Die Hinhaltetaktik, mit der die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi die Belegschaft der Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) von einem Vollstreik abzuhalten versucht, nimmt immer groteskere Züge an.
Acht Wochen sind mittlerweile vergangen, seit die Verdi-Mitglieder unter den BVG-Beschäftigten Ende Februar mit knapp 97 Prozent für Streik stimmten. Seitdem haben die zuständigen Funktionäre von Verdi alles getan, um einen ernsthaften und konsequenten Arbeitskampf zu verhindern und die Streikbereitschaft der Belegschaft zu untergraben.
Der anfängliche Vollstreik wurde Mitte März nach zwölf Tagen genau in dem Moment abgebrochen, als er anfing Wirkung zu zeigen. Gleichzeitig gab Verdi ohne jegliche Gegenleistung von Seiten des Senats die ursprüngliche Forderung auf. Angesichts der Empörung unter den Beschäftigten über dieses Zugeständnis wurden die Arbeiter der BVG-Reparaturwerkstätten aufgefordert weiter zu streiken, während die Bus- und Bahnfahrer die Arbeit wieder aufnahmen. Das hatte eine Spaltung der Belegschaft zufolge. Die Fahrer konnten nicht richtig arbeiten und die Beschäftigten der Werkstätten konnten nicht wirkungsvoll streiken.
Die systematische Drosselung des Streiks durch Verdi hat zur Folge, dass der Kommunale Arbeitgeberverband (KAV) und Finanzsenator Sarrazin (SPD) mit immer neuen Provokationen gegen die BVG-Beschäftigten auftreten. In der vergangenen Woche reagierte der BVG-Vorstand auf die beschränkte Streiktaktik in den Werkstätten mit "kalter Aussperrung". Bus-, Straßenbahn- und U-Bahnfahrer, die ihren Dienst nicht antreten können, weil ihre Fahrzeuge nicht gewartet und daher nicht einsetzbar sind, erhalten jetzt keinen Lohn mehr.
Die Berliner Zeitung bezeichnete am 14. April die Streiktaktik von Verdi als "Deeskalationsstrategie". Die Gewerkschaftsspitze sei im Tarifstreit bei der BVG "sichtlich um Deeskalation" bemüht und tue alles, um die Atmosphäre nicht zu belasten, schreibt das Blatt und berichtet über die enge Verbindung zwischen Gewerkschaftsleitung und Senat.
Zur selben Zeit wurde ein Brief der Verdi-Landesbezirksleiterin Susanne Stumpenhusen an die Fraktionsvorsitzenden von SPD und Linkspartei bekannt, in dem Stumpenhusen die Position von Verdi noch einmal darlegt und den Senat um ein Gespräch bittet. Bestimmt war dieser Brief vor allem für die Medien und die Öffentlichkeit.
Der wiederholte Vorwurf von Verdi, der Senat sei nicht gesprächsbereit, ist reine Augenwischerei. In Wirklichkeit stehen Gewerkschaft und Landesregierung in täglichem Kontakt. Beide arbeiten eng zusammen, um den Widerstand und die Streikbereitschaft der BVG-Beschäftigten zu brechen. Die Mehrzahl der Verdi-Funktionäre sind Mitglieder der SPD und der Linkspartei. Sie sind nicht nur aufs engste mit den Senatsparteien verbunden, sondern stimmen auch mit den wesentlichen Eckpunkten der Senatspolitik überein. Deshalb weigert sich Verdi seit Wochen, einen Streik zu organisieren, der den Namen verdient.
Ein Blick auf die zurückliegenden Ereignisse macht deutlich, dass die berechtigten Forderungen der BVG-Beschäftigten nur dann durchgesetzt werden können, wenn die Streikenden die Kontrolle und den Alleinvertretungsanspruch von Verdi durchbrechen und einen politischen Kampf gegen die rot-rote Koalition im Senat aufnehmen.
· Unter dem Druck der Belegschaft forderte Verdi Ende am 13. Dezember vergangenen Jahres Lohn- und Gehaltserhöhungen von 12 Prozent, mindestens jedoch 250 Euro brutto im Monat.
· Am 22. Januar kündigt Verdi Warnstreiks und eine Urabstimmung an, nachdem die BVG und Finanzsenator Sarrazin sich geweigert hatten, überhaupt ein Angebot vorzulegen. Als daraufhin der Kommunale Arbeitgeberverband einen Gehaltsvorschlag machte, der einer Provokation gleichkam, sah sich Verdi am 1. Februar gezwungen, einen 39-stündigen Warnstreik zu organisieren, um die Situation im Betrieb unter Kontrolle zu halten. Trotz Lohnausfall war die Beteiligung an diesem Warnstreik so groß, dass sämtliche U- und Straßenbahnen in den Depots blieben und nur sehr wenige Busse verkehrten.
