Im Namen der Reform steht heute in praktisch allen Industrieländern das staatliche Rentensystem unter Beschuss. Millionen Menschen drohen im Alter Armut und soziale Isolation, so dass sich an der Rentenfrage heftige Konflikte entzünden werden.
Woher kommt es, dass die staatliche Rentenversicherung - die erste Sozialversicherung, die vor mehr als 100 Jahren in Westeuropa eingeführt wurde und bis heute die wichtigste Komponente des Sozialstaats darstellt - zu Beginn des 21. Jahrhunderts angeblich unhaltbar teuer geworden ist?
Auf der Titelseite des bekannten britischen Wirtschaftsjournals The Economist erschien kürzlich die Abbildung einer jungen Frau, die Edvard Munchs Gemälde "Der Schrei" nachempfunden war. Dazu eine Schlagzeile, wonach die Lösung für das Rentenproblem in Europa darin bestehe, dass die Menschen länger arbeiten und mehr Kinder bekommen. Der Economist steht natürlich keineswegs allein da, wenn er das Problem der Renten - und zum Teil auch dessen Lösung - auf demographische Faktoren zurückführt.
So schrieb der liberale Kolumnist Will Hutton in der Tageszeitung Oberserver : "Der Rückgang der Geburtenrate bedeutet, dass immer weniger junge Arbeitnehmer für die Gewinne und Steuern sorgen müssen, aus denen höhere Renten und Steuernachlässe [für ältere Menschen] bestritten werden. Ist es fair, dass sie mehr Steuern zahlen und auf Lohnerhöhungen verzichten müssen, nur weil sie in einer alternden Gesellschaft leben, die vor 20 oder 30 Jahren nicht genügend ansparte, um heute ihre Rentner zu finanzieren? In allen Aspekten dieser Debatte spielen Fragen der Gerechtigkeit und der Moral eine große Rolle."
Diese Diagnose des Rentenproblems ist von Grund auf falsch. Obwohl die Erhebungen empirischer Daten oftmals von vornherein so angelegt sind, dass sie die Verlagerung der "Last" der Altersvorsorge auf jeden Einzelnen begründen sollen, wird das demographische Argument durch eine genaue Auswertung dieser Daten widerlegt.
Natürlich ist die Lebenserwartung gestiegen, und natürlich hat die Anzahl der Rentner in den Industrieländern zugenommen. Doch dies ist an sich kein Problem, denn es wurde durch einen Rückgang der Geburtenrate ausgeglichen, so dass die Abhängigkeitsquote, d. h. die Anzahl der abhängigen Personen (im Alter von unter 16 und über 59 Jahren) pro Arbeitnehmer, weitgehend gleich geblieben, wenn nicht gesunken ist.
Wie aus Studien der Vereinten Nationen hervorgeht, ist die Abhängigkeitsquote in der Zeitspanne von 1950 bis 1998 zurückgegangen (United Nations' World Population Prospects: The 1998 Revision). In den Industrieländern sank die Abhängigkeitsquote von 64 auf 61, in den weniger entwickelten Ländern stieg sie von 88 auf 90. In denjenigen Ländern, in denen es ein staatliches Rentensystem gibt, stellt die Altersstruktur der Bevölkerung folglich kein Problem dar. Zwar tritt dort eine bedeutende Minderheit erst im Alter von über 20 Jahren in das Erwerbsleben ein, doch da gleichzeitig viele erst in einem weitaus höheren Alter als 59 in Rente gehen, ändert sich das grundlegende Verhältnis nicht.
Wenn die Altersversorgung also in einer Krise stecken sollte, dann können die Ursachen nicht in demographischen Faktoren liegen.
Im Jahr 1996 veröffentlichte die OECD einen Bericht (Ageing in OECD Countries), der eigentlich Rentenkürzungen begründen sollte und dennoch zu dem Schluss kam, dass die staatlichen Renten unter der Voraussetzung konstanter politischer Rahmenbedingungen im Jahr 2000 einen geringeren Anteil des Bruttoinlandprodukts (BIP) ausmachen würden als im Jahr 1995. Selbst im Jahr 2010, so der Bericht, würden sie in vielen westeuropäischen Ländern noch einen geringeren Anteil des BIP ausmachen als 1995. Erst im Jahr 2020 würden in nahezu sämtlichen westeuropäischen Ländern die staatlichen Renten im Verhältnis zum BIP höher ausfallen als 1995.
