Tiefes Unbehagen zu Israels 60. Geburtstag

Heute feiert Israel nach dem hebräischen Kalender den 60. Jahrestag seiner Gründung. Führende Politiker werden sich aus diesem Anlass vom 14. bis zum 16. Mai, dem tatsächlichen Datum der Gründung, zu einer großen internationalen Konferenz in Jerusalem treffen. An ihr werden der amerikanische Präsident George W. Bush, der ehemalige Präsident der Sowjetunion Michael Gorbatschow, Ex-US-Außenminister Henry Kissinger, zwölf Staatschefs, Medien- und Wirtschaftsmagnat Rupert Murdoch und Google-Mitbegründer Sergei Brin teilnehmen.

Die offiziellen Feierlichkeiten - Luftwaffenformationsflüge, eine Marineparade vor der Mittelmeerküste und Massenfallschirmabsprünge - sind Ausdruck des militaristischen Charakters Israels, das im Interesse des US-Imperialismus die Kontrolle über die ganze Region ausübt.

Trotz der Feierlichkeiten konnten die Kommentatoren in- und außerhalb Israels das tief empfundene Gefühl des Unbehagens und der Desillusionierung, das in Israel vorherrscht, nicht ausblenden. Viele Israelis hatten sich gegen allzu überschwängliche Feierlichkeiten ausgesprochen: Eine Online-Petition, die eine Verringerung der Ausgaben forderte, erhielt bis Ende März 90.000 Unterschriften, statt der angestrebten 10.000. Die Regierung sah sich daraufhin gezwungen, 35 Prozent des Budgets von 28 Millionen Dollar Ausbildungs-, Infrastruktur- und Erinnerungsprojekten zukommen zu lassen. Für das 50. Jubiläum hatte man vor zehn Jahren noch 70 Millionen Dollar aufgewendet.

Auch konnten die Kommentatoren nicht darüber hinwegsehen, dass die Reaktion der Palästinenser in den Besetzten Gebieten, den Flüchtlingslagern im Libanon, in Syrien und in Jordanien auf dieses Datum doch ziemlich anders ausfiel.

Für sie ist die Gründung Israels, die sie die Naqba oder Katastrophe nennen, ein Synonym für gewaltsame Vertreibung und Flucht von 700.000 Palästinensern aus ihrer Heimat und für den Beginn eines Lebens im Exil und in Armut. Ihr Eigentum wurde beschlagnahmt und sie durften nicht zurückkehren. Heute beläuft sich die Zahl der ursprünglichen Flüchtlinge, ihrer Nachkommen und der späteren Flüchtlinge seit 1967 auf etwa 4,5 Millionen.

Aus Anlass von Israels Jahrestag werden die Palästinenser in der Westbank und im Gazastreifen drei Tage lang systematisch eingesperrt. Beschäftigte im öffentlichen Dienst und Studenten werden um 11 Uhr die Arbeit niederlegen und an Kundgebungen auf der Westbank und in Gaza teilnehmen. Um zwölf Uhr Mittags werden die Sirenen zwei Minuten lang heulen.

Zahlreiche Kommentatoren wiesen auf den Kontrast zu den Feierlichkeiten Israels zum 50. Jahrestag hin, als viele Israelis sich noch Illusionen über das Osloer Abkommen von 1993 machten. Sie hofften, es würde einen beschränkten Palästinenserstaat und Frieden mit den Palästinensern und ihren arabischen Nachbarn in Aussicht stellen. Der Economist bemerkte, die Zukunft Israels sei "so unsicher wie je in seiner 60-jährigen Geschichte". Der israelische Historiker und Mitarbeiter am Think Tank Schalem Center, Michael Oren, fragte pointiert: "Wie viele Länder auf der Welt stellen sich die Frage, ob sie wohl in 20, 30 der 50 Jahren noch existieren werden? Israels Überleben ist keineswegs selbstverständlich."

Mehrere Faktoren liegen diesem tiefen Pessimismus zugrunde.

Der gescheiterte Krieg im Libanon

Das unklare militärische Ergebnis des Kriegs von 2006 im Libanon war ein Debakel für Israel und setzte seine herrschende Elite unter Schock. Der Krieg sollte nicht nur die Hisbollah als militärische und politische Macht ausschalten. Er sollte auch unter dem Deckmantel des "Kriegs gegen den Terror" Washingtons strategisches Ziel in Zentralasien und dem Nahen Osten fördern, die Ölvorkommen in der Region zu kontrollieren.

