Geiselnahme in Moskauer Musicaltheater auf brutale Weise beendet

Die Geiselnahme von etwa 800 Theaterbesuchern in Moskau durch eine Gruppe bewaffneter tschetschenischer Separatisten wurde in den frühen Morgenstunden des 26. Oktober auf brutale Weise beendet.

Unter Einsatz eines bisher unbekannten Beruhigungs- oder Nervengases stürmten Männer der Sondereinheiten "Alpha" und "Witjas" das von den Tschetschenen besetzte Theater und befreiten die seit Mittwochabend festgehaltenen Zuschauer des populären russischen Musicals "Nord-Ost". Unter den Zuschauern befanden sich Dutzende Kinder und Ausländer.

Die Gruppe der tschetschenischen Geiselnehmer bestand aus 32 Männern und 18 Frauen, die sich als Witwen von im Krieg mit der russischen Armee gefallenen Kämpfern bezeichneten. Sie hatten das gesamte Gebäude vermint und drohten es bei einem Sturmangriff durch Regierungstruppen vollständig zu sprengen. Die Frauen trugen Sprengstoffgürtel an ihren Körpern.

Die Tschetschenen hatten die russische Regierung aufgefordert, innerhalb von sieben Tagen den Krieg in der umkämpften Kaukasusrepublik zu beenden und den Abzug der Truppen einzuleiten. Im Laufe des Freitags verschärften sie ihre Forderungen und drohten, ab Samstag Vormittag mit der Erschießung der Geiseln zu beginnen, sollte die Regierung keinerlei Verhandlungsbereitschaft an den Tag legen. Sie machten deutlich, dass sie von ihrer Forderung nicht abrücken und den eigenen Tod in Kauf nehmen würden.

Die Bedingungen für die Geiseln während der Besetzung waren schrecklich. Seit Donnerstag früh durften sie nicht mehr auf die Toiletten und mussten ihre Notdurft im Orchestergraben verrichten. Es stank entsetzlich. Sie durften den großen Saal nicht verlassen, mussten auf ihren Stühlen sitzen bleiben und durften nicht schlafen. Die ganze Zeit verbrachten sie bei voller Beleuchtung. Lebensmittel ließen die Geiselnehmer nicht zu ihnen.

"Wir haben alle auf den Tod gewartet", sagte Olga Tschernjak, Redakteurin der russischen Agentur Interfax in einem ersten Gespräch mit ihrer Redaktion. Insbesondere die Frauen hätten immer wieder Angst und Schrecken verbreitet: "Sie haben uns immer gesagt, dass sie zum Sterben hierher gekommen seien und dass sie zu Allah wollten, und dass sie uns auf diesen Weg mitnehmen wollten."

Von der russischen Regierung wurde das Gebäude mit einem massiven Militär- und Polizeiaufgebot umstellt, ohne dass es jedoch zu ernsthafteren Schusswechseln mit den Besetzern gekommen wäre. Im Laufe des Donnerstags und des Freitags versuchten liberale Abgeordnete der Staatsduma Verhandlungen aufzunehmen, ohne allerdings mit den geringsten Vollmachten durch die Regierung ausgestattet zu sein. Die Regierung selbst unternahm während der gesamten Zeit keinen einzigen offiziellen Versuch, mit den Besetzern in Verhandlungen zu treten.

Samstag früh eskalierte die Situation, als aus bisher nicht geklärten Gründen zwei männliche Geiseln erschossen wurden. Aussagen anderer Geiseln zufolge wurden sie nicht unmittelbar hingerichtet, sondern bei dem verzweifelten Fluchtversuch eines Jungen, der die Situation nicht mehr ertragen konnte, erschossen.

Über die Lüftungsanlage des Theaters und die Kanalisation wurde von den Sondereinheiten das noch immer nicht benannte Gas ins Gebäude geleitet, das Geiseln und Geiselnehmer innerhalb kürzester Zeit betäubte. Um 5.35 Uhr wurde das Gebäude gestürmt. Die betäubten Geiselnehmer wurden von den Soldaten, soweit sie als solche erkannt wurden, auf der Stelle erschossen und die Geiseln in umliegende Krankenhäuser gebracht.

Erste Erleichterungen über das Ende der Geiselnahme und Erfolgsmeldungen der Regierung wichen im Laufe des Tages immer größeren Zweifeln an deren Vorgehen. Mittlerweile ist bekannt, dass bei der Erstürmung des Gebäudes nicht nur 67 Geiseln, wie es am Samstag Abend noch hieß, sondern 118 ums Leben kamen, und dass noch Dutzende in Lebensgefahr schweben.

