Nach dem Willen der britischen Regierung soll die EU auf lange Sicht "flüchtlingsfrei" werden. Pläne des britischen Innenministeriums, die zurzeit in der EU-Kommission und auf Ministerebene mit den EU Partnern beraten werden, sehen vor, dass Flüchtlinge, die in der EU Schutz suchen, zukünftig in "heimatnahe" Flüchtlingsreservate abgeschoben werden. Damit nicht genug, soll die EU zukünftig auch ermächtigt werden, Fluchtursachen vor Ort und präventiv durch militärisches Eingreifen zu bekämpfen.
Anfang Februar dieses Jahres veröffentlichte der britische Guardian erstmals Tony Blairs "neue Vision für Flüchtlinge", so der anfängliche, zynische Arbeitstitel. Mitte März wurde die "Vision" in einem Rundbrief an die EU-Partner konkretisiert. Unter dem Titel "Neuer internationaler Ansatz für Asylverfahren und Schutz" werden dort für die EU kurzfristige Maßnahmen vorgeschlagen sowie eine langfristige Perspektive entwickelt, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen.
Blairs "neue Vision" lehnt sich dabei stark an das australische Asylsystem an. Flüchtlinge, die an den australischen Küsten stranden oder bereits auf See aufgegriffen werden, werden in Asylzentren auf die Insel Nauru und nach Papua Neuguinea außerhalb des australischen Hoheitsgebietes verbracht. Dort wird dann über den Asylantrag entschieden, so dass nur noch anerkannte Asylbewerber nach Australien gelangen können.
Der britische Plan geht aber noch über die in Australien erprobte Praxis hinaus. Um Flüchtlinge möglichst "effektiv" vom EU-Territorium fern zu halten, ist vorgesehen, neben kurzfristig aufzubauenden Asylbearbeitungszentren auch noch weltweit "Schutzzonen" einzurichten, um Flüchtlinge möglichst "heimatnah" unterzubringen.
Die Asylbearbeitungszentren, sogenannte "transit processing centres", sollen entlang der Hauptflüchtlingsrouten in Europa entstehen - aber außerhalb der EU. Als Standorte angedacht sind hier Albanien, wo Großbritannien bereits Ende des Jahres ein erstes Asyllager einrichten will, die Ukraine, Russland und neuerdings auch Kroatien. Asylsuchende, die es schaffen, das Territorium der EU zu erreichen, sollen umgehend interniert und möglichst schnell in diese Asylsammellager abgeschoben werden. Dort wird dann das Asylverfahren abgewickelt, wobei die EU die Zuständigkeit in die Hände der Internationalen Migrationsorganisation (IOM) legen soll.
Getragen von mittlerweile knapp 100 Mitgliedsstaaten hat die IOM ihren Sitz in Genf zwar nahe dem UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR, arbeitet aber unter einem ganz anderen Ansatz. Während das UNHCR als Garant des internationalen Flüchtlingsschutzes humanitären Gedanken verpflichtet sein soll, wird die IOM von ökonomischen Überlegungen geleitet und dient wesentlich den Interessen der reichen Industriestaaten. Mit dem Aufbau einer weltweiten Kontrolle von Fluchtwanderungen beschäftigt, ist die IOM dafür bekannt, sich eher um Rückführungen und Abschiebungen zu kümmern, als auf Belange und Bedürfnisse von Flüchtlingen einzugehen.
Anerkannte Asylbewerber sollen schließlich nach einem Quotensystem auf die einzelnen EU-Staaten aufgeteilt werden, während den Flüchtlingen, denen Asyl verweigert wird, die sofortige Abschiebung in die Heimatländer droht. Sollte dies nicht möglich sein, da eine Abschiebung das Leben der Flüchtlinge bedrohen würde, so wird dann die langfristige Perspektive greifen.
Danach soll ein regionales Flüchtlingsmanagement entwickelt werden, das aus zwei Komponenten besteht. Einerseits sollen regionale Schutzzonen ("regional protection areas") errichtet werden, die alle Hauptherkunftsregionen von Flüchtlingen abdecken, und andererseits sollen vor Ort durch interventionistische Maßnahmen Fluchtursachen offensiv und präventiv bekämpft werden.
