Im Folgenden der zweite Teil einer Artikelserie über die Anhörungen in Washington zum 11. September 2001, die sich mit den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon befassten.
Die jüngsten Zeugenaussagen vor der Kommission zum 11. September lieferten zahlreiche Beispiele für die unerklärliche Gleichgültigkeit, Untätigkeit oder direkte Fahrlässigkeit der Bush-Regierung angesichts der Vorwarnungen über einen bevorstehenden katastrophalen Terroranschlag.
Die New York Times fasste die Beweisaufnahme mit den Worten zusammen: "Die Vorwarnungen im Sommer (2001) waren eindringlicher und spezifischer als allgemein angenommen. Hinweise auf die Bedrohung kamen im Weißen Haus wiederholt auf höchster Ebene zur Sprache. In mehr als vierzig Lagebesprechungen wurde Präsident Bush von George J. Tenet, dem CIA-Direktor, über Bedrohungen durch Al-Qaida informiert."
Diese Vorwarnungen trafen im Frühjahr und Sommer 2001 ein, aber noch am 6. September teilte Verteidigungsminister Donald Rumsfeld Senator Carl Levin schriftlich mit, er werde Bush raten, eine Umwidmung von Geldern des Pentagon von der Raketenabwehr zur Terrorabwehr durch sein Veto zu verhindern.
Nur vier Tage später, am 10. September 2001, wies Justizminister John Ashcroft ein ähnliches Ansinnen des FBI zurück. Der amtierende FBI-Direktor Thomas Pickard hatte darauf aufmerksam gemacht, dass das Budget des Justizministeriums für 2003 keine Erhöhung der Ausgaben für Terrorabwehr gegenüber 2002 vorsah, und von Ashcroft die Zustimmung zu einer Erhöhung um 58 Millionen Dollar verlangt. Pickard erhielt Ashcrofts Antwort am 12. September 2001, am Tag nach den Anschlägen auf das WTC und das Pentagon.
Diese offensichtliche Gleichgültigkeit passt in das Verhaltensmuster, das Ashcroft seit seinem Amtsantritt den Terrorwarnungen gegenüber an den Tag legte. Im vorläufigen Bericht der Kommission zum 11. September wird der FBI-Terrorabwehrchef Dale Watson mit der Zeugenaussage zitiert, "vom Sessel gefallen", als er im Mai 2001 erfuhr, dass Ashcroft in einem Memo an die Mitarbeiter des Ministerium die Terrorabwehr nicht einmal als Priorität aufgeführt hatte.
Am 9. Mai 2001 sprach Ashcroft vor einem Kongressausschuss über Terrorabwehr und sagte, der Schutz der amerikanischen Bevölkerung vor Terroranschlägen habe für sein Ministerium höchste Priorität. Am nächsten Tag gab sein Ministerium Richtlinien für das Budget heraus, in denen illegaler Handel und Waffengewalt als Spitzenprioritäten aufgeführt wurden, die Terrorabwehr aber keine Erwähnung fand.
Dazu von der Kommission zum 11. September befragt, gab Ashcroft an, diese Richtlinie sei auf der Grundlage eines strategischen Plans von Janet Reno, seiner Amtsvorgängerin in der Clinton-Regierung, erstellt worden. Renos Dokument, so räumte er ein, habe die Terrorabwehr in verschiedener Hinsicht berücksichtigt. Er habe dies in seiner eigenen Version aber herausgenommen. Dieser Vorgang enthüllt Ashcrofts sonderbare Doppeldeutigkeit in dieser Sache, auf die wir noch zurückkommen werden.
Das FBI und die Warnung vor einer Entführung
Zwei der wichtigsten Hinweise auf bevorstehende Terrorangriffe wurden im FBI unterdrückt. Es sind die heute berühmten Memos der Agenten aus Phönix und Minneapolis. Im ersten warnte Kenneth Williams, ein Antiterrorspezialist aus Arizona, dass Terrorverdächtige an der örtlichen Flugschule Unterricht nehmen wollten. Williams befürchtete vor allem, ein Al-Qaida-Unterstützer könnte eine Bombe in ein Flugzeug einschleusen, wie schon beim Anschlag von Lockerbie geschehen. Wäre sein Vorschlag, Flugschulen systematisch nach islamisch-fundamentalistischen Studenten zu überprüfen, befolgt worden, so hätte man schnell einige der zukünftigen Entführer des 11. September identifiziert.
