Charakter annahm. Nachdem die Stalinisten sich in Deutschland gegen Trotzkis Forderung nach einer "Einheitsfront" der Arbeiterklasse gegen Hitler gewandt hatten, gingen sie nach dem Sieg der Nazis in die umgekehrte Richtung. Auf dem Siebten Kongress der Komintern im Jahre 1935 gaben sie ein neues Programm aus: die "Volksfront". Im Namen des Kampfs gegen den Faschismus und zur Verteidigung der Demokratie wurde zur Bildung von politischen Allianzen mit "demokratischen" bürgerlichen Parteien aufgerufen. Die praktische Wirkung dieser Allianzen bestand in der Unterordnung der Arbeiterklasse unter die Bourgeoisie, das Privateigentum und den kapitalistischen Staat. Während sich die Volksfront für die Arbeiterklasse als katastrophal erwies, diente sie den Interessen der Sowjetbürokratie. Stalin bot an, die Kommunistischen Parteien in den verschiedenen Ländern als Mittel zur Unterdrückung des revolutionären Kampfes der Arbeiterklasse zu benutzen, und erhoffte sich dadurch verbesserte Beziehungen zu bürgerlichen Regimes und eine Verbesserung der diplomatischen Stellung der UdSSR. Welche begrenzten und kurzfristigen diplomatischen Vorteile auch immer auf Grundlage dieser Strategie zu gewinnen waren, so bleibt es doch eine Tatsache, dass die durch die "Volksfrontpolitik" verursachten Niederlagen der Arbeiterklasse die Sowjetunion nachhaltig schwächten.
62. Die stalinistische Politik richtete sich mittlerweile bewusst gegen die revolutionäre Machtübernahme der Arbeiterklasse. Stalin fürchtete, dass gerade in Westeuropa ein Sieg der Arbeiterklasse die revolutionäre Bewegung in der sowjetischen Arbeiterklasse erneut zum Leben erwecken würde. In den Jahren von 1936 bis 1938 beteiligten sich die Stalinisten am Abwürgen einer revolutionären Situation in Frankreich, die im Juni 1936 von einem Generalstreik ausgelöst wurde. Die Volksfrontregierung demoralisierte, unterstützt von der Kommunistischen Partei Frankreichs, die Arbeiterklasse und machte den Weg für die Kapitulation der französischen Bourgeoisie vor Hitler im Juni 1940 frei. In der Spanischen Revolution unterstützten die Stalinisten die bürgerliche Regierung von Azaña. Stalin überschwemmte Spanien mit GPU-Agenten, die revolutionäre Kräfte umbrachten und die Unterdrückung des Arbeiteraufstands in Barcelona organisierten. Sie entführten, folterten und ermordeten Andres Nin, den Führer der POUM. Die Liquidierung der POUM durch die Stalinisten wurde auf tragische Weise durch die zentristische Politik Nins erleichtert. In den Vereinigten Staaten unterstützte die Kommunistische Partei die Demokratische Partei und die Regierung von Präsident Franklin Delano Roosevelt.
63. Der Sinn der Volksfrontpolitik, die Trotzki als Allianz zwischen bürgerlichem Liberalismus und der GPU bezeichnete, war die Verteidigung des kapitalistischen Eigentums gegen die Gefahr der sozialistischen Revolution. In Reden wurde die "Demokratie" hochgehalten, um die Entwaffnung der Arbeiterklasse als unabhängige Kraft zu erleichtern, während die Klasseninteressen, denen der "demokratische" Staat diente, verschwiegen wurden. Überall da, wo die Arbeiterklasse vom Kampf um die politische Macht abgehalten wurde, war der Kampf gegen die reale Bedrohung der Demokratie auf fatale Weise eingeschränkt. Wie sich in Frankreich und Spanien zeigte, kann es ohne Kampf für den Sozialismus keine Verteidigung der Demokratie geben, und alle diese Versuche endeten im Desaster. Die Stalinisten behaupteten in Frankreich und Spanien immer wieder, eine revolutionäre Politik würde das Kleinbürgertum "erschrecken" und es in die Arme der Faschisten treiben. Daher könne die Arbeiterklasse sich die Sympathie der Mittelschichten nur erhalten, wenn sie auf sozialistische Forderungen und eine Gefährdung des Privateigentums verzichte und im Rahmen der Volksfront gemäßigte bürgerliche Politiker unterstütze. Trotzki wies diese feige und defätistische Herangehensweise entschieden zurück, in der sich vollkommenes Unverständnis für die soziale Psychologie der Mittelklassen ausdrückte:
"Es ist falsch, dreimal falsch, zu behaupten, das heutige Kleinbürgertum gehe nicht mit den Arbeiterparteien, weil es "extreme" Maßnahmen scheut. Ganz im Gegenteil. Die unteren Schichten des Kleinbürgertums, seine breiten Massen, sehen in den Arbeiterparteien nur Parlamentsmaschinen, trauen nicht der Kraft der Arbeiterparteien, ihrer Kampffähigkeit, ihrer Bereitschaft, diesmal den Kampf bis ans Ende zu führen.