Die Studie der Vereinten Nationen trifft auf der Grundlage der Fortführung gegenwärtiger Entwicklungstendenzen einige Prognosen über die Bevölkerungsstruktur. Demnach wird die Abhängigkeitsquote in den Industrieländern bis zum Jahr 2050 um 50 Prozent steigen. Dies wird jedoch durch jährliche Produktivitätssteigerungen mehr als ausgeglichen - selbst unter der Annahme, dass diese in den größten westlichen Industrieländern im Durchschnitt nur 2 Prozent betragen werden. Das Produktivitätswachstum könnte eine kürzere Lebensarbeitszeit und/oder längere Lebenserwartung mit Leichtigkeit ausgleichen.
Hinzu kommt, dass in den 1960er, 1970er und frühen 1980er Jahren, als noch weniger Frauen berufstätig waren, in vielen Ländern verhältnismäßig mehr Mittel in die Rentenversicherung flossen als heute. Und das heutige Niveau wurde aufrechterhalten, obwohl die Arbeitslosigkeit einen historischen Höchststand erreicht hat. Wenn das Problem wirklich darin bestünde, dass es im Verhältnis zu den Versorgungsbedürftigen zu wenige Arbeitnehmer gibt, dann wäre die einfachste Lösung, mehr arbeitslose Menschen in versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse zu bringen oder verstärkt Einwanderer anzuziehen. Doch in Wirklichkeit herrscht kein Mangel, sondern ein Überangebot an Arbeitskräften, und die Industrieländer schotten sich gegenüber Zuwanderern ab.
Wenn die Ursache des "Rentenproblems" also weder in demographischen Faktoren noch in einem ungenügenden Produktivitätswachstum liegt, dann muss man sie im Wirtschaftssystem selbst suchen.
Wie alle sozialstaatlichen Leistungen stellen die Renten in letzter Hinsicht einen Abzug von dem Mehrwert dar, den die Arbeiterklasse schafft und den sich das Kapital in Form von Profiten aneignet. Jede Erhöhung des Renteneinstiegsalters und jede Senkung der Rentenbezüge - bestehen diese nun in einer Steuer oder in einem Arbeitgeberanteil zu einer staatlichen oder betrieblichen Altersvorsorge - ist ein Versuch der Kapitalistenklasse, ihren Gewinn bzw. ihren Ertrag auf das eingesetzte Kapital zu steigern.
Während der Nachkriegsperiode, als die Profitraten stiegen oder zumindest nicht sanken, konnten die Regierungen, egal welcher politischen Couleur, die Sozialleistungen ausbauen, d. h. auch das Renteneintrittsalter senken und die Altersbezüge erhöhen. Doch da in den modernen Industriesektoren der Kapitaleinsatz absolut gesehen in astronomische Höhen gestiegen ist, sank tendenziell die Profitrate im Verhältnis zur Höhe der Investitionen.
Die Unternehmen versuchten dieser Tendenz entgegenzuwirken, indem sie die Belegschaften drastisch reduzierten, die Löhne drückten, die Arbeitsbedingungen verschlechterten, die Produktivität steigerten und ihre Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen versuchten. Sie verlangten von den Regierungen, die Besteuerung der Unternehmen zu senken und die Arbeitgeberbeiträge zu den Sozialversicherungskassen abzubauen, damit sie ihren Aktionären konstante Dividenden bieten konnten. Sie forderten eine Senkung ihrer eigenen, privaten Einkommenssteuer auf Kosten der einfachen Bevölkerung, und prompt wurde der Spitzensteuersatz gesenkt. Die Milliarden, die dem Staat auf diese Weise an Einnahmen verloren gingen, holte er sich zum Teil durch eine regressive Besteuerung von Waren und Dienstleistungen des Grundbedarfs zurück, welche die ärmsten Familien am härtesten trifft. Die Forderung nach einer Absenkung der unteren Einkommenssteuersätze läuft darauf hinaus, dass der Staat die von Unternehmen gezahlten Niedriglöhne subventionieren soll.
Die rücksichtslose Oberschicht ist entschlossen, sich selbst von jeder Steuerlast zu befreien und die soziale Vorsorge vollständig auf den einzelnen Arbeitnehmer abzuwälzen. Die Renten und andere Zweige der Sozialversicherung, das Gesundheitswesen, die Bildung und das Transportwesen sollen zu Waren werden, die zu Gewinnzwecken produziert und von den Arbeitnehmern gekauft werden. Aus diesem Grund wiederholen die Politiker, die Vorsitzenden der Unternehmerverbände und die Ökonomen in jedem Land gebetsmühlenartig, dass das gegenwärtige Rentenniveau unhaltbar sei, fordern die Heraufsetzung des Rentenalters und den Abbau staatlicher Rentenleistungen. Alles andere, so behaupten sie, stelle eine unzumutbare Belastung der jungen Arbeitnehmer dar. Dies ist die klassische Technik des Teile und herrsche, mit der eine Generation gegen die andere ausgespielt werden soll.
