Putin und die Ermordung Anna Politkowskajas

Auch knapp eine Woche nach der Ermordung Anna Politkowskajas gibt es keine Anhaltspunkte, wer hinter diesem schändlichen Verbrechen steht. Doch das größte Interesse, diese mutige Stimme gegen den staatlichen Terror in Tschetschenien zum Schweigen zu bringen, haben die herrschende Clique um Präsident Putin und deren tschetschenischer Statthalter Ramsan Kadyrow.

Erst gut zwei Tage nach dem Mord bequemte sich Putin zuzugeben, dass es sich um ein "abscheuliches, inakzeptables Verbrechen, eine Gräueltat" handele, um sofort nachzuschieben, dass Politkowskaja zwar eine "scharfe Kritikerin der herrschenden Macht in Russland", ihr Einfluss in Russland aber "äußerst unbeträchtlich" gewesen sei. Gegenüber der Süddeutschen Zeitung erklärte er: Ihre "Ermordung schadet der russischen und insbesondere auch der tschetschenischen Führung erheblich mehr, als es ein Zeitungsartikel vermag".

Ganz im Stile eines Mafiapaten, dem dieses Geburtstagsgeschenk immer unheimlicher wird, spielte Putin das Verbrechen mit seiner Stellungnahme herunter, um es nach bekannter Manier möglichst zwischen den Aktendeckeln einer ermittelnden Bürokratie verschwinden zu lassen.

Zur Beisetzung Politikowskajas, zu der sich am 10. Oktober etwa 2.500 Trauernde einfanden, entsandte die russische Regierung lediglich ihren Menschenrechtsbeauftragten Wladimir Lukin.

In Russland und weltweit löste die Ermordung Politkowskajas einen Aufschrei der Empörung aus. In einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich des Putin-Besuches in Deutschland schrieb die russische Journalistin Jelena Tregubowa, die vor zwei Jahren selbst nur knapp einem Attentat entgangen war: "Sie war die konsequenteste und unbestechlichste Kritikerin Putins und seines politischen Regimes". Sie beendete ihren Brief wie folgt: "Glauben Sie wirklich, Frau Merkel, dass das russische Gas oder das russische Erdöl eine ausreichende Bezahlung dafür sind, dass man die Augen vor der physischen Vernichtung der Opposition und der freien Presse in Russland verschließt? Schweigen bedeutet in dieser Situation Mittäterschaft."

Der Journalist Andrej Babitzki, der wegen seiner Arbeit in Tschetschenien ebenfalls Repressalien zu erdulden hatte, erklärte gegenüber Radio Swoboda : Politkowskaja "war eine der letzten Journalisten, die über die faktische Diktatur von Kadyrow, über die Willkür und über die Gewalt in Tschetschenien schrieben. Bis zum heutigen Tage gibt es keinen anderen Journalisten, der so peinlich genau recherchiert und der zeigt, wie Kadyrows Tschetschenien wirklich aussieht."

Die Menschenrechtlerin Jelena Bonner kritisierte Putin im Radiosender Echo Moskaus : "Zu sagen, ihre Veröffentlichungen hätten Russland geschadet - das heißt zuzugeben, das die Wahrheit Russland schadet."

Der Gründer der privaten Hilfsorganisation Cap Anamur, Rupert Neudeck, schrieb: "Es gefror mir das Blut in den Adern, als ich am Sonntag die Nachricht hörte. Anna Politkowskaja war eine der mutigsten und besten Vertreterinnen des Journalistenberufes. Sie hat - komme es gelegen oder ungelegen - die Wahrheit über die totale Unterdrückung und Demütigung der Tschetschenen im Nordkaukasus aufgeschrieben. Jahrelang war sie Monat für Monat dorthin geflogen und hat ungeschminkt und ungefiltert berichtet."

Genau aus diesem Grund war sie dem Regime Putins ein Dorn im Auge. Seit Putin im Sommer 1999 - zunächst als Ministerpräsident und ab März 2000 als Präsident - an die Macht gelangte, hat er ein Regime mit stark autoritären Zügen aufgebaut.

Die zunehmende außenpolitische Aggressivität der USA, die immer offener die Einflusssphären Russlands bedrohten, bewog den Kreml zu einem Kurswechsel. Der US-geführte NATO-Angriff auf Serbien, einen traditionellen Verbündeten Russlands, im Jahre 1999 wurde als unmissverständliches Warnsignal aufgefasst, dass die USA auch den verbliebenen Einfluss Russlands auf die ehemaligen Republiken der Sowjetunion immer offener in Frage stellen würden.

