Im Zusammenhang mit der weltweiten Wirtschaftskrise, der geplanten Erweiterung der Europäischen Union und der Debatte über die künftigen Strukturen der EU sehen sich die europäischen Regierungen gezwungen, ihre politischen Grundpositionen neu zu bestimmen. Dabei treten tiefe wirtschaftliche und politische Sollbruchstellen zutage, hinter denen die Auswirkungen der US-Außenpolitik auf den europäischen Einigungsprozess stehen. Mit seiner Wende zu Unilateralismus und Militarismus verschärft Washington die zwischenstaatlichen Spannungen auf dem europäischen Kontinent - im Gegensatz zur Zeit des Kalten Krieges, in der Amerika die europäische Einigung unterstützt hatte.
Der jüngste, heftige Streit über Agrarsubventionen zwischen dem französischen Präsidenten Jacques Chirac und dem britischen Premierminister Tony Blair zeigte, dass die internen Auseinandersetzungen der EU untrennbar mit den Beziehungen zwischen Europa und Amerika zusammenhängen.
Einer der größten Stolpersteine für die Ostererweiterung der EU ist die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP), ein Subventionsprogramm für die Landwirtschaft, das ungefähr 40 Milliarden Euro pro Jahr verschlingt (ca. 40 Prozent des EU-Haushalts). Entsprechende Subventionen für die unzähligen Kleinbauern in einigen Ländern Osteuropas wären außerordentlich teuer. In den Verhandlungen über die Anwendung der GAP in Osteuropa kam es immer wieder zu Konflikten zwischen den Ländern, die von der GAP profitieren (Frankreich, Spanien und Italien), und den Netto-Beitragszahlern (Deutschland, Großbritannien und Dänemark).
Eine vor kurzem überraschend zustande gekommene Einigung zwischen Chirac und Schröder sieht eine Lösung vor, die sich weitgehend zugunsten der französischen Seite auswirkt: Die GAP bleibt bis zum Jahr 2006 in Kraft und wird dann nach und nach abgebaut. Die neu aufzunehmenden Staaten im Osten erhalten einen gewissen Prozentsatz der normalen EU-Subventionen (einen Eingangssatz von 25 Prozent, der mit zunehmendem Abbau der GAP an das Niveau der West-Länder angeglichen wird). Dieses Abkommen zwischen Frankreich und Deutschland, das in den anschließenden Verhandlungen aller 15 EU-Mitgliedsstaaten nur geringfügig abgeändert wurde, ermöglichte eine rasche Einigung über noch offene Beitrittsfragen.
Blair verurteilte daraufhin öffentlich die Heuchelei der französischen Regierung, die von Hilfe für Afrika rede, während sie in Wirklichkeit den afrikanischen Farmern die europäischen Märkte verschließe. Chirac sagte seinerseits das französisch-britische Gipfeltreffen ab, das für den 3. Dezember in Le Touquet geplant war.
Die französisch-deutsche Entscheidung über die GAP hat die Blair-Regierung in eine schwere außenpolitische Krise geworfen. Die Bemühungen Londons um ein Bündnis mit den konservativen Regierungen in Italien und Spanien führten zu keinem rechten Ergebnis, nachdem auf dem Gipfel in Sevilla ihre Versuche, eine extreme Verschärfung der Einwanderungsbestimmungen durchzusetzen, am Widerstand Frankreichs und Schwedens gescheitert waren. In der britischen Presse befürchtet man eine Wiederkehr der französisch-deutschen Vormachtstellung in Europa wie zu der Zeit, als der französische Präsident François Mitterrand und der deutsche Kanzler Helmut Kohl die Einführung des Euro beschlossen und Großbritannien als vollendete Tatsache präsentierten. Blair blieb nur der schwache Trost, dass die 1-prozentige Erhöhung des GAP-Budgets in den kommenden Jahren wohl unter der Inflationsrate liegen würde.