Das Memo von Minneapolis wurde nach der Verhaftung von Zacarias Moussaoui geschrieben, einem islamischen Fundamentalisten, der in Eagan, Minnesota, versucht hatte, Flugunterricht zu nehmen. FBI-Beamte nahmen ihn wegen eines Verstoßes gegen die Einwanderungsbestimmungen in Gewahrsam. Fluglehrer berichteten, dass sie das Ansinnen des Mannes verdächtig fanden: Er wollte lernen, wie man eine Boeing 747 fliegt, obwohl er sich noch nicht einmal mit einer kleinen Maschine auskannte. Er zahlte in bar und hatte einen leicht reizbaren, aggressiven Charakter. Dieser kam auch in mehreren Wutausbrüchen zum Ausdruck, zu denen er sich nach dem 11. September im Gerichtssaal bei der Verlesung der Anklageschrift hinreißen ließ.
Im Juni 2001 trat Thomas Pickard vom Amt des FBI-Direktors zurück. Er gab nun zu Protokoll, dass er von keinem dieser Memos irgend etwas gehört habe, ehe die Jets in das World Trade Center und das Pentagon einschlugen. Außerdem habe er erst jetzt davon erfahren, dass ein FBI-Informant in San Diego, Kalifornien, Verbindung zu zwei der zukünftigen Flugzeugentführer hatte. Öffentlich zugänglichen Berichten zufolge war der Informant mit den beiden Entführern, Khalid al Nihdhar und Nawaf al Hazmi, befreundet und gewährte ihnen sogar mehrere Monate lang Unterkunft, als sie sich ab dem Frühjahr 2000 in San Diego aufhielten. In dieser Zeit waren die beiden Männer sowohl im Telefonbuch als auch in den Fahndungslisten der CIA-Terrorabwehr eingetragen.
Diese beiden Männer reisten im Januar 2000 in die USA ein, nachdem sie in Malaysia an einem strategischen Treffen von Terroristen teilgenommen hatten, das die örtliche Geheimpolizei im Auftrag der CIA beobachtete. Beamte der CIA gaben unmittelbar nach den Anschlägen des 11. September an, sie hätten das FBI irgendwann im Jahre 2000 darüber informiert, dass Mihdar und al Hazmi sich in den USA aufhielten. Beamte der CIA wie auch des FBI sagten aber vor der Kommission zum 11. September aus, das FBI habe diese Information erst am 27. August 2001, zwei Wochen vor den Terrorangriffen, erhalten.
Die Bedeutung der Episoden von San Diego wurde in der Zeugenaussage des ehemaligen FBI-Direktors Louis Freeh deutlich, der von Timothy Roemer, einem ehemaligen demokratischen Kongressabgeordneten, in der Kommission befragt wurde. Freeh sagte: "Wie sie sich denken können, war die Anwesenheit der beiden Entführer in San Diego und ihre Verbindung zu unserem Informanten eine sehr günstige Möglichkeit, Geheimdienstinformationen zu bekommen, die im günstigsten Falle zur Verhinderung der Anschläge hätten führen können. Es wäre zu diesem Zeitpunkt für das FBI sehr nützlich gewesen, die Namen dieser beiden Personen zu kennen... wäre alles so gelaufen, wie es hätte laufen sollen, und hätte man den Informanten und alle anderen Informanten in der Reichweite des FBI damit beauftragt, mehr über die beiden Personen herauszufinden. Dann hätte alles ganz anders kommen können."