Um dieser Gefahr zu begegnen, entschieden sich einflussreiche Teile der postsowjetischen herrschenden Elite, auch ihrerseits eine härtere Gangart einzulegen. Die Lösung sahen sie in einer Allianz von Geheimdiensten und Armee und den verschiedenen Claninteressen der Oligarchen. Die Ausplünderung der ehemaligen Sowjetunion durch die Oligarchen unter der Herrschaft von Boris Jelzin hatte Interessengegensätze erzeugt, die das politische System Russlands immer mehr zu zerreißen drohten. Dieses lief Gefahr, dem wachsenden Druck der USA nicht mehr standzuhalten.

Nach seiner Machtübernahme leitete Putin eine breite Palette von Maßnahmen ein, um einen autoritären und gegen jeglichen Widerstand von innen und außen gestärkten Machtapparat aufzubauen. Ziel war die rücksichtslose Ausschaltung jeglicher, auch noch so beschränkter demokratischer Einflussmöglichkeiten von Seiten der breiten, in Armut gestoßenen Mehrheit.

In mehreren Etappen wurden die Wahlgesetze von demokratischen Elemente gereinigt. Unter anderem wurde das Land - wie schon zu Zarenzeiten - in sieben Gouvernements aufgeteilt, denen ein von Putin eingesetzter Gouverneur vorsteht, der in der Mehrzahl der Fälle aus dem Geheimdienst oder der Armee stammt.

Gleichzeitig wurde eine systematische Gleichschaltung und Unterdrückung unabhängiger Medien betrieben. Die gegen diesen neuen Kurs opponierenden Oligarchen, Boris Beresowski und Wladimir Gussinski, wurden aus dem Land getrieben und deren Medienimperien, zu denen einflussreiche Zeitungen und Fernsehsender gehörten, staatlichen Unternehmen zugeordnet, von kritischen Journalisten gesäubert und auf Kremllinie eingeschworen.

Angaben der Organisation Reporter ohne Grenzen zufolge ist eine unabhängige journalistische Berichterstattung in Russland inzwischen nahezu unmöglich geworden. In einer Rangliste der weltweit 167 Länder steht Russland auf Platz 138 (Deutschland Platz 18, USA Platz 44). Seit 1992 sind 42 Journalisten Mordanschlägen zum Opfer gefallen, von denen 85 Prozent nie aufgeklärt wurden. Der letzte Aufsehen erregende Mord an einem Journalisten galt im Juli 2004 Pawel Chlebnikow, der mit seinem Buch über den Aufstieg des Oligarchen Boris Beresowski "Der Pate im Kreml" bekannt geworden war. Mit zunehmender Härte wird die Arbeit der wenigen übrig gebliebenen unabhängigen Medien behindert. Entweder werden Strafen auferlegt oder Werbung zur Finanzierung blockiert.

Die wichtigste Maßnahme, um diesem neuen Kurs die notwendige ideologische Rechtfertigung und Begleitmusik zu verschaffen, waren allerdings der "Kampf gegen den Terror" und der zweite Tschetschenienkrieg.

Als Vorwand dienten die Ereignisse von August und September 1999, als in kurzer Folge tschetschenische Separatisten in die Nachbarrepublik Dagestan einmarschierten und in Moskau und anderen Städten ganze Wohnblocks durch Bombenanschläge zerstört wurden, bei denen mehr als 300 Menschen ihr Leben verloren. Bei beiden Ereignissen gibt es starke Hinweise, dass es sich um gezielte Provokationen der Geheimdienste handelte.

In dem folgenden militärischen Feldzug gegen Tschetschenien wurde die gesamte Republik zerstört und unbewohnbar gemacht, Zehntausende ermordet und Hunderttausende in die Flucht getrieben. Die nach dem ersten Tschetschenienkrieg (1994-1996) mühsam aufgebauten und vom früheren Präsidenten Jelzin anerkannten Regierungsstrukturen wurden für ungültig erklärt.

Stattdessen wurde ab 2000, nach dem offiziellen Ende des zweiten Tschetschenienkrieges, Achmad Kadyrow als neuer Verwalter und ab Oktober 2002, nach einer inszenierten Wahl, als neuer Präsident Tschetscheniens eingesetzt. Nach seiner Ermordung im Mai 2004 übernahm sein Sohn Ramsan die Nachfolge.