Trotz Verlusten konnte die Hisbollah ihr Ansehen in der Region stärken, weil sie der von Washington unterstützten Bombardierung durch Israel Widerstand leistete. Diese Bombenangriffe töteten mehr als tausend Menschen und verletzten noch viel mehr, und sie zerstörten große Teile der libanesischen Infrastruktur. Die libanesische Regierung wurde dagegen zutreffend als Quisling-Regime Washingtons betrachtet.

Das Debakel zeigte, dass Israel überhaupt nicht auf einen Krieg gegen eine mit konventionellen Waffen ausgerüstete Guerillatruppe vorbereitet war. Es legte nicht nur die Schwäche und Verwundbarkeit des israelischen Militärs, seiner Geheimdienste und Zivilverteidigung offen, sondern auch die geringe Unterstützung, die der Militarismus der politischen Führung in der Bevölkerung genießt.

Die israelische Armee hatte sich daran gewöhnt, einen Kleinkrieg gegen die Palästinenser zu führen, war aber auf länger anhaltende Bodenoperationen gegen einen handfesteren militärischen Gegner nicht vorbereitet. Außerdem bestand die Armee großenteils aus jungen Wehrpflichtigen und älteren Reservisten, die mit dem Krieg nicht einverstanden waren und in ihm nicht kämpfen wollten.

Als die israelische Zivilverteidigung in den Städten des Nordens unter den Raketenbeschuss der Hisbollah geriet, befand sie sich in desolatem Zustand. Sie hatte kaum noch Schutzräume und Vorräte, da Privatisierungen, Deregulierungen und Finanzkürzungen, ganz zu schweigen von Bestechung und Korruption, ihre Wirkung zeigten. Während die besser gestellten Bürger flohen und bei Verwandten und Freunden im Süden Schutz suchten, blieben die Armen und Alten kaum geschützt und mit knappen Vorräten zurück. Die kalte Gleichgültigkeit der Regierung dem Los ihrer Bürger gegenüber war einer der Hauptgründe für den Druck, der schließlich dazu führte, dass die Winograd-Kommission eingesetzt wurde. Diese Kommission erhob schwere Vorwürfe gegen die Art und Weise der Kriegsführung der Kadima-Labour-Koalitionsregierung von Ehud Olmert.

Beziehungen zu den Palästinensern

Das Verhältnis zu den Palästinensern, angeblich eine "Erfolgsgeschichte" für Israel, hat bei vielen Israelis zur politischen Entfremdung beigetragen.

Hinter der Fassade des "Friedensprozesses" und unter Mitwirkung von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas hat Israel seinen Landraub auf der Westbank weiter gefestigt. Die Regierung hat Jerusalem mit Siedlungen eingekreist, so dass es den Palästinensern nicht mehr möglich ist, in Jerusalem zu leben, es zu betreten oder zu verlassen. Von der Möglichkeit, die Stadt zur Hauptstadt eines potentiellen künftigen Palästinenserstaates zu machen, ist gar nicht mehr zu reden.

Die israelische Regierung hat die Westbank zu einem Flickenteppich voneinander getrennter Enklaven gemacht. Die Palästinenser sind auf sechzig Prozent des Gebietes der Westbank beschränkt, während vierzig Prozent wegen der so genannten Sicherheitsmauer, militärischer Einrichtungen und der Straßen, die die israelischen Siedlungen miteinander verbinden, für sie gar nicht zugänglich sind. Dazu kommen 550 Straßensperren, die das Reisen nahezu unmöglich machen und die Wirtschaft ruinieren.

Gleichzeitig führt Israel Krieg gegen den Gazastreifen, ermordet seine Gegner, tötet Hunderte Palästinenser und verhängt illegale und grausame kollektive Strafen gegen die ganze Bevölkerung. Es hat über Gaza den Belagerungszustand verhängt und versucht die Palästinenser durch Aushungern zur Unterwerfung zu zwingen. Die Verringerung der Treibstofflieferungen um 70 Prozent führt zu Stromsperren und bewirkt, dass das Trinkwasser nur sporadisch läuft und die Strände Gazas mit täglich 30 Millionen Liter Gülle verseucht werden. Vor zwei Wochen musste das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge die Verteilung von Lebensmittelhilfen mehrere Tage lang einstellen, weil seine Fahrzeuge kein Benzin mehr hatten. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung Gazas sind von humanitärer Hilfe abhängig. Die UN-Lebensmittelhilfe versorgt 1,1 Millionen Menschen.