Aus den Zeugenaussagen vor der Kommission zum 11. September wurde deutlich, dass die CIA die Namen von Mihdhar oder al Hazmi nicht auf ihrer TIPOFF-Liste führte, die allen anderen Bundes- und Einwanderungsbehörden des Terrorismus verdächtigte Personen anzeigt. Für diese Unterlassung wurde bisher keine Erklärung gegeben. Als die CIA das FBI endlich informiert hatte, wurde die Information an das Büro des FBI in New York weitergeleitet, dem Ziel, das al Hamzi und al Mihdhar in ihren Visagesuchen angegeben hatten. Das New Yorker Büro stellte fest, dass die beiden Männer nie dort angekommen waren, und gab die Namen am 11. September 2001 zur weiteren Untersuchung nach Los Angeles weiter. Der FBI-Agent, der den Informanten in San Diego führte, erklärte vor der Kommission: "Ich bin sicher, wir hätten sie [Mihdhar und al Hazmi] aufspüren können, und zwar innerhalb weniger Tage", wenn er nur gewusst hätte, dass man die beiden zum Verhör suchte.
Pickard gegen Ashcroft
Ähnlich wie Dale Watson äußerte auch Pickard Bedenken über Ashcrofts Einstellung zum Terrorismus, weil in dessen Memorandum vom 10. Mai die Terrorabwehr fehlte. Seine Erklärung vor der Kommission zum 11. September war noch eindrucksvoller als diejenige Watsons. Nachdem er den Justizminister im Sommer 2001 zweimal über Terrorgefahren unterrichtet hatte, habe Ashcroft ihm gesagt, er "wolle davon nichts mehr hören".
Pickard wiederholte seine Anschuldigung im Verlauf der folgenden Unterhaltung mit dem Kommissionsmitglied Richard Ben Veniste, einem ehemaligen Watergate-Sonderermittler.
Ben Veniste: "Sie hatten etwa sieben oder acht Zusammenkünfte mit dem Justizminister?"
Pickard: "Ungefähr so viele. Die exakte Anzahl ist mir bekannt, aber ich habe sie im Moment nicht im Kopf."
Ben Veniste: "Und laut Ihrer Erklärung, die unsere Kommissionsmitglieder von Ihnen erhielten, sagten Sie, Sie hätten jedes Treffen mit einer Diskussion über Terrorabwehr oder Spionageabwehr begonnen. Zur selben Zeit stieg das Gefahrenpotential an und war sehr hoch. Dale Watson kam zu Ihnen und sagte, die CIA sei sehr besorgt, dass es zu einem Terrorangriff kommen könne. Sie sagten, dass Sie dem Justizminister dies wiederholt bei den Treffen berichtet hätten. Ist das so richtig ?"
Pickard: "Ich berichtete ihm darüber mindestens zweimal."
Ben Veniste: "Und Sie sagten der Kommission in dieser Erklärung, dass John Ashcroft Ihnen gesagt habe, er wolle davon nichts mehr hören. Ist das so richtig?"
Pickard: "Das ist richtig."
Ashcroft wies Pickards Darstellung im folgenden Gespräch entschieden zurück, das er mit einem ihm freundlich gesonnenen Kommissionsmitglied, dem Republikaner Jim Thompson, dem vormaligen Gouverneur von Illinois führte.
Thompson: "Der amtierende Direktor Pickard sagte heute aus, dass er Sie zweimal wegen Al-Qaida und Osama Bin Laden informiert habe, und dass ihm, als er es ein weiteres Mal tun wollte, von Ihnen gesagt worden sei, sie wollten Derartiges nicht mehr von ihm hören. Könnten Sie uns das erklären?"
Ashcroft: "Zunächst einmal hatten der amtierende Direktor Pickard und ich mehr als zwei Treffen. Wir trafen uns regelmäßig. Niemals sagte ich zu ihm, ich wolle nichts mehr über Terrorismus hören. Ich nehme die Sicherheit des amerikanischen Volkes sehr ernst und war sehr an den Fragen des Terrorismus interessiert, insbesondere befragte ich ihn über die Bedrohung für Amerikaner und speziell die Bedrohung in unserem Land."