Ist dem aber so, lohnt es dann, den Radikalismus durch seine linken parlamentarischen Spießgesellen zu ersetzen? So urteilt oder reagiert der halb enteignete, ruinierte und in Empörung versetzte Eigentümer. Ohne Verständnis für diese Psychologie der Bauern, Handwerker, Angestellten, kleinen Beamten usw. - eine Psychologie, die sich aus der sozialen Krise ergibt - ist es unmöglich, die richtige Politik auszuarbeiten. Das Kleinbürgertum ist wirtschaftlich abhängig und politisch zerstückelt. Es kann darum nicht selbstständig Politik machen. Es braucht einen Führer’, der ihm Vertrauen einflößt. Diesen Führer, einen individuellen oder einen kollektiven, eine Person oder eine Partei, kann ihm die eine oder die andere Grundklasse liefern, entweder die Großbourgeoisie oder das Proletariat. Der Faschismus eint und bewaffnet die zerstreuten Massen: Aus menschlichem Staub schafft er Kampfabteilungen. Damit gibt er dem Kleinbürgertum die Illusion, dass es eine selbstständige Kraft sei. Es beginnt sich einzubilden, dass es wirklich den Staat kommandieren werde. Kein Wunder, wenn ihm die Hoffnungen und Illusionen zu Kopf steigen.
Aber das Kleinbürgertum kann auch das Proletariat zum Führer nehmen."[39]
64. Die Verwandlung der Komintern in ein Instrument der Sowjetbürokratie war von einer Säuberungs- und Parteiausschlusswelle begleitet, in der alle Vertreter der Tradition des revolutionären Internationalismus durch einen Vertreter des Apparats ersetzt wurden. Diese Transformation hatte 1923 begonnen und setzte sich die gesamten 1930er Jahre hindurch fort, häufig im Namen des Kampfes gegen den Trotzkismus. Zur Zeit der "Volksfrontpolitik" hatte die Komintern das Programm der Weltrevolution bereits vollkommen fallen gelassen, das Stalin selbst als "tragikomisches Missverständnis" bezeichnete. Die Komintern wurde schließlich 1943 als Geste der Stalinschen Bürokratie gegenüber den imperialistischen Alliierten aufgelöst.
Die Verratene Revolution
65. 1936 verfasste Trotzki Die Verratene Revolution, aus der sich die sozioökonomische Notwendigkeit zum Aufbau der Vierten Internationale ableitete. In diesem gewaltigen Werk beschrieb Trotzki die spezifischen Gesetzmäßigkeiten, die die Sowjetbürokratie hervorgebracht hatten, wachsen ließen und unvermeidbar auch zerstören mussten. Er weigerte sich, der Bürokratie irgendeine fortschrittliche historische Rolle zuzuschreiben. Er analysierte die Widersprüche, die die Existenz der Bürokratie als privilegierter Kaste innerhalb des Arbeiterstaates prägten, und erklärte, die Errungenschaften der Oktoberrevolution von 1917 könnten nur durch die politische Revolution erhalten und ausgebaut werden. Die sowjetischen Arbeiter müssten die Bürokratie durch einen gewaltsamen Umsturz beseitigen und gleichzeitig die von der bolschewistischen Revolution geschaffenen verstaatlichten Eigentumsverhältnisse beibehalten und weiter entwickeln. Trotzki definierte das Sowjetregime als Übergangsregime, dessen Schicksal von der Weltrevolution abhing. Zusammenfassend stellte er fest:
"Die UdSSR ist eine zwischen Kapitalismus und Sozialismus stehende, widerspruchsvolle Gesellschaft, in der a) die Produktivkräfte noch längst nicht ausreichen, um dem staatlichen Eigentum sozialistischen Charakter zu verleihen, b) das aus Not geborene Streben nach ursprünglicher Akkumulation allenthalben durch die Poren der Planwirtschaft dringt, c) die bürgerlich bleibenden Verteilungsnormen einer neuen Differenzierung der Gesellschaft zugrunde liegen, d) der Wirtschaftsaufschwung die Lage der Werktätigen langsam bessert und die rasche Herausbildung