Was wird aus dem Gesundheitssystem?

Teil 2: Die Konzepte der Parteien zur Gesundheitsreform

Im Wesentlichen gibt es zwei Konzepte zur Reform der Gesundheitssystems. Die Bürgerversicherung, die im März 2002 in das Grundsatzprogramm der Grünen aufgenommen wurde und von der SPD mitgetragen wird, sowie das Modell der Union, die Gesundheitsprämie (Kopfpauschale).

Gesundheitsprämie

Auf ihrem Parteitag im Dezember 2003 beschloss die CDU die "Kopfpauschale" zur Reform der Krankenversicherung. Jeder erwachsene Versicherte sollte danach einen gleich hohen Beitrag von 180 Euro plus einen Vorsorgebeitrag von 20 Euro für eine kapitalgedeckte Altersrückstellung zahlen. Die kostenlose Mitversicherung nichtarbeitender Familienmitglieder entfiel in diesem Modell. Der Arbeitgeberbeitrag sollte nach den Vorstellungen der Partei bei 6,5 Prozent eingefroren, an die Lohnempfänger direkt ausgezahlt werden und bei ihnen der Lohnsteuer unterliegen. Mit den daraus erwarteten 16-17 Mrd. Euro zusätzlichen Steuereinnahmen gedenkt man einen Teil des Sozialausgleichs (Stützung der Beiträge für sozial Schwache, Kinder usw.) der Krankenversicherung mitzufinanzieren.

Welche Bedeutung wird jedoch der ausgezahlte Arbeitgeberanteil in der Praxis bei zukünftig neu abzuschließenden Arbeitsverträgen haben? Wird er mehr als eine theoretische Größe sein, eine Position, die man bei der Ausfertigung eines Arbeitsvertrag als separaten Posten schriftlich anführen muss? Oder erhöhen die Unternehmen fortan bei neuen Arbeitsverträgen die Löhne, um den vormaligen Arbeitgeberanteil nicht zu vergessen?

Die Gesamtprämienbelastung eines Haushaltes soll im CDU-Modell 15 Prozent des Haushaltseinkommens nicht überschreiten. Für Geringverdiener ist andernfalls ein Zuschuss aus Steuermitteln vorgesehen. Ein Beispiel soll das praktische Resultat dieser neuen Finanzierung verdeutlichen.

Im alten System der paritätischen Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), bei einem Beitragssatz der Krankenkasse in Höhe von 14 Prozent, zahlte ein Lohnabhängiger mit einem Bruttoeinkommen von 1.500 Euro den Beitragsanteil von 7 Prozent (105 Euro) selbst und weitere 105 Euro überwies der Arbeitgeber an die Krankenkasse. Im Modell der Kopfpauschale beläuft sich der zu zahlende Monatsbeitrag des Arbeiters auf 200 Euro. Anspruch auf Sozialausgleich besteht nicht, da 15 Prozent des Bruttoeinkommens (225 Euro) nicht überschritten wurden. Ein früher beitragsfrei mitversicherter Partner (Familienversicherung) ist im System der Kopfpauschale nicht beitragsfrei mitversichert. Bis zum Betrag von 225 Euro wird das Einkommen in unserem Beispiel deshalb weiter belastet, dann erst greift der Sozialausgleich.

Angela Merkel signalisierte inzwischen, dass sie auch die Erlöse aus der geplanten Mehrwertsteuererhöhung in erster Linie zur "Senkung der Lohnnebenkosten" als Zuschuss einsetzen will. Die Mehrwertsteuererhöhung führt dazu, dass vor allem die Lohnabhängigen den "sozialen Ausgleich" zahlen - zusätzlich zu ihrer Pauschale. "Somit kommt es, dass die Empfänger der Zuschusszahlungen den empfangenen sozialen Ausgleich in größerem Maße mitfinanzieren", bemerkt der Sachverständigenrat in seinem Gutachten des Jahres 2004, in dem er selbst die Mehrwertsteuererhöhung als die beste Finanzierungsquelle entdeckt.