Bemerkenswert ist, dass es von Seiten der Kommissionsmitglieder keinen Versuch gab, zu klären, wessen Darstellung nun stimmt. Beide sagten nur wenige Stunden nacheinander unter Eid aus und äußersten sich vor laufenden Fernsehkameras diametral gegensätzlich. Einer von beiden- entweder der Chef der CIA oder der Justizminister der USA - oder gar beide haben in einer zentralen Frage zu den Ereignissen im Vorfeld des 11. September gelogen. Diese Tatsache wurde von den Medien kaum zur Kenntnis genommen.
Der ehemalige FBI-Chef Pickard, der im Herbst 2001 pensioniert wurde, hat kein erkennbares Motiv zu lügen. Der Justizminister dagegen hat gute Gründe, die Wahrheit zu verdrehen. Und dies scheint nicht der einzige Fall zu sein, in dem Ashcroft gelogen hat.
Beide, Ashcroft und Pickard, sagten aus, dass sie nicht gewusst hätten, dass Präsident Bush einen Bericht über mögliche Terroranschläge von Al-Qaida in den USA angefordert habe. Sie seien auch nicht dabei gewesen, als der Tagesbericht vom 6. August an den Präsidenten gegeben wurde, dessen Überschrift lautete: "Bin Laden zum Angriff in den USA entschlossen". In diesem Tagesbericht heißt es, dass das FBI an siebzig verschiedenen Untersuchungen über Al-Qaida arbeite, aber weder Ashcroft noch Pickard haben eine Erklärung dafür, wie die CIA zu dieser Zahl kam.
Ashcroft erklärte, er habe vor dem 11. September keine Kenntnis der PDBs, der Tagesberichte für den Präsidenten gehabt. Aber dieser Versuch, sich als weitgehend außerhalb der nationalen Sicherheitskreise darzustellen, wurde durch die Fragen eines Kommissionsmitglied der Demokraten zunichte gemacht, als Ashcroft von Jamie Gorelick, der ehemaligen Stellvertreterin des Justizministers in der Clinton-Regierung, vernommen wurde.
Gorelick: "Nun, ich habe folgende Frage: Sie hatten nicht Zugang zum PDB, aber Sie erhielten den SEIB (senior executive intelligence brief - Nachrichtendienstliche Informationen für hohe Regierungsmitglieder) der für die nachfolgende Regierungsebene erstellt wurde. Ist das richtig ? Sie haben ihn täglich erhalten?"
Ashcroft: "Der SEIB..."
Gorelick: "Der SEIB."
Ashcroft: "...war mir zugänglich."
Gorelick: "Am 7. August 2001 enthielt ein SEIB vieles von dem - wenn er auch nicht identisch war - vieles von dem, was am 6. August im Tagesbericht für den Präsidenten stand. Ich möchte Sie fragen, ob Sie sich erinnern, ein Dokument mit dem Titel Terrorismus: Bin Laden zum Angriff in den USA entschlossen' im SEIB gesehen zu haben."
Ashcroft: "Ich war informiert, und auf Themen von Interesse wurde ich von Zeit zu Zeit durch mein Personal hingewiesen."
Provokation des Justizministers
Ashcroft versuchte mehrmals, vor der Kommission den Eindruck zu erwecken, er habe kaum oder keine Verantwortung für das Versagen der Bush-Regierung bei der Abwehr der Terroranschläge vom 11. September gehabt. Seine defensivste - und deshalb entlarvendste - Aussage machte er jedoch, als er einen offensichtlich unberechtigten Angriff gegen Gorelick führte.
Er begann mit folgenden Worten: "Hätte ich gewusst, dass im Jahr 2001 ein Terrorangriff auf die USA droht, hätte ich alle Waffen dagegen eingesetzt. Die Kämpfer des Justizministeriums, unsere Agenten und Ermittler, wären dann aller unvermeidlichen Kritik zum Trotz mobilisiert worden. Zu dem kompromisslosen Vorgehen, wie wir es nach dem 11. September entfaltet haben, wäre es dann schon vor den Terrorangriffen gekommen."
