Vor einiger Zeit sendete der Fernsehkanal "arte" den sehenswerten Dokumentarfilm Jarmark Europa. Der erste Film der jungen deutschen Regisseurin Minze Tummescheit lief bereits auf der Berlinale 2004 und kam ins Kino. Seit dem Herbst ist die DVD im Handel.
Kurz vor der EU-Osterweiterung gedreht, gewährt die Dokumentation Einblick in das Leben von Menschen der ehemaligen Sowjetunion, deren Existenz völlig dem "freien Markt" unterworfen ist. Da ihre niedrigen Einkommen nicht zum Leben reichen, treiben sie Handel wie in vorindustriellen Zeiten.
Der grenzüberschreitende Basarhandel ist seit den neunziger Jahren für Osteuropa kennzeichnend. 2001 berichtete die Dokumentation "Der chinesische Markt" von Zoran Solomun und Vladimir Blazevski über einen großen Basar in der ungarischen Hauptstadt Budapest. Im Laufe der Zeit hatte sich der örtliche Markt im Stadtteil Jozsefvaros zu einer Drehscheibe chinesischer Billigwaren entwickelt. Die chinesischen Verkäufer kamen bis aus New York, weitere Zwischenhändler vor allem aus der Ukraine, Polen, Rumänien, Bulgarien, Albanien, Serbien, Bosnien und Kroatien.
Über den Jarmark Europa, den großen Basar auf dem Sportstadion Dsieciecolecia im polnischen Warschau, berichtet Minze Tummescheits Film. Die Händler, zum großen Teil aus der ehemaligen Sowjetunion, legen für eine Tour riesige Strecken, nicht selten mehrere Tausend Kilometer zurück. Die Regisseurin hat zwei Händlerinnen auf ihrer Reise nach Polen begleitet, die Rentnerin Kaleria aus dem russischen Penza, früher Ärztin, und Swetlana, eine arbeitslose Musiklehrerin aus dem weißrussischen Brest. Später kommen noch die arbeitslose Verkäuferin Valentina und die Frührentnerin Irina dazu, früher Lehrerin für Russisch und Literatur.
Wie anderswo in Russland ist auch in Penza die Arbeitslosigkeit hoch. Immer kurz vor der Schließung, das Uhrenwerk. Vor der Perestroika beschäftigte es 14.000 Arbeiter. Jetzt sind es noch 1.500, man produziert im Notstrombetrieb, und für den Lohn, der noch unter dem vom Staat festgelegten so genannten "Existenzkorb" von etwa 1.200 Rubel (35 Euro) im Monat liegt, lohnt sich die Arbeit eigentlich nicht. In Pelzmänteln sitzen die Arbeiterinnen in der unbeheizten Fabrikhalle. Für die Kamera haben sie sie kurz ausgezogen.
Eine Alternative gibt es nicht, auf dem lokalen Basar steht eh schon die halbe Stadt, erklärt Kaleria. "Man geht auf den Markt und trifft seinen Kollegen, einen Arzt oder Lehrer, der da bestickte Deckchen verkauft. Das ist doch schrecklich." Lehrer gehören zum öffentlichen Dienst und verdienen schlecht, ungefähr 1.000 Rubel im Monat. Kaleria erhält 2.000 Rubel (58 Euro) Rente. Aber auch sie muss dazu verdienen.
Es ist demütigend, hier, wo viele sie als geachtete Ärztin kennen, auf dem Markt zu stehen, Deshalb fährt Kaleria wie andere zum Handeln nach Polen. "Wir begannen (...) vom Uhrenwerk Uhren zu verkaufen. Das Uhrenwerk hatte kein Geld. Es gab (...) eine Phase, in der monatelang keine Löhne und keine Renten ausgezahlt wurden. Der Staat hatte kein Bargeld. Die Werke haben ihre Arbeiter mit der eigenen Produktion entlohnt oder mit der Produktion anderer Werke, mit denen man einen Tauschhandel betrieben hat. Wir haben den Werkarbeitern die Uhren abgekauft, wenn ihnen ihre Löhne für mehrere Monate in Uhren ausgezahlt wurden. die Uhren haben wir dann nach Polen gebracht und dort verkauft. So sind wir auf dem Markt gelandet."