Die Kopfpauschale könnte als eine abgespeckte Grundsicherung, verknüpft mit Selbstbeteiligungen der Patienten umgesetzt werden. Die Beiträge zur Kopfpauschale würden kaum steigen, weil wegen des reduzierten Leistungsumfanges und höherer Zuzahlungen/ Eigenbeteiligungen die Gesundheitsausgaben der GKV kaum steigen dürften. Bleiben die Gesundheitsausgaben jedoch stabil, so verändert sich auch die Höhe der Kopfpauschale nicht. Die Bedeutung für die zu zahlenden staatlichen Zuschüsse, die erst dann anfallen, wenn 15 Prozent des Haushaltseinkommens durch die Beiträge der Kopfpauschale überschritten werden, liegt auf der Hand.

Hat ein Versicherter über die Grundabsicherung hinaus die "Eigenverantwortung", seinen Versicherungsschutz zu ergänzen, so muss er in seinem Geldbeutel nachsehen, ob sich dort noch etwas "Äquivalenz" findet. In den unteren Einkommensschichten wird sich dort nichts finden und bei den höheren Einkommen ist die Zusatzversicherung Privatsache. Der soziale Ausgleich greift bei den Zusatzpolicen nicht.

Dieses Modell gibt es bereits in der Schweiz, dem ersten Land der Welt, das die Finanzierung des Gesundheitswesens auf die Kopfpauschale umstellte. Der Beitrag für die Kopfpauschale liegt dort bei derzeit cirka 230 Euro in den Städten und ist auf dem Land etwas geringer. Hinzu kommt eine hohe Eigenbeteiligung. Den Beitrag für Kinder zahlt der Staat nicht. Jeder dritte Haushalt benötigt staatliche Zuschüsse, um die Beiträge zu zahlen. Es gibt diese Basisversorgung, in die alle einzahlen müssen, und es gibt Zusatzversicherungen, zu denen beispielsweise auch die für den Zahnersatz gehört.

Das bisherige paritätische System der GKV bewirkte eine solidarische Mitfinanzierung unterer Einkommensschichten. Durch die soziale Umverteilung von den etwas besser Verdienenden zu Geringverdienern, zu beitragsfrei mitversicherten Familienangehörigen, zur Gruppe der Teilzeitbeschäftigten, Arbeitslosen und Rentner, war bisher gesichert, dass jeder gesetzlich Versicherte - unabhängig vom Geldbeutel - den Leistungsumfang der Gesetzlichen Kassen nutzen konnte. Anzumerken ist hierbei, dass jeder Arbeitnehmer ab einem monatlichen Bruttoeinkommen von derzeit 3.525 Euro, der so genannten Beitragsbemessungsgrenze, in die private Krankenversicherung wechseln kann. So können sich gerade die wirklich gut Verdienenden aus der solidarischen Krankenversicherung entziehen.

Doch selbst dieser eingeschränkte solidarische Ausgleich ist der Wirtschaft und den Berliner Parteien ein Dorn im Auge. Im Grunde finanzierten die Unternehmen durch höhere Sozialbeiträge der bei ihnen angestellten Lohnabhängigen mit höheren Einkommen die Sozialkosten unterer Einkommensschichten mit. Reduziert man die Höhe der erforderlichen Umverteilung, indem man die Zahlungsschwachen in die Grundsicherung entlässt und den dann noch erforderlichen sozialen Ausgleich (Zuschuss zur Gesundheitsprämie) zukünftig mittels der Mehrwertsteuer erhebt, so sind die Unternehmen weitgehend entlastet.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Sachverständigenrat die Kopfpauschale der CDU befürwortet, die seinen eigenen Vorstellungen einer Bürgerpauschale (auf die ich hier nicht eingehen möchte) nahe steht.

Die Vorstellungen der CDU zur Kopfpauschale lösten im Jahr 2004 einen monatelangen Hick-Hack in der Union aus. Die CDU stellte klar, dass ihr Vorschlag nicht diskutabel sei. Die CSU-Spitzen forderten eine abgesenkte Kopfpauschale von etwa 110 Euro. Der restliche Finanzbedarf sollte wie bisher paritätisch und einkommensabhängig gedeckt werden, nicht jedoch durch Steuern. Stoiber und sein Gesundheitsexperte Seehofer fassten ihr Konzept in der schön klingenden Formel "Kleines Einkommen - kleiner Beitrag, höheres Einkommen -höherer Beitrag" zusammen. In den Medien wurde der Streit in der Union als "Richtungsstreit" gewertet und in Zusammenhang mit der Festlegung auf den zukünftigen Kanzlerkandidaten gesehen.

