"Kostenexplosion" und "demografischer Wandel"
In Deutschland werden seit Jahren Kürzungen im Sozialsystem vorgenommen, doch der Ruf in den Medien nach einer grundlegenden Reform der Sozialsysteme und somit auch der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) wurde nur lauter. Vom dringend erforderlichen "Systemwechsel" ist die Rede, womit vor allem die Abkehr von der paritätischen Finanzierung gemeint ist, der gemeinsamen Finanzierung der Sozialbeiträge durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu gleichen Teilen.
Der Grund für den vehementen Angriff von Wirtschaft, Medien und Berliner Parteien auf die Sozialsysteme liegt im wachsenden Druck der internationalen Konzerne. Nahezu jedes gesellschaftliche Phänomen ist in der Gegenwart auf die eine oder andere Weise mit der Globalisierung der Produktion verbunden. Auch die hierzulande vielbeschworene "Krise der Sozialsysteme" steht mit ihr in direktem Zusammenhang. Die Möglichkeit, die Produktion kurzfristig von einem Land ins andere zu verlagern, hat die Löhne in den Industrie-Ländern in direkte Konkurrenz mit den Löhnen in den Billiglohnländern gesetzt. Nach dieser Logik muss ein Arbeiter in Deutschland heutzutage kostengünstiger arbeiten als ein Arbeiter in Lateinamerika, Afrika, Asien oder sonst wo auf der Welt.
Das Sozialsystem - genau so wie bezahlte Urlaubs-, Feier-, Krankheitstage, etc. - ist vom wirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen nichts weiter als ein Bestandteil des Lohns, daher auch die Bezeichnung "Lohn-Nebenkosten". Jeder Euro der ins Sozialsystem fließt, ist dementsprechend ein Euro Abzug vom Profit.
Ebenso, wie dem Kapital die in China zu zahlenden Löhne bessere Gewinne eintragen, ist ihm auch das dortige Sozialsystem sympathischer. Bis Anfang der achtziger Jahre war die medizinische Versorgung in China kostenlos. Seither wurde das Gesundheitssystem mehrfach "reformiert". Heute zahlt jeder chinesische Arbeiter zwei Prozent seines Lohnes in einen Versicherungsfonds ein, der durch weitere sechs Prozent des Arbeitgebers gespeist wird. Sollte im Falle einer Krankheit die eingezahlte Summe aufgebraucht sein, trägt der Arbeiter die weiteren Kosten allein. Diese Basis-Versicherung gilt für die meisten Arbeiter. Nur in einigen chinesischen Städten wie etwa in Shanghai existieren Modelle, die eine zusätzliche Zuzahlung der Unternehmen vorsehen, um bei Schwersterkrankungen eine 80-prozentige Kostendeckung zu gewährleisten. Praktisch jedoch können die Arbeiter bei kostenintensiven Behandlungen die verbleibenden Restkosten in Höhe von 20 Prozent nicht tragen.
Von der chinesischen Landbevölkerung sind überhaupt nur 10 Prozent versichert. Die Gesundheitsausgaben pro Kopf (insgesamt, also unabhängig ob vom Unternehmer oder privat bezahlt) beliefen sich 1999 in China auf 37 Dollar. Zum Vergleich: In Deutschland liegen sie bei rund 3000 Dollar. Ist es bei solchen "Arbeitskosten" verwunderlich, dass China zu einem Magneten für das Kapital geworden ist?
Auch in Deutschland wird seit Jahren darauf hingearbeitet, für Beschäftigte nur noch eine gesetzliche "Grundsicherung" zu garantieren und den Großteil der Gesundheitsausgaben zu privatisieren. Geradezu beschwörend ziehen sich bereits in den 90er Jahren die Hinweise auf die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform des gesamten Sozialsystems durch die Jahresgutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR), einem in den 60-er Jahren per Gesetz geschaffenem Gremium zur Beratung der Bundesregierung.
Das Gutachten des Sachverständigenrats von 1996
Im Gutachten vom November 1996 zweifelt der SVR, ob das "hohe Niveau der sozialen Sicherung" beibehalten werden kann und ob dies "überhaupt wünschenswert" sei.