Die einzurichtenden Flüchtlingsreservate werden nach Vorschlägen der britischen Regierung in Marokko und Nordsomalia für Afrika, in der Türkei, dem Iran oder dem Irak für Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und im Balkan oder in Russland für Flüchtlinge aus Osteuropa und Fernost entstehen. Das dadurch entstehende globale Netz von Reservaten soll zwar von der EU finanziert werden, die lokale Aufsicht und Verwaltung soll aber dem UNHCR sowie der IOM obliegen. Unter die Obhut der Flüchtlingsreservate fallen nun sowohl Flüchtlinge, die bereits EU-Boden betreten haben und dorthin deportiert werden, als auch aufgegriffene illegale Immigranten und direkt in den Reservaten um Schutz nachsuchende Menschen, die aus ihrer angrenzenden Heimat geflohen sind. Und eben die Flüchtlinge aus den Asylbearbeitungszentren, die bisher nicht abgeschoben werden konnten.
Geboten wird diesen Menschen in den Reservaten nur eine absolute Notversorgung. Dass dabei nach der Methode "je billiger desto besser" verfahren wird, daran lässt das Blair-Papier keinen Zweifel. In der dem Konzept voran stehenden Problemanalyse wird eifersüchtig darauf verwiesen, dass das UNHCR mit gerade einmal 50 US-Dollar pro Flüchtling im Jahr auskommt, während Großbritannien für jeden Asylbewerber 10.000 US-Dollar aufbringen muss. Zudem sollen die Flüchtlingsreservate nicht zu Magneten für die in unmittelbarer Umgebung der Reservate wohnenden Menschen werden. Ganz im Gegenteil soll gerade die Unterbringung in den Lagern abschreckend auf potenzielle Flüchtlinge wirken.
Der der britischen Labour-Partei nahe stehende Think-Tank Demos ging in einer Machbarkeitsstudie sogar noch weiter und forderte, dass Flüchtlinge für die Unterbringung in den Sammellagern selbst aufkommen sollten, sei es durch Bezahlung, durch Verschuldung oder über Arbeit in den Lagern. Die Autoren der Studie - Theo Veenkamp, ehemaliger Leiter der niederländischen Asylbehörde und jetziger Strategieberater im niederländischen Justizministerium, und Tom Bentley, Demos -Direktor und ehemaliger Berater des britischen Innenministers David Blunkett - schreiben, dass dadurch "eine wirksame Botschaft an potenzielle Migranten über die zu erwartende Unterstützung, die sie erhalten, wenn sie ihre Heimat verlassen, gerichtet wird".
Abgerundet wird das Konzept durch eine umfangreiche militärische Sicherung der Flüchtlingsreservate, die hauptsächlich in Krisengebieten eingerichtet werden sollen, um Ab- und Zugänge effektiv kontrollieren zu können. Flüchtlinge sollen zwar die Möglichkeit erhalten, die Lager jederzeit verlassen zu können, dadurch aber das Recht auf weiteren Schutz einbüßen.
Stacheldrahtzäune, militärische Posten, materielle, medizinische und psychosoziale Notversorgung plus Arbeitseinsatz: Die Areale, die in dem Konzept als Schutzzonen verkauft werden sollen, würden eher Konzentrationslagern ähneln.
Flüchtlinge sollen militärische Interventionen legitimieren
Dabei soll der Aufenthalt in den Flüchtlingsreservaten aber von vornherein zeitlich begrenzt werden. Sechs Monate soll abgewartet werden, ob sich die Situation im Herkunftsland nicht derart stabilisiert, dass eine gefahrlose Rückkehr möglich wird. Erst danach soll über einen Asylantrag entschieden werden.
Damit es aber gar nicht erst zum Asylverfahren kommt, soll es der internationalen Gemeinschaft vorbehalten bleiben, in den Herkunftsstaaten der Flüchtlinge selbst einzugreifen. Wörtlich heißt es in einem Bericht der britischen Regierung von Anfang Februar:
"Unser Augenmerk sollte darauf liegen, dass Fluchtwanderungen zeitlich begrenzt bleiben... Die internationale Gemeinschaft muss sich dafür einsetzen, Konflikte zu lösen und Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, und sich am Wiederaufbau nach einem Konflikt beteiligen, um dadurch eine dauerhafte Rückkehr von Flüchtlingen zu ermöglichen. Solche Interventionen werden zwar nicht durch internationales Recht gedeckt und sind hochgradig kontrovers, aber nichtsdestotrotz sind Flüchtlingsströme in der Vergangenheit bereits benutzt worden, um Interventionen zu rechtfertigen wie zum Beispiel im Kosovo... Als ein letztes Mittel muss auch eine militärische Intervention zur Verfügung stehen."
