Die Kritik an der Ablehnung des 700 Milliarden Dollar schweren Rettungspakets für die Wall-Street-Banken vom vergangenen Montag im Repräsentantenhaus hallt bis heute in aller Welt nach.
Der Rettungsplan wurde mit 228 Nein-Stimmen gegen 205 Befürwortungen abgelehnt. Die Opposition kam aus beiden großen Parteien: Dagegen waren vor allem jene Demokratischen und Republikanischen Abgeordneten, die bei der Wahl im November in ihren Wahlkreisen mit einem knappen Ergebnis rechnen müssen. Sie fürchten, ihre Gegner könnten sie als Komplizen der Wall Street hinstellen, und sie könnten als Spekulantenfreunde geteert und gefedert werden, wenn sie den Bankenchefs Hunderte Milliarden Steuergelder in den Rachen werfen, die für die Krise verantwortlich sind.
Auf diese Weise hat die überwältigende Feindschaft breitester Bevölkerungsschichten gegen das massive Verschieben öffentlicher Gelder in die Taschen der Superreichen ihren Niederschlag in Scheitern der Vorlage gefunden, wenn auch nur in sehr verzerrter Form und nicht für lange.
Welche Lehre ziehen große Teile des politischen Establishments daraus? In Medienkommentaren wird folgendes Resümee gezogen: Die amerikanische Regierung ist gegenüber dem Willen der Bevölkerung zu nachgiebig und kommt den Forderungen des Finanzkapitals nicht mit der notwendigen Entschiedenheit nach.
Das ist der Tenor mehrerer Kommentare, die von einflussreichen Redakteuren mit engen Beziehungen zu herrschenden Kreisen stammen.
Typisch für diese ideologische Richtung ist eine Kolumne von Michael Gerson in der Washington Post vom Mittwoch. Gerson war der wichtigste Redenschreiber und ein hoher Berater von George W. Bush und ist heute führendes Mitglied eines außenpolitischen Think-Tanks. Unter dem Titel "Zu wenig für eine große Krise" zeichnet der Artikel das Portrait eines handlungsunfähigen Kongresses.
Zum Auftakt charakterisiert Gerson die Abstimmung mit einer völlig verfehlten Metapher. Er schreibt: "Die Bastille der Meinung des Establishment ist gestürmt und erobert worden, zumindest für den Moment. Aber die Revolution ist in ihrem Innersten verantwortungslos."
Er erinnert daran, dass die Abstimmung im Gegensatz zur vollkommen einmütigen Unterstützung der herrschenden Elite für das Rettungsprogramm stand. "Selten hat die amerikanische Regierungselite derart einmütig auf eine nationale Herausforderung reagiert", schreibt er. Regierung, beide großen Parteien und die Präsidentschaftskandidaten der Demokraten und der Republikaner hätten die Vorlage gemeinsam unterstützt.
Er verteilt einen Teil der Schuld gleichmäßig auf "parteiliche" Demokraten und Republikanern, die in den Fallstricken "ideologischer Reinheit" gefangen seien, kommt dann aber zum Kern seiner Sorgen.
"Auch wenn schließlich doch noch ein Kompromiss verabschiedet werden sollte", erklärt Gerson, "ist jetzt schon klar, dass die amerikanische politische Elite die Fähigkeit verloren hat, schnell auf eine nationale Herausforderung zu reagieren und ihren kollektiven Willen durchzusetzen. Was einmal wie Tagespolitik aussah, sieht jetzt eher wie die Krise der Konföderationsartikel aus - eine schwache Regierung, bestehend aus kleinen Männern. Und das muss der Welt, die auf die Stabilität Amerikas angewiesen ist, bedrohlicher erscheinen, als das Scheitern gleich welcher Bank."
Gersons zweite historische Analogie, die er dem Zeitalter der großen bürgerlichen Revolutionen entnimmt, ist genauso schief wie die erste. Erst die Krise der Konföderationsartikel führte zur amerikanischen Verfassung und dann zur Schaffung des Kongresses. Weder die erstere, noch der letztere wurden geschaffen, damit die "politischen Eliten" ihren "kollektiven Willen" schnell durchsetzen konnten.
Artikel Eins der Verfassung schuf den Kongress als ersten Zweig des amerikanischen Regierungssystems, der am unmittelbarsten dem Willen der Bevölkerung Ausdruck geben sollte. Das traf insbesondere auf das Repräsentantenhaus zu, dessen Mitglieder sich alle zwei Jahre einer Wahl stellen müssen. Die Väter der Verfassung verstanden die Körperschaft als eine Bastion gegen die Tyrannei und statteten sie mit der Vollmacht aus, Präsidenten des Amtes zu entheben, und mit dem exklusiven Recht, Steuergesetze auf den Weg zu bringen. Damit wurde dem Repräsentantenhaus entscheidende Macht über den Bundeshaushalt übertragen.