Anschließend stellt das Gremium seine Leitvorstellungen zur Reform der sozialen Sicherungssysteme vor.
Die "zentralen Ordnungsprinzipien" des Sozialstaates, so der SVR, seien das Solidarprinzip (Vorrang der kollektiven Vorsorge) und das Subsidiaritätsprinzip (Vorrang der Eigenvorsorge). Diese beiden Prinzipien, heißt es weiter, müssen "... in ein Verhältnis gebracht werden, das unter den veränderten Umfeldbedingungen auf Dauer tragbar ist". Um naheliegende Missverständnisse beim Leser zu vermeiden, wird erklärt: "Völlig unangemessen wäre es, dabei von sozialer Demontage’ oder Aufkündigung des sozialen Konsens’ zu reden. Es geht darum, den Sozialstaat unter stärkerer Betonung des Subsidiaritätsprinzips umzubauen..."
Auf derselben Seite erfährt der Leser: "Noch ist die Vorstellung weit verbreitet, es könnte mit kleineren Korrekturen abgehen und so, dass der einzelne von den Abstrichen wenig spürt. Wir fürchten, dass das eine Illusion ist."
"Ein Programm der sozialen Sicherungssysteme" solle sich an drei "ordnungspolitischen Grundsätzen" orientieren. Es solle stärker das "Prinzip der Äquivalenz von Beitragslast und Versicherungsschutz" zum Tragen kommen. Das "Äquivalenzprinzip" stehe, so der SVR, im Mittelpunkt der Reformüberlegungen. "Die Bürger sollten hierdurch ihre Präferenzen, gemäß ihrer Zahlungsbereitschaft und ihrer Bereitschaft auf Gegenwartskonsum zu verzichten, besser zur Geltung bringen können."
"Äquivalenz von Beitrag und Leistung" bedeutet jedoch nichts anderes, als dass der Versicherungsschutz um so besser ist, je mehr jemand zahlen will bzw. kann. Bezogen auf die Krankenversicherung bedeutet das, die Tür zur Geldbeutelmedizin noch weiter zu öffnen.
"Zweckmäßig wäre es, wenn die Arbeitnehmer als Versicherte die vollen Beiträge aufbringen würden, nach einem einmaligen Ausgleich beim Bruttolohn... Der größte Schritt bei der Verwirklichung der Beitragsäquivalenz müsste bei der Gesetzlichen Krankenversicherung getan werden, weil hier der einzelne Gesundheitsleistungen nach Bedarf in Anspruch nehmen kann, unabhängig von der Höhe der Beitragszahlungen." (Hervorhebung hinzugefügt)
Des weiteren sollen "Eigenverantwortung und Selbstvorsorge" mobilisiert werden. In der Krankenversicherung sei Eigenverantwortlichkeit nur dann erreichbar, wenn in "nennenswertem Umfang" Selbstbeteiligungen der Patienten an den Gesundheitsausgaben vorgesehen werden. Das würde "der Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen verstärkt eine Nutzen-Kosten-Abwägung vorausschalten".
Hinter diesen vielen komplizierten Worten steckt das einfache Programm, dass nur der, der gut zahlen kann, auch eine gute Gesundheitsversorgung bekommen soll. Wer kein Geld hat, der muss sich mit einer Grundabsicherung begnügen.
"Als einen Weg, den Äquivalenzgedanken mit dem der Eigenverantwortlichkeit institutionell zu verzahnen, könnte erwogen werden, den jeweiligen Zweigen der Sozialversicherung die Aufgabe der obligatorischen Grundabsicherung zuzuweisen und es dem einzelnen zu überlassen, über freiwillige Zusatzversicherungen das von ihm angestrebte soziale Leistungsniveau zu erreichen." Etwas weiter heißt es dann, dass es keine objektiven Kriterien dafür gebe, was zu den Grundleistungen gehöre. Klar sei jedoch, dass der " heutige Leistungsumfang der Gesetzlichen Krankenversicherung... nicht tabuisiert werden" könne. (Hervorhebungen hinzugefügt)
Kostenexplosion oder sinkende Einkommen?