Israels unmenschliche und illegitime Behandlung der Palästinenser hat einmal mehr die Unterstützung für Hamas und den politischen Islam gestärkt. Bei der Mehrheit der Israelis, die eine friedliche Lösung mit den Palästinensern wünschen, ruft sie Abscheu hervor.

Soziale Spaltungen

Der letzte und vielleicht wichtigste Faktor für das Unbehagen der Öffentlichkeit an diesem Jahrestag ist das phänomenale Anwachsen sozialer Unterschiede in Israel als Ergebnis der marktwirtschaftlichen Politik aller Regierungen der letzten Jahre. Privatisierungen, Renten- und Sozialreformen, Haushaltskürzungen, Steuersenkungen und Deregulierung haben den einstigen Traum von Gleichheit und Kollektivismus, der einmal die Staatsraison der nationalen Heimat der Juden war, in einen Albtraum verwandelt.

Israels Wirtschaft ist vollkommen von Finanzhilfen der USA und von vorteilhaften Handelsbedingungen abhängig. Seine High-Tech-Industrien - Biotechnologie, Nanotechnologie, hochwertige Werkstoffe, alternative Energie und Waffen - sind auf die USA und Europa ausgerichtet. Das Wirtschaftswachstum von mehr als drei Prozent im Jahr in den letzten vier Jahren kommt aber im Wesentlichen nur wenigen Reichen zugute. Der Gini-Koeffizient, der die Einkommensungleichheit misst, ist kontinuierlich angestiegen. Er weist Israel als eines der ungleichsten Länder der hoch entwickelten Welt aus.

Ein Bericht des Nationalen Versicherungsinstituts vom vergangenen Februar zeigte, dass 20 Prozent der Familien unter der Armutsgrenze leben. Maßnahmen, mit denen die Leute aus der Sozialhilfe zur Arbeitsaufnahme getrieben wurden, haben zur Entstehung eines Pools billiger Arbeitskräfte geführt, so dass in den letzten fünf Jahren der Anteil der arbeitenden Armen um ein Drittel angestiegen ist. Die Kinderarmut hat zugenommen und letztes Jahr 36 Prozent erreicht. Das ist zum Teil das Ergebnis von Änderungen im Sozialhilfesystem.

Der finanzielle Druck lastet auch auf den Schichten mit mittlerem Einkommen. Wohneigentum wird immer unerschwinglicher. 2006 wurden 50 Prozent weniger neue Hypotheken aufgenommen als 2003. Bürgerberatungsstunden sind angeblich von Leuten aus der Mittelschicht überlaufen, die juristische und finanzielle Beratung suchen. Yuval Elbashan, Vizemanager des Bürgergruppennetzwerks Yedid, sagte: "Die Armen haben keine Budgets, die sie verwalten müssen."

Weil Israel so stark von amerikanischen Subventionen abhängig ist, wird sich diese Lage dramatisch verschlechtern, wenn sich die Wirtschaftskrise im amerikanischen Haushalt niederschlagen wird.

Neben der wachsenden sozialen Spaltung ist Israel auch ethnisch, religiös und ideologisch gespalten. 20 Prozent der israelischen Bevölkerung sind Araber, die als Bürger zweiter Klasse behandelt werden. Deren geflohene Verwandte können nicht zurückkehren, während im Ausland lebende Juden automatisch das Bürgerrecht besitzen. Es ist für arabische Israelis fast unmöglich, in Industriezweigen, die als "strategisch wichtig" angesehen werden, wie z. B: Strom- und Wasserversorgung, Arbeit zu finden. Auch ist es schwer für sie, vom Jewish National Fund Land zu pachten, obwohl der Oberste Gerichtshof in dieser Frage zu ihren Gunsten entschieden hat. Ihre Städte und Dörfer erhalten weniger finanzielle Unterstützung aus dem Staatshaushalt.

Israelische Kommentatoren warnen ständig in düsteren Worten vor einer demographischen Zeitbombe. Die höhere Geburtenrate der israelischen Palästinenser und der Palästinenser auf der Westbank und im Gazastreifen führt dazu, dass es in zwanzig Jahren in Israel und den Besetzten Gebieten mehr Palästinenser als Israelis geben wird. Das ist langfristig eine Bedrohung für den jüdischen Charakter des Staates, was für den Zionismus von zentraler Bedeutung ist.