Wie wir bereits gesehen haben, ist diese Behauptung, von nichts gewusst zu haben, eine unverschämte Lüge. Ashcroft wurde wiederholt gewarnt, dass ein Terrorangriff bevorstehe, und zwar sowohl in Gesprächen mit Pickard, als auch durch Dokumente der CIA und des NSC.
Dann folgte Ashcrofts politische Provokation. Er fuhr fort: "Die einfache Tatsache hinsichtlich des 11. September lautet: Wir wussten nicht, dass ein Terrorangriff kommen würde, weil unsere Regierung seit fast einem Jahrzehnt die Augen vor ihren Feinden verschloss. Unsere Agenten waren voneinander isoliert, weil die Regierung selbst Mauern zwischen ihnen errichtet hatte. Ihre Hände waren durch Restriktionen der Regierung gebunden, und ihnen fehlte die grundlegendste Kommunikationstechnik."
Ashcroft führte diese Behauptung weiter aus, die sich auf die sogenannte Mauer zwischen der Beschaffung von Geheimdienstinformationen und der Verbrechensbekämpfung bezieht. Diese "Mauer" ist ein Nebenprodukt der Kongressermittlungen über die Inlandsspionage der 1970er Jahre, über die schmutzigen Tricks, politischen Schikanen und über andere kriminelle Praktiken des FBI und der CIA. Diese "Mauer" machte er verantwortlich dafür, dass das FBI nicht von der CIA über Al Hazmi und al Mihkdhar informiert wurde und das FBI der Festnahme Moussaouis nicht weiter nachging, und überhaupt für den allgemeinen Mangel an Wachsamkeit vor dem 11. September.
In der Woche vor seiner Anhörung vor der Kommission gab Ashcroft im Justizministerium ein Memorandum aus dem Jahre 1995 frei, das den Titel "Anweisungen zur Abgrenzung bestimmter Untersuchungen der Spionageabwehr von kriminalpolizeilichen Untersuchungen" trug. Ashcroft präsentierte dieses Memorandum der Kommission und erklärte: "Dieses Memorandum legte die Grundlage für die Trennungsmauer zwischen den kriminalpolizeilichen und den geheimdienstlichen Ermittlungen, und diese Mauer wurde nach dem Anschlag von 1993 auf das World Trade Center errichtet, dem bis damals größten internationalen Terrorangriff auf amerikanischem Boden und dem größten bis zu den Anschlägen vom 11. September 2001. Obwohl Sie die lähmende Wirkung dieser Mauer kennen, kann ich mir nicht vorstellen, dass die Kommission etwas über dieses Memorandum wusste. Deshalb habe ich es für Sie und die Öffentlichkeit freigegeben, damit Sie es nachprüfen können. Die gänzliche Offenlegung zwingt mich, Ihnen mitzuteilen, dass der Autor dieses Memorandums ein Mitglied dieser Kommission ist." Dieser Seitenhieb bezog sich auf Gorelick.
Es steht außer Zweifel, dass dieses Ablenkungsmanöver Ashcrofts ein wohlüberlegter Schachzug war, der zwei Zwecke verfolgte: Zum einen ging es ihm darum, potentielle Kritiker der Bush-Regierung einzuschüchtern und in ein schlechtes Licht zu rücken. Zum andern sollte die Aufmerksamkeit von der aktuellen Vertuschung der Rolle der Geheimdienste hinsichtlich des 11. September abgelenkt werden.
Das Kommissionsmitglied Slade Gorton, ein ehemaliger Senator der Republikaner im Staat Washington, verteidigte Gorelick, als er Ashcroft befragte. Er unterstrich die Tatsache, dass Ashcrofts eigener Stellvertreter, Larry Thompson, im August 2001 die genannten Richtlinien nochmals bestätigt hatte. Dabei kam es zu folgendem Dialog.