Um dies durchzusetzen und die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) bis auf Rudimente zu schleifen, wurden insbesondere zwei "Argumente" in die Welt gesetzt, die die Notwendigkeit der "Reform" unterstreichen sollen: die "Kostenexplosion" im Gesundheitswesen und der "demografische Faktor".
In der GKV sind etwa 88 Prozent der Bevölkerung versichert, die allerdings lediglich rund 50 Prozent der gesamten Gesundheitskosten Deutschlands verursachen. Die "Kostenexplosion", von der häufig zu lesen ist, wird in seriösen Publikationen verneint, wenn nicht nur die Entwicklung der absoluten Kosten gesehen, sondern der Bezug der Gesundheitskosten zum Bruttoinlandsprodukt hergestellt wird. Die Kassenärztliche Vereinigung Berlins (KVB) vermerkt auf ihrer Website:
"Die GKV-Aufwendungen an den Gesundheitsausgaben liegen insgesamt bei rund 50 Prozent. Bezogen auf das BIP schwankte dieser Anteil zwischen 1980 und 1998 von 5,53 Prozent bis 6,18 Prozent und ist seit 1997 auf unter 6 Prozent gefallen. Anders gesagt: Über nunmehr zwei Jahrzehnte ist der Anteil der GKV-Ausgaben am BIP in Deutschland nahezu konstant geblieben."
Im Wochenbericht 7/2003 des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung wird der naheliegende Schluss gezogen:
"Gerade an letzterer Größe (dem Verhältnis zwischen GKV-Ausgaben zum BIP) müsste sich eine Kostenexplosion nachweisen lassen; sie ist für den Zeitraum ab 1975 jedoch nicht erkennbar... Die Auswertung der vorliegenden Daten lässt nicht den Schluss zu, dass es zur Finanzkrise der GKV und zu den Beitragssatzsteigerungen durch eine Kostenexplosion der Gesundheitsausgaben gekommen ist."
Auch im Vergleich mit anderen entwickelten kapitalistischen Staaten sind die Gesamtkosten des deutschen Gesundheitssystems und insbesondere der Anteil der GKV daran nicht auffällig hoch.
Die "Krise" findet sich eher bei den Einnahmen der GKV und der anderen Sozialkassen. Die Einnahmen der Sozialkassen sind an die Löhne, Gehälter und Renten gebunden. Bei gleichbleibendem Beitragssatz und fallenden Lohneinkommen sinken zwangsläufig die Einnahmen der Sozialkassen. In Deutschland wie in ganz Europa ist genau dies geschehen. Die Lohnquote, das Verhältnis der Löhne zum Bruttoinlandsprodukt, sinkt seit mehr als zehn Jahren. Seit 1993 ging sie von 74,7 Prozent auf heute 69 Prozent zurück. Die Ursachen für das Abschmelzen der Lohnbasis liegen vor allem in der Zunahme der Arbeitslosigkeit und im internationalen Lohndruck.
Die registrierte Arbeitslosigkeit in Deutschland lag 1975, zum Ende des Nachkriegsbooms, bei 1.074.000. Im Jahre 2004 lag sie bei rund 4, 4 Millionen. Nach Angaben des Institutes für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung betrug die tatsächliche Arbeitslosigkeit sogar 7,04 Millionen (4.380.000 registrierte Arbeitslose, 1.790.000 in Maßnahmen, 870.000 nicht registrierte Arbeitslose). Die Mindereinnahmen der GKV und der Pflegeversicherung infolge der Arbeitslosigkeit beliefen sich 2003 auf 7,4 Mrd. Euro, wovon auf die GKV etwa 6,6 Mrd. Euro entfielen. In den Monaten November und Dezember 2003 summierten sich allein durch das Streichen von Weihnachts- und Urlaubsgeld die Einnahmeausfälle der GKV auf etwa 400 bis 500 Mio. Euro gegenüber dem vergleichbaren Vorjahreszeitraum.