Swetlana verkaufte eine Zeitlang auf dem Jarmark Europa irgendwelche Kleinigkeiten, die nicht gut liefen, bis sie mehr durch Zufall darauf kam, russische Literatur an russische Landsleute, in der Regel Arbeiter, die befristet Arbeit in Warschau gefunden haben, zu verleihen. Die Bücher, Videos, Musikkassetten und CDs bezieht sie wiederum von einem Markt im weißrussischen Minsk.
Mit im Gepäck, die ständige Unsicherheit. Man riskiert an der weißrussisch-polnischen Grenze alles zu verlieren, denn was die Frauen tun, gilt offiziell als krimineller Schmuggel. Erwischt werden oft Frauen, die nur eine Kleinigkeit zum Verkauf mit hinüber nehmen. Der Schmuggel im großen Stil mit dementsprechender Bestechung der Beamten funktioniert reibungslos, erklärt Swetlana.
Weniger riskant, aber teuer ist die Überquerung der Grenze mit dem Taxi. "Jeder, der Zeit und ein Auto hat ist in Brest Taxifahrer." Zeit haben viele wegen der Arbeitslosigkeit. Sie "kennen irgendjemand in der langen Reihe der Kontrolle. Die Regeln, die Preise, alles ist festgelegt." Auch auf dem Markt in Warschau wird noch die kleinste Möglichkeit für ein Geschäft genutzt, jeder muss etwas verdienen. Und so wird auf zweiter und dritter Ebene weitergehandelt bis zur Weitervermietung der begehrten Stellplätze mit Zelt und Tisch.
Das Leben, das Kaleria, Swetlana und die vielen anderen Kleinhändler führen, ist aufreibend. "Weberschiffchen" nennt man sie in Russland. Ständig pendelnd, gilt ihr Augenmerk dem nächsten Einkauf, dem nächsten Verkauf - Einkauf - Verkauf - Einkauf - Verkauf - Einkauf. Diese Art der Existenzsicherung stellt eine unheimliche Verschwendung geistiger und physischer Ressourcen dar.
Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion führte die Musiklehrerin Swetlana Kinder an die Kultur heran. Die heutigen Bedingungen haben sie einen aufs reine Überleben gerichteten Pragmatismus gelehrt. Eine ihrer Töchter begleitet sie seit dem zwölften Lebensjahr auf den Markt, und auf Kundenwunsch besorgt Swetlana auch den "Business-Slang des Neuen Russen".
Kaleria leitete früher eine Poliklinik und wertete als Kardiologin EKGs aus. Als Rentnerin ist sie gezwungen, mit der gleichen Akribie ihre Gewürztütchen für die Reise zu verstauen, penibel auszurechnen, für wie viel Kleingeld sie gemahlenen und ungemahlenen Pfeffer verkaufen wird. Sie zeigt die Packungen mit "Super-Kleber", der auf dem Markt gut weggeht, und ihre Kollektion Uhren aus ganz Russland. In Warschau breitet sie vorsichtig die Waren auf dem Boden aus. Auf der blauen Plastiktüte liegen Kämme, Schnürsenkel, eine Gasmaske u.a. Sie schäme sich nicht für das, was sie tue. "Ich weiß doch, wer neben mir steht. Einzig die Intelligenz, gebildete Leute." Menschen aus Weißrussland, der Ukraine, Polen ...
Im Zug ist sie in gehobener, etwas feierlicher Stimmung. Sie fühlt sich wohl unter Menschen. Allein und untätig zu Hause kommen die Kopfschmerzen und Kreislaufbeschwerden. Rückblickend auf ihr früheres Berufsleben bemerkt sie wehmütig stolz: "Mein ganzes Leben habe ich den Menschen gewidmet." Sie berichtet, dass heute viele ihre früheren Berufe aufgegeben haben, um auf den Markt zu gehen: "Das ist schlecht. Man kann doch nicht das ganze Leben nur handeln. Und die Rente muss auch verdient werden. Man muss also arbeiten. (...) Wohin soll man gehen. Die einzige Möglichkeit ist der Markt." Sie geht, auf ihren Stock gestützt, langsam die Stadiontreppe zum Stellplatz hinauf. Gibt es ein treffenderes Bild für den sozialen Absturz der ehemaligen sowjetischen Intelligenz?