Die französische Europaministerin Noëlle Lenoir sprach vom "Ende des anti-deutschen Pathos" in der französischen Diplomatie. Die französische Regierung weise ihre Vertreter in den EU-Gremien an, ihre diplomatischen Ziele den Wünschen der Verbündeten, "vor allem Deutschlands" entsprechend "zu präzisieren oder vielleicht sogar anzupassen". Diese Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland mag überraschen, da die Beziehungen zwischen den beiden Regierungschefs - Chirac und Schröder - bislang eher unterkühlt waren: Chirac hatte dem konservativen Herausforderer des Kanzlers, Edmund Stoiber, mitten im deutschen Wahlkampf den Kommandeurs-Stern der französischen Ehrenlegion verliehen.
Eine Vielzahl ökonomischer und geopolitischer Faktoren bedingen eine deutliche Annäherung der Positionen Frankreichs und Deutschlands. Beide Staaten geraten mit ihrem Haushaltsdefizit in Konflikt mit den Kriterien des Europäischen Stabilitätspakts, die es auf 3 Prozent des laufenden Haushalts beschränken. Deutschland liegt deutlich über dieser Grenze und Frankreich nur ganz knapp darunter. Die Regierungen beider Länder haben erkennen lassen, dass sie in Zeiten der Rezession eine Lockerung des Stabilitätspakts befürworten. Die geopolitische Bedeutung ihrer Defizite ist unverkennbar - die französische Regierung hat sich bereits bei früheren Gelegenheiten für eine Änderung des Stabilitätspakts ausgesprochen, weil die Länder der Eurozone nur durch eine höhere öffentliche Verschuldung ihre Streitkräfte auf Vordermann bringen könnten.
Die Kommentatoren der britischen Medien vermerkten außerdem, dass Frankreich und Deutschland, die gegenwärtig an der Spitze der europäischen Integration stehen, zugleich auch die meisten Bedenken gegen die Kriegspläne der USA im Irak haben. Schröder verdankte seine Wiederwahl einer pazifistischen Pose gegen die Offensive im Irak, und Frankreich beharrte auf langen Verhandlungssitzungen des UN-Sicherheitsrats, bevor es sich den Forderungen Washingtons beugte. Die britische Zeitung "Guardian" warnte Blair vor dem "Albtraum-Szenario", das entstehen könnte, wenn er sich mit seiner festen Unterstützung für die US-Kriegspläne in Europa isolieren würde.
Diese Äußerungen deuten auf die Grundfrage hin, um die es bei der gegenwärtigen Annäherung von Frankreich und Deutschland geht: die Gestaltung und geopolitische Orientierung der Macht Europas. Dabei ist nicht garantiert, dass dieses Zusammengehen von Dauer sein wird; mehrere EU-Mitglieder - insbesondere die italienische Regierung unter Silvio Berlusconi - stehen in einigen Fragen der französisch-deutschen Achse näher, während sie sich in anderen der britischen Unterstützung für Amerika anschließen.
Die britische Regierung fürchtet, dass die Entwicklung einer europäischen Politik, die sich Washington gegenüber weniger unterwürfig gebärdet, ihre traditionelle Vermittlerrolle zwischen der EU und den USA gefährden könnte. Sie reagierte daher auf die französisch-deutsche Einigung über die GAP mit heftiger Kritik an dem Vorentwurf für eine EU-Verfassung, den der ehemalige französische Präsident Valérie Giscard d’Estaing letzten Monat vorgelegt hat.
Dieser Entwurf enthält Ansätze zu einem einheitlichen europäischen Staat - einen "Kongress der Völker Europas" mit auf europäischer und nationaler Ebene gewählten Abgeordneten, die feste Wahl der Präsidenten des Europäischen Rats (in dem die europäischen Staats- und Regierungschefs zusammentreten) und von eigenen Präsidenten für die jeweiligen Arbeitsbereiche (Agrarpolitik, Transportwesen etc.) des Rats der Europäischen Union. Außerdem sollen weitere Befugnisse der nationalen Regierungen auf die europäischen Institutionen übergehen. Giscard d’Estaings Vorentwurf traf keineswegs auf allgemeine Zustimmung. Der deutsche Außenminister Joschka Fischer erklärte jedoch, dass er zwar nicht alle der vorgeschlagenen Institutionen unterstütze, eine europäische Verfassung aber, wenn es sie je geben solle, auf Giscards Entwurf basieren müsse, und zwar ohne lange weitere Detailverhandlungen.