Aus dieser besorgniserregenden und sich fortsetzenden Entwicklung der Lohnbasis zieht der SVR den Schluss:
"Insgesamt kommt man zu dem Ergebnis, dass die Beitragsgrundlage aller Zweige der Sozialversicherung, namentlich das Lohneinkommen, zunehmend anfällig wird, nicht nur gegenüber konjunkturellen Gegebenheiten, sondern auch gegenüber Veränderungen der allgemeinen Rahmenbedingungen. Die Konsequenz daraus sollte mit Blick auf die Gesetzliche Krankenversicherung und die Soziale Pflegeversicherung die Abkehr von dieser Beitragsgrundlage sein." (Jahresgutachten 2004/2005, Ziffer 350)
Das bisherige System zur Finanzierung der GKV hat die Tücke, dass der vom Kapital erzwungene Trend zur Lohnsenkung eine Gegenreaktion zur Erhöhung der Lohnnebenkosten auslöst. Sehen sich die Sozialkassen gezwungen, auf das Abschmelzen der Lohnbasis und den damit verbundenen Mindereinnahmen mit Beitragssatzerhöhungen zu reagieren, so steigen die Arbeitgeberanteile an den Löhnen und heben den soeben durchgesetzten Trend teilweise wieder auf. Daher die wiederholte Beschwörung der "Beitragssatzstabilität" durch die bürgerlichen Parteien. Im Jahresgutachten 1996/97des SVR wird zwar festgestellt:
"Das Postulat der Beitragssatzstabilität kann... nicht überzeugen. Es gibt kein objektives Kriterium dafür, den richtigen Beitragssatz’ administrativ festzulegen; je nachdem, wie viel den Versicherten die Gesundheitsversorgung wert ist, werden sie bereit sein, auch höhere Beiträge zu bezahlen."
Dennoch empfiehlt der SVR der Politik den "Systemwechsel", weil die Unternehmer ihren Beitragsanteil um jeden Pries senken wollen.
Das andere Schreckgespenst, das geschaffen worden ist, um zu helfen, dem Volk die Notwendigkeit der Reform plausibel zu machen, ist der "demografische Wandel". Doch der demografische Wandel war im vergangenen Jahrhundert gravierender als er in der Zukunft sein wird.
Im Jahr 1900 kamen noch 12,4 Personen zwischen 15 und 65 Jahre auf eine Person ab 65. 1950 waren es noch 6,9 und im Jahr 2000 lediglich noch 4,1. Die prognostizierte weitere Abnahme auf einen Wert von 2,0 in den nächsten fünfzig Jahren erscheint in diesem Kontext kaum noch bedrohlich. Die Produktivitätssteigerungen des 20. Jahrhunderts fingen - trotz zweier Weltkriege - die ungünstige demografische Entwicklung auf. Weshalb sollte das in der Zukunft nicht so sein? Die Menschheit befindet sich im Zeitalter einer technologischen Revolution und die damit zukünftig verbundenen Produktivitätssprünge werden jene des 20. Jahrhunderts zweifellos in den Schatten stellen.
Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung hält Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung von weit über 20 Prozent für das Jahr 2030 für möglich. Bis 2050 könnten die Beiträge sogar auf 30 Prozent steigen. Nehmen wir an, bereits 2030 beliefe sich der Beitragssatz der GKV auf 30 Prozent, der Arbeitgeberbeitrag somit auf 15 Prozent. Die Differenz zwischen dem heutigen Arbeitgeberanteil und dem prognostizierten käme einer Lohnsteigerung von 7,47 Prozent gleich - und dies im Zeitraum der nächsten 25 (bis 45) Jahre!
Die Konzepte der Parteien zur Gesundheitsreform
Im Wesentlichen gibt es zwei Konzepte zur Reform der Gesundheitssystems. Die Bürgerversicherung, die im März 2002 in das Grundsatzprogramm der Grünen aufgenommen wurde und von der SPD mitgetragen wird, sowie das Modell der Union, die Gesundheitsprämie (Kopfpauschale).