· Am 13. Februar legten 5.000 Beschäftigte der BVG-Haupt- und Betriebswerkstätten vorübergehend die Arbeit nieder. Fünf Tage später sah sich Verdi gezwungen, die Verhandlungen für gescheitert zu erklären und die Urabstimmung durchzuführen.
· Am 29. Februar wurde das Ergebnis der Urabstimmung bekannt gegeben. 96,9 Prozent der Verdi-Mitglieder hatten sich für einen unbefristeten Streik ausgesprochen. Der Senat, wie auch der Arbeitgeberverband reagierten mit Härte. Sie setzten darauf, dass Verdi die Situation unter Kontrolle hält, den Arbeitskampf beschränkt und eine Konfrontation mit dem Senat verhindert.
Gleichzeitig verschärfte der Senat seine Attacken auf die Arbeiter. Sarrazin beschimpfte die BVG-Altbeschäftigten, sie verdienten schon jetzt mehr, als sie am Markt wert seien. Fraktionsvertreter der Linkspartei wollten ihrem Gesinnungsgenossen Sarrazin in nichts nachstehen und warfen den Streikenden vor, sie "führten ihren Arbeitskampf noch immer mit der West-Berliner Mentalität der Überversorgten und hätten offenbar nicht verstanden, wie privilegiert sie seien".
· Am 5. März begann endlich der von den BVG-Beschäftigten lange erwartete Vollstreik. Sämtliche U- und Straßenbahnen sowie Busse standen tagelang still. Mit dem Streik verschärfte Verdis allerdings auch die Zermürbungstaktik. Während viele unteren Funktionäre, die meisten davon Linkspartei-Mitglieder - radikale Reden schwangen und Durchhalteparolen verbreiteten, wurden die Streikenden systematisch isoliert.
Obwohl die Beschäftigten im Einzelhandel bereits seit Monaten in Tarifauseinandersetzungen waren, im öffentlichen Dienst Warnstreiks stattfanden, die Berliner Lehrer und die Beschäftigten in den Kindertagesstätten Proteste organisierten, unternahm Verdi nichts, um eine breite Bewegung gegen den Senat zu organisieren. Im Gegenteil: Während dem ganzen BVG-Streik organisierte Verdi nicht eine einzige Demonstration oder Kundgebung vor dem Roten Rathaus.
Schon zu Beginn des Streiks war die Lokführergewerkschaft GDL den BVG-Beschäftigten in den Rücken gefallen und hatte in letzter Minute einen angekündigten Vollstreik im Fern- Nah- und Güterverkehr abgesagt. Die GDL-Führung knickte vor Bahnchef Mehdorn und der Bundesregierung ein und beendete ihren seit fast einem Jahr andauernden Arbeitskampf, als die Berliner Verkehrsarbeiter ihren Streik begannen. Das hatte zur Folge, dass die Berliner S-Bahn, die zur Bahn AG gehört, nicht in den Streik einbezogen wurde und der BVG-Streik nur begrenzt Wirkung zeigte.
Dazu kommt noch, dass sich die finanziellen Verluste für die BVG in Grenzen hielten, weil viele regelmäßige Nutzer des Nahverkehrs über vorausbezahlte Zeitkarten verfügen und der streikbedingte Ausfall in den meisten Fällen nicht erstattet wurde. In Absprache mit Verdi schloss die BVG die U-Bahn-Schächte, so dass Verdi keine Streikposten an den U-Bahnhöfen aufstellte, der Kontakt der Streikenden mit der Bevölkerung gering blieb und der Streik beinahe wie eine Aussperrung aussah. Die einzigen, die wirklich große finanzielle Einbußen hinnehmen mussten, waren die Streikenden und die Kioskbetreiber in den U-Bahn-Zugängen.
· Nach zwölf Streiktagen setzte Verdi den Abbruch des Ausstandes durch, ohne dass es von Seiten der Arbeitgeber und des Senats auch nur das geringste Zugeständnis gegeben hätte. Seit dem lässt Verdi nur noch ab und zu Mitarbeiter der Werkstätten, der Technik und der Verwaltung streiken. Diese "flexible Streiktaktik", wie sie vom Verhandlungsführer der Gewerkschaft, Frank Bäsler, bezeichnet wird, spaltet die Streikfront und zermürbt die Belegschaft.