Die Aufgabe des Kadyrow-Clans bestand darin, für den Kreml die formelle politische Kontrolle über Tschetschenien zu sichern und gleichzeitig gemeinsam mit der russischen Armee den Konfliktherd ständig weiter künstlich am Kochen zu halten. Bei Bedarf sollte ein Vorwand für neue drakonische Maßnahmen geliefert werden können und die Atmosphäre von Angst und Hysterie gegen "tschetschenische Terroristen" aufrechterhalten werden.

Dazu wurden dem Kadyrow-Clan und auch der russischen Armee schier unbegrenzte Möglichkeiten eingeräumt, mit ständigen Provokationen gegen die lokale Bevölkerung vorzugehen. Das Gebiet Tschetscheniens wurde ihnen als gesetzloser Tummelplatz für die brutalsten und rücksichtslosesten Verbrechen überlassen.

Waffen-, Drogen- und Menschenhandel wurden zum Mechanismus, über den sich alle Beteiligten dabei schadlos halten. Ein Menschenleben zählt überhaupt nichts mehr. Ungestraft können die Bewohner und ihre Familien nach Belieben eingeschüchtert, erpresst, massakriert, vergewaltigt oder einfach ermordet werden.

Zu einem beliebten Spiel gehört die Entführung von Familienangehörigen, um sie später gegen hohe Lösegelder wieder freizugeben. In der Zwischenzeit werden die Opfer unter den unmenschlichsten Bedingungen in Erdlöchern festgehalten und regelmäßig gefoltert, um den Preis in die Höhe zu treiben.

Von Anfang an, seit 1999, hat Anna Politkowskaja diese schweren Menschenrechtsverletzungen unerschrocken zu ihrem Thema gemacht. Auf diese Weise wurde sie zur einer unangefochtenen moralischen Autorität in Russland und international.

Ihr Kollege von der Nowaja Gaseta, Wjatscheslaw Ismailow, charakterisierte sie wie folgt: "Anna erhielt sieben Jahre lang Morddrohungen und hatte Angst. Aber sie vermochte ihre Angst zu überwinden, weil sie verstand, wie wichtig ihre Arbeit ist."

In ihrem letzten Radiobeitrag bei Swoboda, der am 5. Oktober anlässlich des 30. Geburtstages von Ramsan Kadyrow gesendet wurde, sprach sie über die wachsende Zahl von Entführungen, für die Kadyrow die Verantwortung trägt. Ihn selbst beschrieb sie als einen "bis an die Zähne bewaffneten Feigling, der in der Mitte seiner Wachen sitzt". Über ihre gegenwärtige Arbeit sagte sie: "Auf meinem Arbeitstisch stehen gerade zwei Fotografien, zu denen ich recherchiere. Das sind Misshandlungen von gestern und heute in Kadyrows Folterkellern. Diese Leute wurden von den Kadyrow-Leuten aus völlig unverständlichen Gründen entführt.... Die Fotos, von denen ich spreche, zeigen aufs brutalste geschundene Körper."

Über Kadyrow sagte sie: "Mein persönlicher Traum für den Geburtstag von Kadyrow ist nur eines. Ich träume, dass er auf der Anklagebank sitzt und dass eine restlose juristische Aufklärung aller seiner Verbrechen mit allen notwendigen Konsequenzen erfolgt."

Besondere Bekanntheit erlangte sie auch, weil einige ihrer Recherchen der Kremlführung spektakuläre Gerichtsprozesse abnötigten, die einen tiefen Einblick in diese willkürlichen und brutalen Herrschaftsform gewährten.

"Nie wieder wird Putin einen Geburtstag haben. Es wird immer nur den Tag geben, an dem Anna Politkowskaja ermordet wurde, die sich weder kaufen noch einschüchtern ließ." Die tschetschenische Journalistin, Manat Abdullajewa, bringt es auf den Punkt: Wie ein Brandmal wird diese Bluttat vom 7. Oktober, dem 54. Geburtstag des Kremlherrschers, das Wahrzeichen der Herrschaft von Russlands Präsidenten Wladimir Putin bleiben.

Siehe auch:
Kritische Journalistin in Moskau ermordet
(11. Oktober 2006)
Loading