Gesundheitsprämie
Auf ihrem Parteitag im Dezember 2003 beschloss die CDU die "Kopfpauschale" zur Reform der Krankenversicherung. Jeder erwachsene Versicherte sollte danach einen gleich hohen Beitrag von 180 Euro plus einen Vorsorgebeitrag von 20 Euro für eine kapitalgedeckte Altersrückstellung zahlen. Die kostenlose Mitversicherung nichtarbeitender Familienmitglieder entfiel in diesem Modell. Der Arbeitgeberbeitrag sollte nach den Vorstellungen der Partei bei 6,5 Prozent eingefroren, an die Lohnempfänger direkt ausgezahlt werden und bei ihnen der Lohnsteuer unterliegen. Mit den daraus erwarteten 16-17 Mrd. Euro zusätzlichen Steuereinnahmen gedenkt man einen Teil des Sozialausgleichs (Stützung der Beiträge für sozial Schwache, Kinder usw.) der Krankenversicherung mitzufinanzieren.
Welche Bedeutung wird jedoch der ausgezahlte Arbeitgeberanteil in der Praxis bei zukünftig neu abzuschließenden Arbeitsverträgen haben? Wird er mehr als eine theoretische Größe sein, eine Position, die man bei der Ausfertigung eines Arbeitsvertrag als separaten Posten schriftlich anführen muss? Oder erhöhen die Unternehmen fortan bei neuen Arbeitsverträgen die Löhne, um den vormaligen Arbeitgeberanteil nicht zu vergessen?
Die Gesamtprämienbelastung eines Haushaltes soll im CDU-Modell 15 Prozent des Haushaltseinkommens nicht überschreiten. Für Geringverdiener ist andernfalls ein Zuschuss aus Steuermitteln vorgesehen. Ein Beispiel soll das praktische Resultat dieser neuen Finanzierung verdeutlichen.
Im alten System der paritätischen Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), bei einem Beitragssatz der Krankenkasse in Höhe von 14 Prozent, zahlte ein Lohnabhängiger mit einem Bruttoeinkommen von 1.500 Euro den Beitragsanteil von 7 Prozent (105 Euro) selbst und weitere 105 Euro überwies der Arbeitgeber an die Krankenkasse. Im Modell der Kopfpauschale beläuft sich der zu zahlende Monatsbeitrag des Arbeiters auf 200 Euro. Anspruch auf Sozialausgleich besteht nicht, da 15 Prozent des Bruttoeinkommens (225 Euro) nicht überschritten wurden. Ein früher beitragsfrei mitversicherter Partner (Familienversicherung) ist im System der Kopfpauschale nicht beitragsfrei mitversichert. Bis zum Betrag von 225 Euro wird das Einkommen in unserem Beispiel deshalb weiter belastet, dann erst greift der Sozialausgleich.
Angela Merkel signalisierte inzwischen, dass sie auch die Erlöse aus der geplanten Mehrwertsteuererhöhung in erster Linie zur "Senkung der Lohnnebenkosten" als Zuschuss einsetzen will. Die Mehrwertsteuererhöhung führt dazu, dass vor allem die Lohnabhängigen den "sozialen Ausgleich" zahlen - zusätzlich zu ihrer Pauschale. "Somit kommt es, dass die Empfänger der Zuschusszahlungen den empfangenen sozialen Ausgleich in größerem Maße mitfinanzieren", bemerkt der Sachverständigenrat in seinem Gutachten des Jahres 2004, in dem er selbst die Mehrwertsteuererhöhung als die beste Finanzierungsquelle entdeckt.
Die Kopfpauschale könnte als eine abgespeckte Grundsicherung, verknüpft mit Selbstbeteiligungen der Patienten umgesetzt werden. Die Beiträge zur Kopfpauschale würden kaum steigen, weil wegen des reduzierten Leistungsumfanges und höherer Zuzahlungen/ Eigenbeteiligungen die Gesundheitsausgaben der GKV kaum steigen dürften. Bleiben die Gesundheitsausgaben jedoch stabil, so verändert sich auch die Höhe der Kopfpauschale nicht. Die Bedeutung für die zu zahlenden staatlichen Zuschüsse, die erst dann anfallen, wenn 15 Prozent des Haushaltseinkommens durch die Beiträge der Kopfpauschale überschritten werden, liegt auf der Hand.