einer privilegierten Schicht fördert, e) die Bürokratie unter Ausnutzung der sozialen Gegensätze zu einer unkontrollierten und dem Sozialismus fremden Kaste wurde, f) die von der herrschenden Partei verratene soziale Umwälzung in den Eigentumsverhältnissen und dem Bewusstsein der Werktätigen noch fortlebt, g) die Weiterentwicklung der angehäuften Gegensätze sowohl zum Sozialismus hin als auch zum Kapitalismus zurückführen kann, h) auf dem Wege zum Kapitalismus eine Konterrevolution den Widerstand der Arbeiter brechen müsste, i) auf dem Wege zum Sozialismus die Arbeiter die Bürokratie stürzen müssten. Letzten Endes wird die Frage sowohl auf nationaler wie internationaler Ebene durch den Kampf der lebendigen sozialen Kräfte entschieden werden."[40]
66. Mit der als "Staatskapitalismus" bekannten Theorie ist ein Einwand gegen Trotzkis Analyse der Sowjetgesellschaft verbunden, der besagt, die Bürokratie stelle eine neue herrschende Klasse dar. Trotzki lehnte diese Theorie ab, die in all ihren Spielarten nicht in der Lage war, ihre Charakterisierung der Bürokratie als Klasse auf marxistischer Grundlage zu belegen. Für Marxisten zeichnet sich eine Klasse durch ihre unabhängigen Wurzeln in der Wirtschaftsstruktur der Gesellschaft aus. Die Existenz einer Klasse ist mit historisch einzigartigen Eigentums- und Produktionsverhältnissen verbunden, die sich wiederum in den Aktivitäten dieser gesellschaftlichen Schicht ausdrücken. Die Sowjetbürokratie stellte keine solche historische Kraft dar. Sie usurpierte die politische Macht, sie verwaltete den Staat und sie verzehrte einen beachtlichen Anteil des Wohlstands in der Sowjetunion. Aber die Eigentumsformen waren aus der Arbeiterrevolution hervorgegangen. Trotzki leugnete nicht, dass die umfassende Kontrolle über den Staat, die von der Bürokratie ausgeübt wurde, "ein neues, noch nicht dagewesenes Verhältnis zwischen der Bürokratie und den Reichtümern der Nation"[41] hervorgebracht hatte. Wenn es nicht rechtzeitig zu einer politischen Revolution käme, warnte er, könne dies "zur völligen Liquidierung der sozialen Errungenschaften der proletarischen Revolution führen"[42]. Tatsächlich geschah dies schließlich, etwa 55 Jahre nach der Veröffentlichung der Verratenen Revolution. Die Auflösung der Sowjetunion und ihre Folgen bestätigten jedoch unzweifelhaft Trotzkis Definition der Bürokratie als Kaste, nicht als Klasse. Die Zerstörung der Sowjetunion führte rasch zur Liquidierung des Staatseigentums und dessen Umwandlung in Privateigentum. Bürokraten auf hohen Posten überführten die staatlichen Industrie-, Finanz-, und Rohstoffressourcen, die sie zuvor verwaltet hatten, in ihr persönliches Vermögen. Es entstand ein Erbrecht, das es der neuen Bourgeoisie erlaubte, ihr Eigentum - das praktisch nur durch Diebstahl von Staatsvermögen zustande gekommen war - an ihre Nachkommen und Kinder weiterzugeben. Es entstand eine Börse. Die Arbeitskraft wurde zur Ware, die dem Wertgesetz unterliegt. Was von der staatlichen Planung übrig war, brach zusammen. Nicht ein einziges spezifisches gesellschaftliches Attribut, durch das die herrschende Bürokratie vielleicht zu Recht als eigenständige Klasse hätte definiert werden können, überlebte die UdSSR. Hätte vor der Auflösung der Sowjetunion wirklich "Staatskapitalismus" existiert, so wäre er, zusammen mit dem Arbeiterstaat, aber rasch verschwunden! Die "Theorie" des Staatskapitalismus trug zu einem besseren soziologischen Verständnis der Sowjetgesellschaft nichts bei und entwickelte keinerlei politische Strategie für den revolutionären Kampf gegen den Stalinismus.