Gorton: "Ihr zweiter Punkt ist eine schwere Kritik an den 1995 erlassenen Richtlinien, die Ihrer Meinung nach drakonische Kommunikationshindernisse zwischen der Strafverfolgung und den Geheimdiensten, die sogenannte Mauer, errichtet hätten. Ich kann jedoch nicht erkennen, dass Sie diese Richtlinien in den acht Monaten vor dem 11. September verändert hätten. Ich habe hier ein Memorandum Larry Thompsons vom 6. August, in dem man auf der fünften Zeile lesen kann: Die Regelungen von 1995 bleiben in Kraft.' Wenn diese Mauer so ein Hemmnis war, warum haben Sie sie dann im Verlauf der acht Monate nicht abgebaut?"
Ashcroft: "Das Memorandum des stellvertretenden Justizminister Larry Thompsons vom 6. August ermöglichte erheblich mehr Informationsaustausch, da es verfügte, dass Personen, die mit geheimdienstlichen Ermittlungen beschäftigt sind und Kenntnis von Bundesverbrechen erlangen, diese sofort an die Kriminalbehörden weitergeben. Das war ein Schritt in die Richtung, die Mauer zu durchbrechen. Es war ein Schritt zum Abbau der Mauer, um eine verbesserte Kommunikation zu gewährleisten."
Gorton: "Aber Moussaoui wurde nach dem 6. August aufgegriffen, und im FBI wurde die Entscheidung getroffen, eine Durchsuchungserlaubnis für seinen Computer zu verweigern. Also können die Änderungen nicht sehr bedeutsam gewesen sein."
Ashcroft: "Ich habe Ihre Frage nicht verstanden."
Gorton: "Nun, als Sie die Richtlinien von 1995 kritisierten, sagten Sie, dass nach der Festnahme Moussaouis durch das FBI einige Agenten Argwohn schöpften, weil er ein so starkes Interesse an ziviler Luftfahrt gezeigt hatte. Sie ersuchten um eine Genehmigung bei der Polizeibehörde, um seinen Computer zu durchsuchen. Diese wurde jedoch vom FBI nicht erteilt, weil die Beamten davor zurückschreckten, die Mauer zu durchbrechen. Dies geschah jedoch nach dem 6. August, der, wie Sie sagten, so bedeutsame Veränderungen brachte."
Viel wichtiger ist jedoch, dass Ashcrofts Provokation - und auch die Medienberichte über den 11. September 2001 - auf einer groben Fehleinschätzung der Bedingungen beruhen, unter denen die Geheimdienste vor den Al-Qaida-Anschlägen in den USA arbeiteten. Ashcrofts Amtsvorgängerin, Janet Reno, erklärte vor der Kommission zum 11. September: "Es gibt einfach keine Mauern oder Restriktionen, die verhindern würden, dass die meisten Antiterrorinformationen allgemein zugänglich sind. Es gibt im Ganzen keine rechtlichen Einschränkungen für Mitarbeiter unserer Geheimdienste, Informationen untereinander auszutauschen.
Was den Austausch zwischen geheimdienstlichen und kriminalpolizeilichen Ermittlern betrifft, so konnten Informationen, die aus der Überwachung einer Person oder dem Bericht eines vertraulichen Informanten stammten, legal weitergegeben werden.
Es gab zwar Einschränkungen bei Informationen, die durch polizeiliche Ermittler im Zusammenhang mit Schwurgerichtsuntersuchungen oder mittels besonderer Abhörmaßnahmen gewonnen wurden, aber in der Praxis stellten sie kein ernsthaftes Hindernis dar, und nur sehr wenige wichtige Informationen konnten nicht ausgetauscht werden."
Die weitgehend mystische "Mauer" ist nicht der Grund dafür, dass FBI und CIA keine ernsthafte Anstrengung unternahmen, um den Terrorangriffen vom 11. September zuvorzukommen. Die Quelle ihrer Inaktivität - oder bewussten Komplizenschaft - muss im Bemühen der Bush-Regierung gesucht werden, einen Vorwand für die Besetzung des Nahen und Mittleren Ostens und Zentralasiens zu finden.