Hat ein Versicherter über die Grundabsicherung hinaus die "Eigenverantwortung", seinen Versicherungsschutz zu ergänzen, so muss er in seinem Geldbeutel nachsehen, ob sich dort noch etwas "Äquivalenz" findet. In den unteren Einkommensschichten wird sich dort nichts finden und bei den höheren Einkommen ist die Zusatzversicherung Privatsache. Der soziale Ausgleich greift bei den Zusatzpolicen nicht.
Dieses Modell gibt es bereits in der Schweiz, dem ersten Land der Welt, das die Finanzierung des Gesundheitswesens auf die Kopfpauschale umstellte. Der Beitrag für die Kopfpauschale liegt dort bei derzeit cirka 230 Euro in den Städten und ist auf dem Land etwas geringer. Hinzu kommt eine hohe Eigenbeteiligung. Den Beitrag für Kinder zahlt der Staat nicht. Jeder dritte Haushalt benötigt staatliche Zuschüsse, um die Beiträge zu zahlen. Es gibt diese Basisversorgung, in die alle einzahlen müssen, und es gibt Zusatzversicherungen, zu denen beispielsweise auch die für den Zahnersatz gehört.
Das bisherige paritätische System der GKV bewirkte eine solidarische Mitfinanzierung unterer Einkommensschichten. Durch die soziale Umverteilung von den etwas besser Verdienenden zu Geringverdienern, zu beitragsfrei mitversicherten Familienangehörigen, zur Gruppe der Teilzeitbeschäftigten, Arbeitslosen und Rentner, war bisher gesichert, dass jeder gesetzlich Versicherte - unabhängig vom Geldbeutel - den Leistungsumfang der Gesetzlichen Kassen nutzen konnte. Anzumerken ist hierbei, dass jeder Arbeitnehmer ab einem monatlichen Bruttoeinkommen von derzeit 3.525 Euro, der so genannten Beitragsbemessungsgrenze, in die private Krankenversicherung wechseln kann. So können sich gerade die wirklich gut Verdienenden aus der solidarischen Krankenversicherung entziehen.
Doch selbst dieser eingeschränkte solidarische Ausgleich ist der Wirtschaft und den Berliner Parteien ein Dorn im Auge. Im Grunde finanzierten die Unternehmen durch höhere Sozialbeiträge der bei ihnen angestellten Lohnabhängigen mit höheren Einkommen die Sozialkosten unterer Einkommensschichten mit. Reduziert man die Höhe der erforderlichen Umverteilung, indem man die Zahlungsschwachen in die Grundsicherung entlässt und den dann noch erforderlichen sozialen Ausgleich (Zuschuss zur Gesundheitsprämie) zukünftig mittels der Mehrwertsteuer erhebt, so sind die Unternehmen weitgehend entlastet.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Sachverständigenrat die Kopfpauschale der CDU befürwortet, die seinen eigenen Vorstellungen einer Bürgerpauschale (auf die ich hier nicht eingehen möchte) nahe steht.
Die Vorstellungen der CDU zur Kopfpauschale lösten im Jahr 2004 einen monatelangen Hick-Hack in der Union aus. Die CDU stellte klar, dass ihr Vorschlag nicht diskutabel sei. Die CSU-Spitzen forderten eine abgesenkte Kopfpauschale von etwa 110 Euro. Der restliche Finanzbedarf sollte wie bisher paritätisch und einkommensabhängig gedeckt werden, nicht jedoch durch Steuern. Stoiber und sein Gesundheitsexperte Seehofer fassten ihr Konzept in der schön klingenden Formel "Kleines Einkommen - kleiner Beitrag, höheres Einkommen -höherer Beitrag" zusammen. In den Medien wurde der Streit in der Union als "Richtungsstreit" gewertet und in Zusammenhang mit der Festlegung auf den zukünftigen Kanzlerkandidaten gesehen.
Die CSU betonte während des Zwistes stets den gemeinsamen Nenner mit der großen Schwester - dass man von der Lohnbezogenheit der Sozialbeiträge abgehen wolle. Mitte November hatten Merkel und Stoiber das Kompromissmodell ausgehandelt. Für alle GKV-Versicherten war demnach eine Kopfpauschale von 109 Euro geplant. Für Versicherte, die dafür mehr als sieben Prozent des Einkommens ausgeben müssten, wurde der Sozialausgleich vorgesehen. Auch die Kinderbeiträge sollten aus einem öffentlichen Fonds bezahlt werden. Der Sozialausgleich sollte aus der Einkommensteuer finanziert werden.
