Passender hätte der Rahmen kaum sein können, die verschärften Spannungen zwischen Russland und den USA anzusprechen. Am 10. Mai, einen Tag nach den Feierlichkeiten zum 61. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges, erklärte Russlands Präsident Wladimir Putin in einer Rede an die Nation: "Je stärker unser Militär ist, umso geringer wird die Versuchung sein, Druck auf uns auszuüben", denn "wie das Sprichwort sagt: Kamerad Wolf weiß, wen er fressen muss - und er frisst, ohne auf andere zu hören".
Damit formulierte Putin öffentlich die Sorgen Moskaus, das sich durch die wachsende Aggressivität der USA bedroht sieht. "Wo bleibt das ganze Pathos von der Notwendigkeit zum Kampf für Demokratie und Menschenrechte, wenn es darum geht, die eigenen Interessen zu sichern?", fragte Putin vorwurfsvoll Richtung USA.
Weiter erklärte er, das weltweite Wettrüsten sei noch nicht vorbei. Im Gegenteil sei international sogar eine "neue technologische Ebene" erreicht worden. Das Wettrüsten beschleunige sich. Der US-Verteidigungshaushalt sei 25 Mal höher als der Russlands. In Bezug auf den Streit um das iranische Atomprogramm warnte er indirekt vor Gewaltanwendung. Solche Methoden brächten nur selten den gewünschten Erfolg.
Putin reagierte mit seiner Rede auf den sich seit langem verschärfenden Druck aus den USA. US-Präsident George W. Bush hatte Russland nur wenige Tage zuvor "wirtschaftlichen Nationalismus" vorgeworfen, "etwa wenn Ölfirmen dazu benutzt werden, um scheinbar politische Ziele zu erreichen". Diese Sorgen "sprechen wir offen aus, zum Beispiel, wenn jemand Erdgas nutzt, um Regierungen eine Botschaft zu senden", hatte Bush erklärt.
Er bezog sich damit auf den Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine. Der russische Gasprom-Konzern hatte die Gaslieferungen in die Ukraine Anfang des Jahres vorübergehend gestoppt und den bis dahin geltenden Vorzugspreis fürs erste verdoppelt.
Schon Anfang des Monats hatte US-Vizepräsident Dick Cheney auf einer Rundreise durch die ehemalige Sowjetrepubliken Russland in bisher nicht da gewesener Schärfe und Eindeutigkeit angegriffen. Er warf Russland "Rückschritte im Demokratisierungsprozess" vor, weil es Energielieferungen gezielt dafür eingesetzt habe, die Rechte der Menschen in den Nachbarstaaten Russlands auf unangemessene und unfaire Weise zu beschneiden. Damit sei auch die territoriale Integrität der Nachbarn untergraben worden. Außerdem habe Moskau die dortigen demokratischen Bewegungen zu beeinflussen versucht.
Die Auseinandersetzung kennzeichnet einen neuen Höhepunkt der Spannungen zwischen Russland und den USA. Noch nie haben der US-Präsident und sein Vizepräsident selbst derart offen unmittelbar gegen Russland gerichtete Drohungen geäußert. Auf dieser Ebene wurden bisher "freundschaftliche" Beziehungen gepflegt, während Drohgebärden und Anklagen über das Pentagon, Think Tanks oder zweitrangige Politiker lanciert wurden.
Die aggressive Haltung der US-Regierung ist Bestandteil einer Politik, mit der das US-Establishment versucht, ihre internationale Dominanz über alle wichtigen Ressourcen und Märkte zu sichern. Es ist nicht bereit, das Erstarken von Regionalmächten zu dulden, die diese Dominanz in Frage stellen, und versucht das immer offener, auch mit militärischen Mitteln, zu verhindern.
In Russland sehen die USA in dieser Hinsicht eine wachsende Herausforderung. Die russische herrschende Elite arbeitet seit Jahren in ihrer eigenen reaktionären Art und Weise daran, sich den Hegemoniebestrebungen der USA auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion entgegenzustellen.