Die CSU betonte während des Zwistes stets den gemeinsamen Nenner mit der großen Schwester - dass man von der Lohnbezogenheit der Sozialbeiträge abgehen wolle. Mitte November hatten Merkel und Stoiber das Kompromissmodell ausgehandelt. Für alle GKV-Versicherten war demnach eine Kopfpauschale von 109 Euro geplant. Für Versicherte, die dafür mehr als sieben Prozent des Einkommens ausgeben müssten, wurde der Sozialausgleich vorgesehen. Auch die Kinderbeiträge sollten aus einem öffentlichen Fonds bezahlt werden. Der Sozialausgleich sollte aus der Einkommensteuer finanziert werden.

Im Wahlkampf 2005 wurde die niedersächsische Sozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) von Angela Merkel in das Kompetenzteam berufen. Im Falle des Wahlsieges der Union sollte sie als Ministerin für das Ressort Gesundheit und Soziales zuständig werden. Von der Leyen gilt als die Mutter der Kopfpauschale und verteidigte diese im vergangenen Jahr im Sinne Merkels auch gegen Kritiker aus den eigenen Reihen. Dass sie zum Kompetenzteam gehörte, zeigt, in welche Richtung Angela Merkel die Gesundheitsprämie - trotz des Kompromisses mit der CSU - auszugestalten gedenkt. "In der gesetzlichen Krankenversicherung brauchen wir eine vollständige Abkoppelung der Gesundheitskosten von den Löhnen. Da geht mir der Konsens zwischen CDU und CSU nicht weit genug", sagte von der Leyen am 29. November 2004 dem Spiegel.

Im Juli 2005 zitierte der Tagesspiegel die Ministerin in spe mit den Worten: "Im Jahr 2005 in einer globalisierten Welt können wir den Sozialstaat nur erhalten, wenn wir die Sozialsysteme neu finanzieren." Das Blatt kommentierte, von der Leyen sei entschlossen, die Gesundheitsprämie auch "gegen Widerstände in der Bevölkerung und der Gesundheitslobby" durchzusetzen.

Bürgerversicherung

Im System der Bürgerversicherung von Rot-Grün sollen neben Lohnabhängigen auch Selbstständige, Beamte und Freiberufler in das bestehende Krankenversicherungssystem einzahlen. Zur Berechnung des Beitrags werden neben dem Lohn auch Zins- und Kapitaleinkünfte herangezogen.

Sowohl die Kassen der Gesetzlichen Krankenversicherung, als auch private Versicherungsgesellschaften sollen den Bürgerversicherungstarif anbieten können, sofern sie dem Kontrahierungszwang (Pflicht zur Aufnahme jedes Antragstellers) zustimmen und bereit sind, die Beiträge ohne Berücksichtigung des individuellen Gesundheitsrisikos des Antragstellers zu berechnen. Das Entscheidende ist für die Grünen, "die dauerhafte Stabilisierung und Senkung der Lohnnebenkosten auch im Gesundheitssystem. (...) Deshalb diskutieren wir den Vorschlag, ob eine prozentuale Deckelung des Arbeitgeberbeitrags in das Modell der Bürgerversicherung aufgenommen werden soll." Dieser Satz könnte auch in einem Papier der CDU stehen.

Die Bürgerversicherung behält das bisherige Modell der paritätischen Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer scheinbar bei und verbreitert lediglich die Basis der Kasseneinnahmen. Unabhängig davon wie sie konkret ausgestaltet wäre, besteht aus der Sicht der Unternehmer der "Hauptmangel" dieses Modells in der fortbestehenden "Lohnzentrierung". Die Kosten der Gesundheitsversorgung sind weiterhin an den Lohn gebunden oder anders gesagt, die Kapitalseite zahlt den Arbeitgeberbeitrag als ihren Anteil für die Finanzierung der Krankenversicherung der Lohnabhängigen. Diese Kosten will sie nun abwerfen - und zwar schneller als Rot-Grün es mit der Bürgerversicherung zu tun gedenkt.

Die Gesundheitspolitik von Rot-Grün ist seit dem Machtantritt im Jahre 1998 die unendliche Geschichte vom Aufbrechen der paritätischen Finanzierung des Gesundheitssystems. Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen. So zahlen seit Juli dieses Jahres die Lohnabhängigen den Beitragsanteil von 0,9 Prozent des Bruttoeinkommens für die Finanzierung des Zahnersatzes und des Krankengeldes allein, ohne die hälftige Beteiligung der Unternehmen. Rentner müssen schon seit 2004 auf Betriebsrenten und ihre Nebeneinkünfte nicht mehr nur den halben, sondern den vollen Krankenversicherungsbeitrag an ihre GKV bezahlen. Auch die Zuzahlungen für Medikamente und Leistungen wurden unter Rot-Grün erhöht.