Um eine eigene Interessenpolitik weltweit durchzusetzen, sollen also demnächst Flüchtlinge herhalten. Im Kosovo 1999/2000 hat die NATO das schon zusammen mit der EU durchexerziert. Flüchtlinge wurden "heimatnah" im verarmten Albanien und Mazedonien in Lagern untergebracht, um eine schnelle Rückkehr zu gewährleisten. Was damals ad hoc durchgesetzt wurde, soll jetzt zum Normalfall werden. Die Blair-Regierung beruft sich dabei auf die Verantwortlichkeit der internationalen Gemeinschaft zur Intervention überall dort, wo ein Staat den Verpflichtungen des Schutzes seiner Staatsangehörigen nicht nachkommt. Die Intervention erfolgt präventiv und den Wiederaufbau übernehmen Firmen aus den intervenierenden Staaten, ganz so wie es die USA im Irak vorgemacht haben.
"Der Flüchtlingsschutz reduziert sich nach diesen Vorstellungen", so Pro Asyl in einer Stellungnahme, "auf die Pflicht, Flüchtlinge möglichst im Herkunftsland zu schützen‘. Krieg soll hierfür ein taugliches Mittel sein."
Da sich die britische Regierung bewusst ist, dass einige ihrer europäischen Partner sich nicht offen zum Interventionismus bekennen mögen, sucht sie zugleich Partner außerhalb der EU. In einer, so wörtlich, "coalition of willing states" sollen zunächst in Modellprojekten zusammen mit den USA, Kanada und Australien ein bis zwei Flüchtlingsreservate geschaffen werden. Letztlich sollen sich alle reichen Industrienationen zusammenschließen und ein globales Asylsystem aufbauen.
EU und UNHCR prüfen Umsetzung der britische Vorschläge
Innerhalb der EU werden die Vorschläge durch die Beschlüsse des EU-Gipfels im finnischen Tampere vom Oktober 1999 gedeckt, bei dem der "heimatnahe" Schutz von Flüchtlingen als Ziel festgelegt wurde.
In einer ersten Beratung der britischen Vorschläge bei einem informellen Treffen der EU-Innen- und Justizminister Ende März in Griechenland konnte man sich gleichwohl noch nicht auf den britischen Vorstoß als Zielvorgabe für eine zukünftige EU-Asylpolitik einigen.
Die italienische Regierung begrüßte die Vorschläge von Blair und Blunkett enthusiastisch und ließ verlauten, "je weniger nach Europa kommen, desto besser". Einer Meinung, der sich die Minister Spaniens, Belgiens, Dänemarks, Österreichs und der Niederlande anschlossen. Andere zeigten sich zurückhaltender. Finnland und Schweden wollen den Plan nur unterstützen, wenn er auch vom UNHCR gebilligt wird. Frankreich und Griechenland verweigerten jeden Kommentar, so dass es dem deutschen Innenminister Otto Schily vorbehalten blieb, grundsätzliche Einwände zu äußern.
Nicht, weil Schily Vorbehalte von Flüchtlingsorganisationen teilen würde oder rechtliche Bedenken hätte, sondern alleine, weil der britische Plan nicht garantieren könne, dass weniger Asylbewerber nach Deutschland kommen. Statt der Einrichtung von Flüchtlingsreservaten setzt der deutsche Minister auf eine konsequente Umsetzung des Dublin II-Abkommens, das die nationale Zuständigkeit für die Bearbeitung von Asylverfahren regelt.
Und das hat seine Gründe: Nach dem britischen Plan würden die anerkannten Asylbewerber aus den Flüchtlingsreservaten und Bearbeitungszentren nach einem Quotensystem auf die einzelnen EU-Staaten aufgeteilt. Deutschland, das notorisch wenig Asylbewerber anerkennt und gemessen an der Bevölkerung im EU-Vergleich bei der Anzahl der Asylbewerber mittlerweile ins hintere Drittel gerutscht ist, müsste dann wohl wieder mehr Flüchtlinge aufnehmen. Doch genau das will die rot-grüne Bundesregierung unter allen Umständen verhindern. Eine konsequente Umsetzung des Dublin II-Abkommens zusammen mit einer lückenlosen Grenzsicherung würde dagegen nach dem Beitritt der osteuropäischen Staaten zur EU dazu führen, dass Deutschland praktisch für keine Asylbewerber mehr seine Zuständigkeit erklären müsste.