67. Die stalinistische Bürokratie ermordete praktisch die gesamte Führung der Oktoberrevolution. In den Jahren von 1936 bis 1938 fanden Schauprozesse gegen langjährige bolschewistische Führer statt, unter anderem gegen Sinowjew, Kamenew, Bucharin und Radek. Diese grausamen Verfahren, in denen die Angeklagten gezwungen wurden, sich selbst zu belasten (mit dem falschen Versprechen, solche Geständnisse würden sie selbst und ihre Familien retten), endeten ausnahmslos mit der Verkündung des Todesurteils, das innerhalb weniger Stunden vollstreckt wurde. In den wenigen Fällen, in denen Gefängnisstrafen verhängt wurden - wie bei Rakowski und Radek - wurden die Angeklagten später im Geheimen ermordet. Die Prozesse waren das öffentliche Erscheinungsbild eines beispiellosen Massenmordes, der abseits der Öffentlichkeit stattfand. Hunderttausende Sozialisten, die besten Vertreter mehrerer politischer Generationen von marxistischen Intellektuellen und Arbeitern, wurden physisch vernichtet. Der faschistische Diktator Mussolini stellte mit Bewunderung fest, dass Stalins Regime weitaus mehr Kommunisten auf dem Gewissen hatte als sein eigenes! Beinahe eine Million Menschen verloren ihr Leben in der Welle konterrevolutionärer Gewalt von 1936 bis 1939. Diese Vernichtung - die im direktesten Sinne Trotzkis Charakterisierung Stalins als "Totengräber der Revolution" bestätigte - fügte dem revolutionären Bewusstsein der sowjetischen Arbeiterklasse schweren Schaden zu, von dem sich die Sowjetunion nie mehr erholte. Die Geschichte dieser unvergleichlichen Verbrechen widerlegt endgültig die Behauptung unzähliger bürgerlicher Propagandisten, der Stalinismus basiere auf dem theoretischen und politischen Erbe des Marxismus, oder gar, der Stalinismus und der Trotzkismus seien beides nur Spielarten des gleichen Marxismus. Die wahre Beziehung zwischen Stalinismus und Trotzkismus wurde wohl von Trotzki am besten charakterisiert: Er schrieb, was sie trenne, sei "ein Strom von Blut".
Die Gründung der Vierten Internationale
68. Im September 1938 fand der Gründungskongress der Vierten Internationale statt, ein Meilenstein für die sozialistische Bewegung und die internationale Arbeiterklasse. Das Gründungsdokument Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale (Das Übergangsprogramm) wurde von Trotzki verfasst und umriss die wichtigsten Aufgaben, vor denen die sozialistische Bewegung stand:
"Ohne eine sozialistische Revolution, und zwar in der nächsten geschichtlichen Periode, droht der gesamten menschlichen Kultur eine Katastrophe. Alles hängt nunmehr vom Proletariat ab, das heißt vor allem von seiner revolutionären Vorhut. Die geschichtliche Krise der Menschheit läuft auf die Krise der revolutionären Führung hinaus."[43]
69. Der einzige Ausweg aus dieser Krise der Führung bestand im Aufbau der Vierten Internationale in allen Ländern. Den Skeptikern und Zentristen, die den Aufbau einer neuen Internationale für verfrüht hielten und meinten, eine solche Organisation müsse aus "großen Ereignissen" hervorgehen, antwortete Trotzki:
"Die Vierte Internationale ist bereits aus großen Ereignissen hervorgegangen: den größten Niederlagen des Proletariats in der Geschichte. Verursacht wurden diese Niederlagen durch die Entartung und den Verrat der alten Führung. Der Klassenkampf duldet keine Unterbrechung. Die Dritte Internationale ist nach der Zweiten für die Revolution tot. Es lebe die Vierte Internationale"
Aber ist es schon an der Zeit, sie zu proklamieren? - die Skeptiker geben sich nicht zufrieden. Die Vierte Internationale, antworten wir, braucht nicht "proklamiert" zu werden. Sie besteht und kämpft. Ist sie schwach? Ja, ihre Reihen sind noch wenig zahlreich. Es sind bislang vorwiegend Kader. Aber diese Kader sind die einzigen Bürgen der Zukunft. Außer diesen Kadern gibt es auf unserem Planeten keine einzige revolutionäre Tendenz, die dieses Namens würdig wäre."[44]