Aber auch durch Leistungskürzungen lässt sich die paritätische Finanzierung aushebeln. Brillen beispielsweise bezahlen die Kassen nur noch für Kinder, Jugendliche und für schwer sehbeeinträchtige Menschen. Alle anderen müssen ihre Sehhilfen aus eigener Tasche - ohne Mitfinanzierung durch die Arbeitgeber - zahlen. Anfang der 1980er Jahre betrug das unter Bismarck eingeführte Sterbegeld durchschnittlich noch 4.200 DM. Es wurde wieder und wieder beschnitten und Anfang 2004 unter Rot-Grün endgültig beerdigt. Auch die Einbeziehung der Kapitalerträge und Mieten in die Finanzierung der GKV, ein Vorschlag dem grundsätzlich viele zustimmen, würde Einnahmen generieren, an denen die Unternehmen nicht beteiligt sind.

Auch mit der Praxisgebühr, die den Kassen 2004 eine Ersparnis von 1,1 Mrd. Euro einbrachte, wurden Kosten einseitig den Versicherten aus der Tasche gezogen und die Kapitalseite wurde entlastet.

Zu den Auswirkungen dieser vergleichsweise harmlos wirkenden Gebühr teilt das Ärzteblatt in seiner Januarausgabe 2005 mit: "Eine Umfrage des Wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen (WIdO) hatte im Mai 2004 ergeben, dass nur acht Prozent der Versicherten mit einem Haushaltsnettoeinkommen von mehr als 3.000 Euro monatlich wegen der Praxisgebühr auf einen Arztbesuch verzichteten oder ihn verschoben. In Haushalten mit weniger als 1.000 Euro pro Monat gingen dagegen 19 Prozent der Versicherten seltener zum Arzt." Für die Tatsache, dass die Praxisgebühr zu einem Rückgang der Arztbesuche führte, findet der Sachverständigenrat in seinem Jahresgutachten vom Dezember 2004 die Erklärung: "Es liegt die Vermutung nahe, dass bisher eine gewisse Anzahl von Arztbesuchen nicht notwendig war."

Wie man sehen kann, segelt Rot-Grün unter derselben Flagge wie die anderen Parteien. Die Lohnnebenkosten (respektive Löhne) sollen sinken und die Arbeitgeber entlastet werden, natürlich nur, damit wieder mehr Arbeitsplätze entstehen.

Die Bürgerversicherung wirkt auf den ersten Blick sozialer als die Gesundheitsprämie (Kopfpauschale), aber das erklärte Ziel, die private Wirtschaft zu entlasten, indem die Löhne bzw. Lohnnebenosten gesenkt werden, eint die Konzepte von Rot-Grün und der Union. Die Bürgerversicherung ist durchaus geeignet, die Arbeitgeber zunehmend aus der Mitfinanzierung des Gesundheitswesens zu entlassen. Die Bertelsmann Stiftung sieht deshalb in den Modellen der Bürgerversicherung und der Kopfpauschale ganz richtig nur einen "scheinbaren Gegensatz" und bemerkt, dass die Festschreibung des Arbeitgeberanteils prinzipiell in beiden Konzepten denkbar sei. Dennoch, so ergab eine Umfrage der Stiftung, auf die am 3. August 2005 auf ihrer Website Bezug genommen wurde, sprechen sich 85 Prozent der Bevölkerung für eine solidarische Krankenversicherung aus.

Darin zeigt sich, bei allen Illusionen, die hinter dem Vertrauen in die Bürgerversicherung bzw. das bisherige Kassensystem stehen, dass der Graben nicht zwischen den Modellen der Bürgerversicherung und der Gesundheitsprämie verläuft, sondern zwischen den Vorstellungen der Bevölkerung, die eine gute Gesundheitsversorgung als etwas völlig Normales und als sozial gerecht empfindet, und den Vorstellungen und Zielen der Kapitalseite und seiner Weisungsempfänger in den Parteien, die Löhne und Soziales vor allem als lästige "Kosten" ansehen.

Siehe auch:
Teil 1: "Kostenexplosion" und "demografischer Wandel"
(27. September 2005)
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