Gleichzeitig gab Verdi einen Großteil der bisherigen Forderungen preis. Bis dato hatte sie ihre Forderung mit der "Formel" umschrieben: "12-250-12". Das bedeutete 12 Prozent mehr für alle Beschäftigte der BVG und der BT, mindestens aber eine Erhöhung von 250 Euro Brutto pro Monat für alle, bei einer Laufzeit von 12 Monaten. Gleichzeitig hatte die Gewerkschaft auf einem "verhandlungsfähigen Angebot" als Voraussetzung für eine Aussetzung der Arbeitsniederlegungen bestanden.
· Am 4. April einigten sich die Kommunalen Arbeitgeber und Verdi auf ein Lohnerhöhungsmodell, dem drei Tage später auch die Große Tarifkommission der Gewerkschaft zustimmte.
Das Modell sieht rückwirkend für den Beginn 2008 eine Einmalzahlung von 250 Euro (insgesamt 3,1 Millionen Euro) und danach prozentuale Lohnanhebungen (22,7 Millionen Euro) vor. Dabei sollen die unteren Entgeltgruppen und Lohnstufen größere Aufstockungen bekommen als die oberen. Die Lohnerhöhung für die vor 2005 eingestellten Altbeschäftigten würde damit deutlich niedriger ausfallen als jene für die Neubeschäftigten. Die Laufzeit der neuen Entgelttabelle soll zwei Jahre betragen.
Finanzsenator Sarrazin lehnte dieses Verhandlungsergebnis ab, weil es den von ihm vorher verordneten Finanzrahmen leicht übertraf. Er hatte festgelegt, dass die Personalkosten bei BVG und BT in den nächsten beiden Jahren um höchstens 25 Millionen Euro steigen dürfen. Er hatte darüber hinaus verlangt, dass bei den Altbeschäftigten der Sicherungsbetrag "abgeschmolzen" wird, mit dem die BVG die 2005 vereinbarten Lohnkürzungen teilweise ausgleicht.
· Am 10. April legten mehr als 700 Straßenbahnfahrer ohne jede Vorankündigung die Arbeit nieder. Die Entscheidung für den spontanen Streik fiel kurz nach Mitternacht auf dem Betriebshof Lichtenberg. Selbst Verdi-Verhandlungsführer Frank Bäsler erfuhr seiner Aussage nach erst zum Streikbeginn um drei Uhr früh - und somit nach der BVG-Leitstelle - von der Arbeitsniederlegung und zeigte sich "überrascht". "Nur mit Mühe konnten Bus- und U-Bahn-Fahrer davon abgehalten werden, ebenfalls zu streiken", so Bäsler.
· Einen Tag später reagiert das Arbeitsgericht mit einer einstweiligen Verfügung. Das Gericht untersagte Arbeitsniederlegungen bei der BVG, die nicht mindestens 24 Stunden vorher angekündigt werden. Gestützt auf diese Gerichtsentscheidung stellt Sarrazin erneut klar, dass "der gesamte Senat bei einer zentralen Forderung keinen Spielraum" sähe: Die Lohnerhöhungen müssten so verteilt werden, dass die "relativ gut entlohnten Altbeschäftigten" weit weniger bekommen als die Neueingestellten. Das heißt: der rot-rote Senat ist nach wie vor entschlossen, die vor drei Jahren mit Verdi vereinbarten Niedriglöhne für Neueingestellte zu nutzen, um die Löhne der großen Mehrheit der Altbeschäftigten zu senken.
· Am 16. April setzte Verdi der Arbeitgeberseite eine "letzte Frist" und drohte erneut mit Streik. Wenn sich bis zum 18. April, zwölf Uhr, keine Einigung abzeichne, sei die "Wiederaufnahme eines Arbeitskampfes" ab Sonnabend, null Uhr, unausweichlich, hieß es.
Doch auch diese "letzte Frist" entpuppte sich als heiße Luft. Als die Verdi-Deadline verstrichen war und der Senat in seiner arroganten Art mitteilen ließ, ein kommender Streik der BVG-Beschäftigten werde ihn so wenig beeindrucken wie der frühere, bat der Verhandlungsführer der Gewerkschaft um neu Gespräche. Doch Sarrazin ließ mitteilen, er habe gegenwärtig keine Zeit und verlange von der Gewerkschaft erst eine Stellungnahme zu seiner Forderung nach einem deutlich geringeren Lohnzuwachs für die Altbeschäftigten.
Der bisherige Verlauf der Tarifauseinandersetzung zeigt: Der Kampf gegen den Senat kann nicht mit einer Gewerkschaft geführt werden, die mit den Regierungsparteien aufs engste verbunden ist und deren politische Standpunkte teilt. Es ist notwendig, mit Verdi und ihrer gewerkschaftlichen Politik des Sozialreformismus zu brechen und sich einer sozialistischen Perspektive zuzuwenden.