Diese Prinzipien und Vollmachten sind natürlich im Verlauf vieler Jahrzehnte immer weiter unterhöhlt worden. Immer mehr Macht wurde in der Hand der imperialen Präsidentschaft konzentriert. In den letzten acht Jahren hat sich dieser Prozess dramatisch beschleunigt. Der Kongress hat einen Präsidenten akzeptiert, der durch Wahlfälschung und das Diktat der Republikanischen Mehrheit am Obersten Gerichtshof ins Amt gekommen ist, und hat dann einen Freibrief für einen kriminellen Krieg ausgestellt und weitgehende Angriffe auf grundlegende demokratische Rechte durchgehen lassen. Die Inhaber der Abgeordnetenstühle im Repräsentantenhaus sind tatsächlich "kleine" Männer und Frauen, die um ihre politische Karriere besorgt sind und den Interessen der Wirtschaft dienen.
Weil diese armseligen Politiker, wenn auch nur in eng begrenzter Weise, von der Stimmung der Bevölkerung beeinflusst sind, die sich gegen die Interessen der herrschenden Wirtschafts- und Finanzelite in Amerika richtet, erscheint das gegenwärtige politische System diesen Kräften nicht mehr akzeptabel.
"Das ist gefährlich", schreibt der außenpolitische Chefkolumnist der Washington Post am Mittwoch in einer Kolumne. "Abgeordnete, von denen viele vermutlich nicht einmal mit ihrem eigenen Konto klar kommen, lehnen ein komplexes Rettungspaket ab, weil einige Wähler, die vermutlich auch nichts verstehen, sie mit Anrufen eindecken. Ich verstehe die breite Wut über die Wall Street, aber so kann man mit dieser Krise nicht umgehen."
Kurz gesagt, man kann nicht zulassen, dass die Opposition der Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung dem "komplexen Rettungspaket" in die Quere kommt. Schließlich ist es von "Experten", wie Finanzminister Henry Paulson, dem Ex-Vorstandschef von Goldman Sachs, entwickelt worden, um seinen Kollegen an der Wall Street einen Rettungsanker zuzuwerfen und die dicken Aktienpakete von Leuten wie Friedman zu retten.
George Will, der aufgeblasene rechte Kolumnist der Washington Post, hatte einen Ratschlag: "Der Kongress sollte sich von der Öffentlichkeit abnabeln, der man nicht vorwerfen kann, dass sie angesichts dieses undurchsichtigen Debakels mehr Zorn als Durchblick hat." So viel zur "Volksvertretung".
Auf der anderen Seite des Atlantik, wo in Finanzkreisen helle Empörung über das Scheitern des Rettungsplans herrschte, fiel die Reaktion der Medien noch drastischer aus. Die Londoner Times brachte an prominenter Stelle eine Kolumne mit dem Titel "Kongress macht beste Werbung für Diktatur".
"Die schmeichelhafteste Interpretation des Chaos im Kongress in dieser Woche ist, dass es Demokratie in Aktion war", schrieb Camilla Cavendish am Mittwoch. "Persönlich habe ich mich noch nie stärker zu einer gnädigen Diktatur hingezogen gefühlt."
Diese provokative Formulierung zieht die logische Schlussfolgerung aus den weit verbreiteten demokratiefeindlichen Stimmungen und drückt die objektiven Folgen der Wirtschafts- und Gesellschaftskrise aus, die am amerikanischen und Weltkapitalismus nagen.
Die Krise wird ausgenutzt, um eine immer gigantischere Konzentration von wirtschaftlicher Macht zu erreichen, die mit politischer Demokratie nicht vereinbar ist. Drei Riesenbanken, Citigroup, Bank of America und JPMorgan Chase, verleiben sich ihre bankrotten Konkurrenten ein und halten inzwischen ein volles Drittel der amerikanischen Bankeinlagen.
Gleichzeitig verschärft die Krise die soziale Ungleichheit, die jeden Aspekt des Lebens in Amerika durchdringt. In diesem Land besitzt ein Prozent der Bevölkerung mehr Reichtum als die unteren 90 Prozent. Entlassungen und Zwangsversteigerungen nehmen zu, und die Reallöhne der Arbeiter sinken deutlich. In dieser Lage versucht die herrschende Elite den größten Transfer von Reichtum in die Taschen der Finanzoligarchie durchzusetzen, den es jemals gegeben hat.
Diese scharfen sozialen Gegensätze können mit den bestehenden politischen Mechanismen in Amerika nicht unter Kontrolle gehalten werden. Die Empörung über die Abstimmung im Repräsentantenhaus ist eine Warnung, dass der krisengeschüttelte Kapitalismus unvermeidlich neue Herrschaftsformen zu schaffen versucht, mit denen er die ökonomische Diktatur des Finanzkapitals mittels einer offenen politischen Diktatur über die Arbeiterklasse verteidigen kann.
Diese Bedrohung kann nicht mit den Mitteln des bestehenden Zwei-Parteien-Systems abgewehrt werden. Sie verlangt einen gründlichen Bruch mit der Demokratischen Partei und den Aufbau einer neuen, unabhängigen politischen Bewegung der Arbeiterklasse, sowie die sozialistische Umorganisation der Gesellschaft. Für diese Alternative setzen sich die Socialist Equality Party und ihre Präsidentschafts- und Vizepräsidentschaftskandidaten, Jerry White und ich selbst, bei der Wahl im November ein.