Es wäre für die Filmemacher sicher leicht gewesen, spektakuläre, schockierende Bilder der heutigen sozialen Verwahrlosung, Kälte und Verrohung in Russland zu zeigen. Wichtiger war der Regisseurin offenbar, inmitten dieses sozialen Desasters nach emotionalen Impulsen der Zuwendung, nach Formen des Miteinanders zu suchen. Sie fand Menschen, die sich in ihrer unwürdigen Situation die Würde bewahrt haben.
Statt wie andere in den Heimatstädten in Apathie und Alkohol zu versinken, nehmen Kaleria, Swetlana und die anderen Frauen alle paar Wochen die anstrengende Tour auf sich, um zu überleben und die Angehörigen zu unterstützen. Die Regisseurin berichtet von der Solidarität unter den Händlern. Vielleicht fühlen sich die älteren wie Swetlana auch eher noch als "Sowok", als Bürger der ehemaligen Sowjetunion, und weniger mit ihrer neuen nationalen Identität verbunden.
Als ein paar Georgier von Swetlana Schutzgeld erpressen, und sie das öffentlich macht, zeigen sich andere georgische Händler schockiert. Die Erpresser seien von ihren Landsleuten verprügelt worden, hört Swetlana später. Bewegend auch das Bild der alten Karussellwärterin in Penza, die mit einem großen Schraubenschlüssel hantierend inmitten des stillgelegten Vergnügungsparks der Stadt ein Karussell in Gang setzt, um einem einzelnen Kind eine Freude zu machen.
Die Regisseurin erklärt ihre Faszination darüber, dass Hunderttausende von Menschen, die bis Ende der achtziger Jahre vielleicht noch nie im Ausland waren, die erst recht noch nie Handel betrieben hatten, plötzlich die bis dahin geschlossenen Grenzen überschritten und einen Warenaustausch in Gang brachten, der "ungeregelt, selbst organisiert und direkt war." Das spontane internationale Agieren gibt eine Ahnung davon, was möglich wäre, wenn es dabei nicht ums nackte Überleben ginge. Die Kreativität der Händler, die sich ständig etwas einfallen lassen müssen, um den Handel aufrecht zu erhalten, kann nicht über die Widersinnigkeit dieses Lebens hinwegtäuschen. Früher seien die Kindergärten die schönsten Gebäude der Stadt gewesen, erklärt Kaleria, später die Parteigebäude und heute die Gebäude der großen Banken.
Die neuen, strenger bewachten EU-Grenzen haben die für viele einzige Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten sehr eingeschränkt. Der Film deutet an, dass die Basarhändler zunehmend kriminalisiert werden. Die "Schwarzen Brigaden" jagen sie in den Zügen, und der allgemeine finanzielle Aufwand wird immer größer: "Dann kommt man zurück und nichts ist übrig. Man weiß nicht, wofür man gefahren ist."
Das soziale Gefälle in dem sich die Regisseurin zwischen Ost und Westeuropa bewegt ist riesig. Sie erklärt, Welten lägen zwischen Kaleria, Swetlana und ihr selbst. Für einen Menschen aus dem wohlhabenden Westen, sei es unfassbar, dass Kaleria 4.000 km fährt, 14 Tage unterwegs ist, um 100 Dollar (etwa 3.000 Rubel) zu verdienen.
Aber auch in der "Festung Europa" fahren Menschen im Zuge globaler Arbeitsplatzvernichtung ihren Arbeitsplätzen hinterher wie Swetlana und Kaleria. Da sind britische Bauarbeiter, die ihren Lebensunterhalt mühsam auf deutschen Baustellen verdienen, während deutsche Arbeiter sich an Unternehmen in Holland verleihen lassen, wochenlang getrennt von ihren Familien. In Deutschland selbst pendeln nicht selten ostdeutsche Arbeiter zwischen ihrem Wohnort und einem weit entfernten Arbeitsplatz in Westdeutschland hin und her.
Anhand von Einzelschicksalen gibt Jarmark Europa einen lebendigen Eindruck vom kulturellen Niedergang in Osteuropa. Die Intellektuellen und Akademiker, die heute bei Wind und Wetter auf den zahlreichen Basaren stehen, bei völliger Ungewissheit, wie lange das überhaupt noch möglich ist, sind Ausgestoßene, denen es verwehrt ist, ihren Reichtum an Wissen in die heutige Gesellschaft einzubringen.
Der Zuschauer darf auf das nächste Filmprojekt der Regisseurin gespannt sein.