Als Reaktion auf den US-geführten Krieg gegen Serbien, einen traditionellen Verbündeten Russlands, und den im Jahr 2000 unter US-Ägide organisierten Regimewechsel in Belgrad begannen einflussreiche Teile der herrschenden russischen Elite ihre Politik neu zu orientieren. Sie verstanden, dass sich die USA mit der Auflösung der UdSSR nicht zufrieden geben und versuchen würden, den Einfluss der größten aus ihr hervorgegangenen Macht, Russlands, weiter zu reduzieren.
In der russischen Elite begannen sich Kräfte durchzusetzen, die in einem starken Staat die einzige Möglichkeit sahen, die postsowjetischen Herrschaftsstrukturen gegen diesen wachsenden Druck von Seiten der USA zu schützen und das eigene Interessensgebiet auszubauen.
Unter den Oligarchenclans - den neuen Eigentümern des früheren Staatsvermögens - setzte eine Umorientierung auf die alten Sicherheitsstrukturen in Geheimdienst und Armee ein, die einen Staat nach chinesischem Vorbild anstrebten. In China wird unter der strikten Kontrolle der Kommunistischen Partei und aus ihr heraus eine neue Kapitalistenschicht geschaffen, die mit Hilfe der Partei ihre eigenen brutalen Ausbeutungsmethoden durchsetzt und in Beziehung zum Weltmarkt und anderen Großmächten tritt.
Um einen solchen russischen Staat zu schaffen, wurden die Fähigkeiten von Wladimir Putin und seinen Freunden benötigt. Wie kaum ein anderer verkörperte Putin die Verbindung zwischen den sowjetischen Sicherheitsstrukturen und den neuen Oligarchenclans.
Bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion hatte er 15 Jahre im sowjetischen Auslandsgeheimdienst gearbeitet. Von 1990 bis 1996 war er der wichtigste Berater und die rechte Hand des damaligen Oberbürgermeisters von St. Petersburg, Anatoli Sobtschak. Sobtschak hatte in der nach Moskau zweitwichtigsten Stadt Russlands die Bereicherungsorgie der lokalen Oligarchen überwacht und organisiert. Er zählt zu den korruptesten politischen Figuren dieser Zeit.
Nach Sobtschaks gescheiterter Wiederwahl 1996 kehrte Putin in die Geheimdienststrukturen zurück und übernahm 1998 die Führung des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB), der Nachfolgeorganisation des KGB. 1999 wurde Putin vom scheidenden Präsidenten Boris Jelzin als neuer Premierminister und ab 2000 als sein Nachfolger als Präsident ins Amt gesetzt.
Putin begann seine Arbeit mit der Besetzung wichtiger Posten durch Geheimdienst- und Armeepersonal, der sukzessiven Gleichschaltung der Medien und vor allem einer neu geregelten Arbeitsteilung mit den Oligarchen: die Oligarchen dürfen weiter die Wirtschaft kontrollieren, während Armee und Geheimdienst die politische Führung ausüben. Oligarchen, die sich dem widersetzten, wurden ausgeschaltet und ihres Einflusses weitgehend beraubt - zuerst wurden die Medienkonzerne von Boris Beresowski und Wladimir Gussinsky zerschlagen und diese ins Exil getrieben. Der Ölmilliardär Michael Chodorkowski sitzt seit zwei Jahren in einem sibirischen Gefängnis.
Kern der neuen Politik war die Erneuerung der Kontrolle über die wichtigsten Ressourcen, vor allem von Öl und Gas, in den Händen des Staates. Angesichts des rasant gestiegenen und weiter steigenden weltweiten Bedarfs bilden diese die wichtigste Grundlage der russischen Wirtschaft und somit das wichtigste Pfund und Machtinstrument in den Händen des Kreml.