Im Wahlkampf 2005 wurde die niedersächsische Sozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) von Angela Merkel in das Kompetenzteam berufen. Im Falle des Wahlsieges der Union sollte sie als Ministerin für das Ressort Gesundheit und Soziales zuständig werden. Von der Leyen gilt als die Mutter der Kopfpauschale und verteidigte diese im vergangenen Jahr im Sinne Merkels auch gegen Kritiker aus den eigenen Reihen. Dass sie zum Kompetenzteam gehörte, zeigt, in welche Richtung Angela Merkel die Gesundheitsprämie - trotz des Kompromisses mit der CSU - auszugestalten gedenkt. "In der gesetzlichen Krankenversicherung brauchen wir eine vollständige Abkoppelung der Gesundheitskosten von den Löhnen. Da geht mir der Konsens zwischen CDU und CSU nicht weit genug", sagte von der Leyen am 29. November 2004 dem Spiegel.
Im Juli 2005 zitierte der Tagesspiegel die Ministerin in spe mit den Worten: "Im Jahr 2005 in einer globalisierten Welt können wir den Sozialstaat nur erhalten, wenn wir die Sozialsysteme neu finanzieren." Das Blatt kommentierte, von der Leyen sei entschlossen, die Gesundheitsprämie auch "gegen Widerstände in der Bevölkerung und der Gesundheitslobby" durchzusetzen.
Bürgerversicherung
Im System der Bürgerversicherung von Rot-Grün sollen neben Lohnabhängigen auch Selbstständige, Beamte und Freiberufler in das bestehende Krankenversicherungssystem einzahlen. Zur Berechnung des Beitrags werden neben dem Lohn auch Zins- und Kapitaleinkünfte herangezogen.
Sowohl die Kassen der Gesetzlichen Krankenversicherung, als auch private Versicherungsgesellschaften sollen den Bürgerversicherungstarif anbieten können, sofern sie dem Kontrahierungszwang (Pflicht zur Aufnahme jedes Antragstellers) zustimmen und bereit sind, die Beiträge ohne Berücksichtigung des individuellen Gesundheitsrisikos des Antragstellers zu berechnen. Das Entscheidende ist für die Grünen, "die dauerhafte Stabilisierung und Senkung der Lohnnebenkosten auch im Gesundheitssystem. (...) Deshalb diskutieren wir den Vorschlag, ob eine prozentuale Deckelung des Arbeitgeberbeitrags in das Modell der Bürgerversicherung aufgenommen werden soll." Dieser Satz könnte auch in einem Papier der CDU stehen.
Die Bürgerversicherung behält das bisherige Modell der paritätischen Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer scheinbar bei und verbreitert lediglich die Basis der Kasseneinnahmen. Unabhängig davon wie sie konkret ausgestaltet wäre, besteht aus der Sicht der Unternehmer der "Hauptmangel" dieses Modells in der fortbestehenden "Lohnzentrierung". Die Kosten der Gesundheitsversorgung sind weiterhin an den Lohn gebunden oder anders gesagt, die Kapitalseite zahlt den Arbeitgeberbeitrag als ihren Anteil für die Finanzierung der Krankenversicherung der Lohnabhängigen. Diese Kosten will sie nun abwerfen - und zwar schneller als Rot-Grün es mit der Bürgerversicherung zu tun gedenkt.
Die Gesundheitspolitik von Rot-Grün ist seit dem Machtantritt im Jahre 1998 die unendliche Geschichte vom Aufbrechen der paritätischen Finanzierung des Gesundheitssystems. Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen. So zahlen seit Juli dieses Jahres die Lohnabhängigen den Beitragsanteil von 0,9 Prozent des Bruttoeinkommens für die Finanzierung des Zahnersatzes und des Krankengeldes allein, ohne die hälftige Beteiligung der Unternehmen. Rentner müssen schon seit 2004 auf Betriebsrenten und ihre Nebeneinkünfte nicht mehr nur den halben, sondern den vollen Krankenversicherungsbeitrag an ihre GKV bezahlen. Auch die Zuzahlungen für Medikamente und Leistungen wurden unter Rot-Grün erhöht.