Es gibt auch ständige Konflikte zwischen religiösen und säkularen Juden. Die religiösen Behörden kontrollieren viele Aspekte des Zivilrechts wie das Bürgerschaftsrecht, Ehe- und Scheidungsrecht. Rechtsradikale orthodoxe und Siedlerparteien spielen in allen Koalitionsregierungen eine überproportionale Rolle. Sie versuchen das jüdische Religionsrecht auf immer breitere Gebiete des gesellschaftlichen Lebens auszuweiten.

Die Juden aus dem Nahen Osten und Nordafrika werden im Vergleich zu denen aus Europa und Amerika ebenfalls wie Bürger zweiter Klasse behandelt. Unter einer Million Einwanderern aus Russland befinden sich mehr als 300.000 Nicht-Juden. Aus diesen Schichten hat sich aufgrund der wachsenden sozialen Polarisierung und politischen Desorientierung eine eigene israelische Neonazi-Szene entwickelt. In den vergangenen beiden Jahren hat es 500 Zwischenfälle gegeben, bei denen Personen angegriffen und misshandelt wurden. Es soll mehrere hundert hauptsächlich junge Neonazis in Israel geben. Vor ein paar Wochen wurden vier junge russische Einwanderer zu 18 Monaten bis vier Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie ultraorthodoxe Juden und Obdachlose verprügelt und rassistisch beleidigt hatten und dies auf Film aufnahmen. Vier weitere Mitglieder der gleichen Bande sind ähnlicher Verbrechen angeklagt.

Diese soziale und politische Entwicklung hat die zentrale Säule des Zionismus untergraben: seine Forderung nach nationaler Einheit gegen die äußeren "Feinde" des jüdischen Volkes. Sie bedroht die politische und gesellschaftliche Stabilität des Landes.

Einige der wichtigsten Institutionen Israels geraten unter Druck. Die Rolle Israels als Erfüllungsgehilfe des US-Imperialismus verlangt immer höhere Militärausgaben und bedeutet einen ständigen Konflikt mit seinen Nachbarn, vor allem dem Iran und den Palästinensern. Gleichzeitig zögern immer mehr Menschen, in der Armee zu dienen. Ein Viertel der zum Wehrdienst einberufenen jungen Männer und Frauen verweigern aus religiösen oder gesundheitlichen Gründen den Dienst.

Auch die politische, soziale und gewerkschaftliche Unruhe nimmt in Israel zu. Die Regierung vertritt die Interessen der korrupten Finanzelite. Sie wird in breiten Bevölkerungsschichten verachtet. Umfragen zeigen eine nur zehnprozentige Zustimmung für Ministerpräsident Olmert. Gegen Olmert selbst laufen drei Korruptionsuntersuchungen, und es könnte sein, dass er unmittelbar nach den Feierlichkeiten angeklagt wird. Neuwahlen wären dann unvermeidlich.

Das alles hat wenig mit der sicheren ökonomischen Zukunft zu tun, die der zionistische Traum dem jüdischen Volk vor 60 Jahren doch zu versprechen schien. Das ist der tiefere Grund der wachsenden Desillusionierung in Israel.

Es gibt natürlich Faktoren, die zur Identifikation israelischer Arbeiter mit dem zionistischen Staat beigetragen haben. Das ist vor allem der Holocaust, später die Umzingelung Israels von feindlichen despotischen Regimes. Trotzdem hat die Arbeiterklasse bei aller Verwirrung die Unterdrückung der Palästinenser immer abgelehnt und die Hoffnung auf Frieden mit den arabischen Nachbarn nicht aufgegeben. Wenn die Klassenunterschiede in Israel in der nächsten Zeit klarer hervortreten, dann werden diese Stimmungen noch stärker zu hören sein.

Diese Ziele und ein anständiger Lebensstandard für alle israelischen Bürger können nur erreicht werden, wenn die arabische und die jüdische Arbeiterklasse vereint und die ethnischen, religiösen und nationalen Spaltungen, die die Bourgeoisie pflegt, überwunden werden. Das erfordert einen gemeinsamen Kampf gegen die herrschenden Eliten in Israel und den arabischen Ländern und für den Aufbau der Vereinigten Sozialistischen Staaten des Nahen Ostens. Das Internationale Komitee der Vierten Internationale und die World Socialist Web Site kämpfen für den Aufbau der Führung, die diese historische Aufgabe vollendet.

Siehe auch:
Cheneys Besuch im Nahen Osten verschärft Spannungen mit Iran
(28. März 2008)
US-Verschwörung zum Sturz der gewählten palästinensischen Regierung aufgedeckt
(14. März 2008)
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