Beim staatlichen Gasprom-Konzern wurde die Führung ausgetauscht und die Unterordnung unter den Staat gestärkt. Im Ölbereich kam es zu einer Stärkung des staatlichen Rosneft-Konzerns, dem Chodorkowskis Ölfirma Juganskneftegas zugeschlagen wurde. Die Ölfirma Sibneft des Oligarchen Roman Abramowitsch wurde Gasprom angegliedert.
Die gestiegenen Energiepreise haben mittlerweile dazu geführt, dass Russland infolge dieser Politik vom Schuldner- zum Gläubigerstaat wurde und zu den Ländern mit den höchsten Währungsreserven gehört.
Diese neu gewonnene Stärke versucht Russland in einer Annäherung vor allem an China auszuspielen, um noch stärker vom wachsenden Energiehunger dieses Landes zu profitieren und somit einen mächtigen Partner an seine Seite zu ziehen. Schon seit einigen Jahren werden verschiedene Szenarien durchgespielt, Öl- und Gaspipelines von Russland nach China und auch Japan zu legen. In diesem Zusammenhang konnte der russische Einfluss in einigen ehemaligen südlichen Republiken der UdSSR wieder gestärkt werden. Die USA mussten bereits ihre Militärbasis in Usbekistan räumen und werden dies möglicherweise auch in Kirgistan tun müssen.
In den USA, aber auch Europa löst diese Entwicklung Sorgen aus. Die USA sehen ihre Interessen in den südlichen Ländern der ehemaligen Sowjetunion in Gefahr, aus denen sie seit einem Jahr vom aserbaidschanischen Baku über das georgische Tiflis zentralasiatisches Öl an Russland und dem Iran vorbei auf den Weltmarkt befördern. Außerdem sehen die USA darin eine weitere Stärkung des für sie schon jetzt unkalkulierbaren und bedrohlichen Wirtschaftsgiganten China.
Europa, das in erheblichem Maße von den Energielieferungen aus Russland abhängig ist, muss eine weitere Verteuerung und gar eine Verknappung der russischen Lieferungen befürchten, die Russland lukrativer nach Asien zu verkaufen beabsichtigt.
Vor diesem Hintergrund muss die gesteigerte Aggressivität von Seiten der USA und zuletzt auch aus Europa gesehen werden. Die USA organisierten im Jahr 2003 den Sturz der georgischen Regierung und ein Jahr später der ukrainischen, die beide durch zuverlässigere Interessenvertreter ersetzt wurden. In diesem Frühjahr scheiterte ein ähnlicher Versuch in Weißrussland, der - im Gegensatz zu den Regimewechseln in Georgien und der Ukraine - nun auch von europäischer Seite geschlossen unterstützt wurde.
Alexander Rahr, Russlandexperte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, brachte die Befürchtungen vor einem von Russland geführten Block der Öl- und Gasförderländer dieser Region mit China und Indien auf den Punkt. Er erklärte, dieser würde "zu einem zweiten Pol’ in der Weltordnung des 21. Jahrhunderts" werden.
Genau das zu verhindern, haben sich die USA auf die Fahnen geschrieben. Erst kürzlich wurde bekannt, wie fieberhaft in den letzten Jahren daran gearbeitet wurde. Einem Bericht der Zeitschrift Foreign Affairs zufolge hat der technische Fortschritt die USA mittlerweile zu einer überlegenen Atommacht gemacht. Die USA seien jetzt in der Lage, einen Erstschlag gegen alle Atommächte - wie z. B. Russland oder China - zu führen und dabei deren Rückschlagpotential nahezu auf Anhieb zu zerstören.
61 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges erlebt die Menschheit wieder einen Rückfall in die Zeit des Fressens und Gefressenwerdens. Die Arbeiterklasse muss dem auf internationaler Ebene und unabhängig von den jeweiligen "Wölfen", ob in Washington oder Moskau, ihre eigene sozialistische Politik entgegenstellen und ihnen das Handwerk legen. Immer offener steht die Frage im Raum: Sozialismus oder Barbarei?