Die Regierungen werben generell für eine private Altersvorsorge in Form von Versicherungsverträgen oder Wertpapieranlagen. Dabei berufen sie sich in demagogischer Weise auf die Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen, um die Auffassung zu untergraben, dass eine angemessene Altersversorgung ein gesellschaftliches Recht, und keine individuelle Bringschuld darstellt.
Das gesamte wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben wird den Interessen einer kleinen Finanzelite untergeordnet. Das ist der wahre Grund für die allgemein betriebene "Rentenreform" und Privatisierung. Der Angriff auf das Rentensystem in ganz Europa ist Bestandteil einer internationalen Offensive der herrschenden Eliten, in deren Folge die arbeitende Bevölkerung für das wirtschaftliche Versagen des Profitsystems bezahlen soll. Doch das kann man natürlich nicht offen zugeben. Daher das ständige verlogene Gerede über die angeblich ungünstige demographische Entwicklung, für die es in Wirklichkeit keine stichhaltigen Beweise gibt. Eine ehrliche Debatte auf der Grundlage einer umfassenden Information der Öffentlichkeit wird nicht zugelassen.
Die Finanzelite konnte den Abbau der Renten und anderer Sozialversicherungsleistungen deshalb so weit treiben, weil die alten Parteien, Gewerkschaften und anderen Arbeiterorganisationen ihre früheren reformistischen Programme widerrufen haben und sich der neoliberalen Politik des "freien Marktes" verschreiben. In ausnahmslos jedem Land betätigen sich die Parteien, die einst mit der Einführung sozialer Reformen identifiziert wurden, mittlerweile als deren wichtigste Zerstörer. Entweder legen sie selbst die Axt an die Renten, oder sie rühren in der Opposition keinen Finger, um die Regierung daran zu hindern.
Der Grund für dieses Versagen der alten Organisationen liegt nicht einfach in der falschen Politik oder Rückgratlosigkeit einzelner Führungsfiguren. Es ist Ausdruck des historischen Scheiterns des Reformismus, der das Lohnsystem und die gesellschaftlichen Beziehungen des Kapitalismus nicht in Frage stellt.
Ein Blick auf die Geschichte des vorigen Jahrhunderts zeigt, dass alle sozialen Errungenschaften Nebenprodukte großer politischer und sozialer Kämpfe der Arbeiterklasse waren, die entweder von Sozialisten geleitet oder durch eine Rebellion gegen bestehende opportunistische Führungen durchgesetzt wurden. Rosa Luxemburg schrieb dazu vor 100 Jahren in Sozialreform oder Revolution : "Die gesetzliche Reformarbeit hat eben in sich keine eigene, von der Revolution unabhängige Triebkraft, sie bewegt sich in jeder Geschichtsperiode nur auf der Linie und so lange, wie in ihr der ihr durch die letzte Umwälzung gegebene Fußtritt nachwirkt..." (1)
Mit den Sozialreformen, die sie in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zugestand, reagierte die Bourgeoisie erstens auf die sozialistische Revolution von 1917 in Russland und zweitens auf die Gefahr einer Revolution, die von den weltweiten Kämpfen der Arbeiterklasse und unterdrückten Massen in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre ausging.
Der Erfolg, mit dem die herrschende Klasse ihre Offensive in den letzten zwanzig Jahren vorantrieb, hängt direkt mit dem Fehlen einer politisch bewussten Bewegung der Arbeiterklasse zusammen. Die sozialistischen Überzeugungen, die nach der russischen Revolution große Teile der Arbeiterschaft beflügelten, wurden nach und nach kompromittiert und zerstört. Dafür sorgten der Stalinismus, der Reformismus, die Gewerkschaften und ihre politischen Anhängsel durch ihre Angriffe auf die eigentlichen Ideale des Sozialismus und seine zentrale Ausrichtung, den Internationalismus.
Das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard in einem Ruhestandsalter, in dem man noch bei relativ guter Gesundheit ist, kann nicht durch eine Rückkehr zum "goldenen Zeitalter" des paritätisch finanzierten Nachkriegs-Rentensystems gewährleistet werden. Es verlangt den Aufbau einer politischen Bewegung der internationalen Arbeiterklasse, die gestützt auf ein sozialistisches Programm die Abschaffung eines Wirtschaftssystems anstrebt, in dem eine winzige Minderheit auf Kosten der großen Mehrheit existiert und das sich nicht nach den Bedürfnissen der Menschen, sondern nach dem Profit richtet.
(1) Rosa Luxemburg, "Sozialreform oder Revolution", Gesammelte Werke Bd. 1/1, Berlin 1990, S. 428.