Frankreich und Deutschland haben einen Gipfel anberaumt, auf dem sie ihre gemeinsame Haltung zu einer künftigen EU-Verfassung bekannt geben möchten. Chirac wird, das hat die französische Seite deutlich gemacht, auf einem Passus bestehen, wonach man sich in Fragen der "globalen Sicherheit" "gegenseitigen Beistand zusichert". Außerdem verlangt er von Deutschland eine verbindliche Zusage über die Finanzierung des Airbus A-400M - des europäischen Transportflugzeugs, ohne das Europa nicht unabhängig von den USA und der NATO militärisch tätig werden kann.
Der amerikanische Druck auf die Entwicklung der EU äußert sich nicht nur in dem verzweifelten Bemühen der britischen Regierung, die Gegensätze zwischen der EU und den USA unter dem Teppich zu halten. Auch Washingtons ständiges Drängen, die Türkei als EU-Mitglied aufzunehmen, ist ein kaum verhüllter Versuch, den eigenen Einfluss auf das interne Leben der EU zu erhöhen. Die Türkei, einer der wichtigsten Verbündeten Washingtons im Nahen Osten, hätte mit ihren 65 Millionen Einwohnern Anspruch auf eine starke Vertretung in den meisten europäischen Institutionen.
Die britische und die italienische Regierung, die Washington traditionell näher stehen, haben sich bereits für die Aufnahme Ankaras ausgesprochen. Giscard dagegen äußerte am 9. November, dass eine Mitgliedschaft der Türkei seiner Ansicht nach "das Ende der EU" bedeuten würde, und berief sich zur Begründung auf kulturelle Unterschiede und auf das rasche Bevölkerungswachstum in der Türkei. Sein Vorschlag, einen gemeinsamen Markt für Europa und die Regionen des Nahen Ostens zu schaffen, bei dem ein "Partnerschaftspakt" zwischen der EU und der Türkei denkbar wäre, zeigte allerdings, dass es ihm überhaupt nicht um kulturelle oder religiöse Fragen geht. Giscards einzige wirkliche Sorge gilt den Auswirkungen einer türkischen Mitgliedschaft auf das politische Kräftegleichgewicht innerhalb der EU.
Der Führer der Mehrheitsfraktion in der französischen Nationalversammlung, Jacques Barrot, wiederholte diese Bedenken, und Jean-Claude Juncker, der Ministerpräsident von Luxemburg, ließ ebenfalls erkennen, dass er keine Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wünsche. Am 13. November meldete sich Schröder zu Wort und sagte, er sei für eine "Annäherung" zwischen der Türkei und der EU, ohne die Frage der Mitgliedschaft direkt zu erwähnen. Ausdrücklich stellte er die "geopolitische Orientierung" der Türkei in Frage. Ein Europapolitiker der CDU, Elmar Brok, dachte öffentlich über einen Zwischenstatus für Länder in Grenzregionen der EU nach. Die für Dezember anberaumten Debatten über ein mögliches Beitrittsdatum der Türkei werden zweifellos recht hitzig ausfallen.
Die Auseinandersetzungen innerhalb der EU haben einen gemeinsamen Bezugspunkt: Ihre Heftigkeit rührt zu einem großen Teil aus der großen Besorgnis der herrschenden Klassen in Europa über die Beziehungen zu den USA und über die weitere Entwicklung der amerikanischen Außenpolitik. Die wechselnden Bündnisse zwischen den verschiedenen EU-Mitgliedsländern sind weitgehend durch ihre Haltung gegenüber den USA bedingt. Die zunehmend unausgewogene, unilaterale und militaristische Politik Washingtons muss schwere politische Krisen in der Europäischen Union auslösen.