Ungeachtet der nationalen Interessen der effektivsten Flüchtlingsabwehr ist der für Justiz und Inneres zuständige EU-Kommissar Antonio Vitorino voran geschritten und hat einen Bericht erstellen lassen, der von der EU-Kommission am 26. März angenommen wurde. Darin heißt es, dass "es einen handfesten Bedarf gibt, neue Wege zu erkunden, um den in Tampere beschlossenen Schritt-für-Schritt Ansatz zu vervollständigen", und es wird vorgeschlagen, "ernsthaft über die Möglichkeiten nachzudenken, die sich durch die Bearbeitung von Asylverfahren außerhalb der Europäischen Union ergeben".
Bis zum nächsten Treffen der Innen- und Justizminister am 5./6.Juni ist eine eingehende Prüfung des britischen Planes durch die EU-Kommission vorgesehen.
Das UNHCR, dem bei der Umsetzung des Konzeptes eine zentrale Rolle zugedacht ist, sieht dagegen momentan noch einigen Diskussionsbedarf. Dabei reduziert sich die Kritik aber auf die Frage, ob die Asylbearbeitungszentren innerhalb oder außerhalb der EU angesiedelt werden sollen und ob die Flüchtlingsreservate alle Asylsuchende aufnehmen sollen oder nur "offensichtlich unbegründete" Fälle. Gegen die Einrichtung von zentralen Asyllagern und Flüchtlingsreservaten selbst hat das UNHCR nichts einzuwenden, und die Übernahme der Verwaltung der Lager durch das UNHCR wird von diesem einhellig begrüßt.
Einst gegründet, um den individuellen Flüchtlingsschutz international zu garantieren, lässt sich das UNHCR zum Lageraufseher degradieren.
Demontage des internationalen Flüchtlingsschutzes
Der in der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) festgelegte Schutz von Flüchtlingen wird mit dem britischen Vorstoß vollständig zur Disposition gestellt. Die 1951 in Kraft getretene GFK war auch eine Reaktion auf die gescheiterte Flüchtlingskonferenz 1938 in Evian. Die damals teilnehmenden Staaten wollten sich nicht bereit erklären, Flüchtlinge des Naziregimes aufzunehmen, und besiegelten damit das Schicksal Tausender Menschen.
Mit der GFK wurde der Flüchtlingsschutz von einem nationalen Gnadenakt zu einem individuellen und international gültigen Rechtsanspruch umgewandelt. Artikel 3 der GFK verbietet den unterzeichnenden Staaten, Flüchtlinge in Staaten mit ungeklärter Sicherheitslage abzuschieben. Genau dies beinhaltet aber der nun in der EU beratene Aufbau von "heimatnahen" Flüchtlingsreservaten.
Das Blair-Konzept verdreht dabei den Anspruch, in einem Land um Asyl nachzusuchen, dahingehend, dass dies nicht bedeutet, das Asylverfahren auch in genau diesem Land durchzuführen.
Die sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die die GFK flankiert, ergebende Verpflichtung, Flüchtlinge vor Folter und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung zu schützen, wird ebenfalls den eigenen Interessen angepasst. Um Flüchtlinge auch tatsächlich in die ihnen zugedachten Reservate abschieben zu können, geht es letztlich nur noch darum, Flüchtlinge in den Schutzzonen und Bearbeitungszentren selbst vor Folter zu schützen. Da die Flüchtlingsreservate in den Hauptherkunftsregionen entstehen sollen, wird dadurch der Möglichkeit, auch in Staaten, in denen Flüchtlingen Folter und Tod drohen, gnadenlos abzuschieben, Tür und Tor geöffnet.
Um dabei rechtlich stets auf der sicheren Seite zu stehen, hält es das Blair-Konzept für sinnvoll, die Ausweitung der Abschiebungsmöglichkeiten "in einer abgeänderten Version der Genfer Konvention aufzunehmen".
Was mit dem Bruch des Völkerrechts durch den brutalen Angriffskrieg gegen den Irak begonnen wurde, findet in der von der britischen Regierung vorgeschlagenen Neuordnung des globalen Asylsystems seine logische und konsequente Fortsetzung. Angriffskriege zur weltweiten Durchsetzung eigener imperialistischer Interessen schaffen zwangsläufig Massen von Flüchtlingen. Um sich mit diesen selbst produzierten Opfern nicht zu belasten, wird der internationale Flüchtlingsschutz abgeschafft. Sollte der britische Plan umgesetzt werden, wäre das das Ende des Asylrechts und ein weiterer drastischer Einschnitt in die demokratischen Rechte.