70. Die weitere Geschichte des 20. Jahrhunderts zeigte, dass es korrekt war, von der Vierten Internationale als einzig wahrer revolutionärer Führung auszugehen. Die strategische Aufgabe dieser Periode bestand darin, die Kluft zwischen der Reife objektiver revolutionärer Bedingungen und der mangelnden Vorbereitung des Proletariats und seiner Avantgarde zu überbrücken. Hierzu formulierte die Vierte Internationale eine Reihe von ökonomischen und politischen Forderungen - wie die gleitende Lohnskala, die Verstaatlichung von Industrie, Banken und Landwirtschaft, die Bewaffnung des Proletariats, die Bildung einer Arbeiter- und Bauernregierung - um das revolutionäre Bewusstsein der Arbeiterklasse zu entwickeln und ihre alte Führung zu diskreditieren. Die Forderungen, schrieb Trotzki, stellen eine Brücke dar "die von den heutigen Bedingungen und dem heutigen Bewusstsein breiter Schichten von Arbeitern ausgehen und stets zu ein- und demselben Schluss führen: zur Machteroberung des Proletariats"[45]. Später versuchten die revisionistischen Tendenzen, das Übergangsprogramm in ein Rezept für opportunistische Anpassung zu verwandeln, indem sie einzelne Forderungen aus ihrem revolutionären Kontext rissen und damit eher verhinderten, die Arbeiterklasse für eine sozialistische Perspektive und ein damit verbundenes Programm zu gewinnen. So benutzen sie Bruchstücke des Übergangsprogramms, um sich an das rückständige Bewusstsein der Arbeiterklasse und die stalinistische Führung anzupassen, anstatt eben jenes zu bekämpfen.
71. In Diskussionen mit Führern der amerikanischen Trotzkisten im Mai 1938 bestand Trotzki darauf, dass das Programm der revolutionären Partei von der objektiven krisenhaften Entwicklung des Weltkapitalismus ausgehen müsse und nicht von subjektiven Stimmungen und dem existierenden Bewusstseinsstand in der Arbeiterklasse. "Das Programm", betonte er, "muss eher die objektiven Aufgaben der Arbeiterklasse als die Rückständigkeit der Arbeiter ausdrücken. Es muss die Gesellschaft so widerspiegeln, wie sie ist, und nicht die Rückständigkeit der Arbeiterklasse. Es ist ein Werkzeug, die Rückständigkeit zu überwinden und zu besiegen. Deshalb müssen wir in unserem Programm die sozialen Krisen der kapitalistischen Gesellschaft, einschließlich und gerade in den Vereinigten Staaten, in ihrer ganzen Schärfe ausdrücken. Wir können die objektiven Bedingungen, die nicht von uns abhängen, nicht aufschieben oder modifizieren. Wir können nicht garantieren, dass die Massen die Krise lösen werden, aber wir müssen die Lage so ausdrücken, wie sie ist, und das ist die Aufgabe des Programms."[46]
Wird fortgesetzt
Anmerkungen
30 Trotzki Schriften, Band 2.1, "Die chinesische Revolution und die Thesen des Genossen Stalin", Rasch und Röhring, Hamburg 1990, S. 178
31 Leo Trotzki, Die permanente Revolution, Arbeiterpresse Verlag, Essen 1993, S. 39
32 Ebenda, S. 185-86
33 James P. Cannon, The Left Opposition in the United States 1928-31, New York, Monad Press 1981, S. 32 (Aus d. Engl.)
34 Leo Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin, Arbeiterpresse Verlag, Essen 1993, S. 29
35 Writings of Leon Trotsky 1930, New York, Pathfinder Press 1975, S. 28 (Aus dem Englischen)
36 Leo Trotzki, Porträt des Nationalsozialismus, "Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen?", Arbeiterpresse Verlag, Essen 1999, S. 65-66
37 Ebenda, "Man muss von neuem kommunistische Parteien und eine Internationale aufbauen", S. 311-12
38 Ebenda, "Der Zentrismus und die Vierte Internationale", S. 330-31
39 Leo Trotzki, Wohin geht Frankreich, Essen 2009, S. 13-14
40 Leo Trotzki, Verratene Revolution: Was ist die Sowjetunion und wohin treibt sie?, Arbeiterpresse Verlag, Essen 1997, S. 278-279
41 Ebenda, S. 273
42 Ebenda, S. 274
43 Leo Trotzki, Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale. Das Übergangsprogramm, Arbeiterpresse Verlag, Essen 1997, S. 84
44 Ebenda, S. 131-32
45 Ebenda, S. 86
46 Ebenda, S. 139-40