Aber auch durch Leistungskürzungen lässt sich die paritätische Finanzierung aushebeln. Brillen beispielsweise bezahlen die Kassen nur noch für Kinder, Jugendliche und für schwer sehbeeinträchtige Menschen. Alle anderen müssen ihre Sehhilfen aus eigener Tasche - ohne Mitfinanzierung durch die Arbeitgeber - zahlen. Anfang der 1980er Jahre betrug das unter Bismarck eingeführte Sterbegeld durchschnittlich noch 4.200 DM. Es wurde wieder und wieder beschnitten und Anfang 2004 unter Rot-Grün endgültig beerdigt. Auch die Einbeziehung der Kapitalerträge und Mieten in die Finanzierung der GKV, ein Vorschlag dem grundsätzlich viele zustimmen, würde Einnahmen generieren, an denen die Unternehmen nicht beteiligt sind.
Auch mit der Praxisgebühr, die den Kassen 2004 eine Ersparnis von 1,1 Mrd. Euro einbrachte, wurden Kosten einseitig den Versicherten aus der Tasche gezogen und die Kapitalseite wurde entlastet.
Zu den Auswirkungen dieser vergleichsweise harmlos wirkenden Gebühr teilt das Ärzteblatt in seiner Januarausgabe 2005 mit: "Eine Umfrage des Wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen (WIdO) hatte im Mai 2004 ergeben, dass nur acht Prozent der Versicherten mit einem Haushaltsnettoeinkommen von mehr als 3.000 Euro monatlich wegen der Praxisgebühr auf einen Arztbesuch verzichteten oder ihn verschoben. In Haushalten mit weniger als 1.000 Euro pro Monat gingen dagegen 19 Prozent der Versicherten seltener zum Arzt." Für die Tatsache, dass die Praxisgebühr zu einem Rückgang der Arztbesuche führte, findet der Sachverständigenrat in seinem Jahresgutachten vom Dezember 2004 die Erklärung: "Es liegt die Vermutung nahe, dass bisher eine gewisse Anzahl von Arztbesuchen nicht notwendig war."
Wie man sehen kann, segelt Rot-Grün unter derselben Flagge wie die anderen Parteien. Die Lohnnebenkosten (respektive Löhne) sollen sinken und die Arbeitgeber entlastet werden, natürlich nur, damit wieder mehr Arbeitsplätze entstehen.
Die Bürgerversicherung wirkt auf den ersten Blick sozialer als die Gesundheitsprämie (Kopfpauschale), aber das erklärte Ziel, die private Wirtschaft zu entlasten, indem die Löhne bzw. Lohnnebenosten gesenkt werden, eint die Konzepte von Rot-Grün und der Union. Die Bürgerversicherung ist durchaus geeignet, die Arbeitgeber zunehmend aus der Mitfinanzierung des Gesundheitswesens zu entlassen. Die Bertelsmann Stiftung sieht deshalb in den Modellen der Bürgerversicherung und der Kopfpauschale ganz richtig nur einen "scheinbaren Gegensatz" und bemerkt, dass die Festschreibung des Arbeitgeberanteils prinzipiell in beiden Konzepten denkbar sei. Dennoch, so ergab eine Umfrage der Stiftung, auf die am 3. August 2005 auf ihrer Website Bezug genommen wurde, sprechen sich 85 Prozent der Bevölkerung für eine solidarische Krankenversicherung aus.
Darin zeigt sich, bei allen Illusionen, die hinter dem Vertrauen in die Bürgerversicherung bzw. das bisherige Kassensystem stehen, dass der Graben nicht zwischen den Modellen der Bürgerversicherung und der Gesundheitsprämie verläuft, sondern zwischen den Vorstellungen der Bevölkerung, die eine gute Gesundheitsversorgung als etwas völlig Normales und als sozial gerecht empfindet, und den Vorstellungen und Zielen der Kapitalseite und seiner Weisungsempfänger in den Parteien, die Löhne und Soziales vor allem als lästige "Kosten" ansehen.