Von den verstorbenen Geiseln wurde nur eine durch Schüsse getötet. Alle anderen sind durch das eingesetzte Gas erstickt oder vergiftet worden. Laut Angaben von Ärzten leidet ein hoher Anteil der in die Krankenhäuser Eingelieferten noch immer an Vergiftungserscheinungen und befindet sich "in kritischem Zustand". Die Regierung bleibt indessen bei ihrer Behauptung, dass keine "Spezialmittel" mit "gesundheitsschädigender Langzeitwirkung" zum Einsatz gekommen seien.

Putin und Tschetschenien

Die brutale Beendigung des Moskauer Geiseldramas wie auch das Geiseldrama selbst zeigen deutlich das wahre Gesicht des Kremls. Die Regierung Putin war nicht bereit, die geringsten Zugeständnisse an ihre politischen Gegner zu machen, auch nicht um das Leben von Hunderten unbeteiligten Geiseln zu schonen. Ihr ging es ausschließlich darum zu beweisen, "dass sich Russland nicht in die Knie zwingen lässt", wie Putin nach Beendigung der Geiselnahme in einer Ansprache an die Nation erklärte.

So sehr die Geiselnahme durch die tschetschenischen Separatisten verurteilt werden muss, ist klar, dass die Hauptverantwortlichen für diese Tragödie im Kreml selbst sitzen. Durch ihre jahrelange Politik des Terrors in der Kaukasusrepublik haben sie den Boden für diese und noch schlimmere Verzweiflungstaten bereitet.

In zwei Kriegen, von 1994 bis 1996 und wieder seit 1999, sind bisher mindestens 80.000 Menschen ums Leben gekommen, während ein Leben in der Nordkaukasusrepublik völlig unmöglich geworden ist. Willkür und Terror kennzeichnen der Herrschaft der russischen Armee über Tschetschenien. Alle größeren Ortschaften sind völlig zerbombt, und die Bewohner werden mit ständigen Hausdurchsuchungen, Entführungen, Vergewaltigungen, willkürlichen Hinrichtungen und Erpressung terrorisiert.

Der Kreml reagiert auf die separatistischen Tendenzen im Kaukasus und das Vordringen der westlichen Großmächte in die Region, indem er - wie schon das zaristische und das stalinistische Regime - gnadenlos die Keule des großrussischen Chauvinismus schwingt und über die Bedürfnisse und Rechte der örtlichen Bevölkerung hinwegtrampelt. Er verbaut damit jede Möglichkeit für eine demokratische Lösung der Nationalitätenfrage und verleiht den extremsten Nationalisten Auftrieb, bei denen sich feudale Stammesstrukturen, mafiöse Verbindungen und religiöser Fanatismus oft zu einem unentwirrbaren Knäuel verbinden.

Ein Nachdenken über diese Zusammenhänge steht für Putin außer Frage. Er bezeichnete die Geiselnehmer nur als "Abschaum" und "internationale Terroristen" und beharrte darauf, dass die ganze Aktion aus dem Ausland gesteuert sei. Doch selbst wenn die Geiselnehmer Verbindungen zu islamischen Fundamentalisten in andere Ländern unterhalten sollten, ist es offensichtlich, dass erst Putins Politik die Voraussetzungen geschaffen hat, unter denen solche Kräfte unter Tschetschenen Einfluss gewinnen konnten.

Viele tschetschenische Freischärler studierten an sowjetischen Universitäten, machten Karriere in der sowjetischen Armee und wandten sich erst unter dem Eindruck des Krieges dem Islamismus zu. Arbi Barajew, dessen Neffe Mowsar die Geiselnehmer anführte, war in der Sowjetunion Verkehrpolizist.

Putins unnachgiebige Haltung gegenüber den Tschetschen hat vor allem auch innenpolitische Gründe. Durch das Anheizen der Stimmung gegen die Rebellen im Kaukasus ("Ersäuft die Banditen in der Latrine") sicherte er sich 1999 die Unterstützung der russischen Rechten und gewann die Präsidentenwahl. Bereits im August hatte er, von Boris Jelzin zum Regierungschef ernannt, einen zweiten Krieg gegen Tschetschenien entfesselt, nachdem seine Regierung Tschetschenien 1996 im Frieden von Chasswjurt noch eine gewisse Eigenständigkeit zugesichert und im Januar 1997 die dortigen Präsidentschaftswahlen anerkannt hatte.

Dieser zweite und immer noch andauernde Krieg bildete den Vorwand für eine enorme Stärkung des Staatsapparats. Die Macht der Geheimdienste, von Polizei und Armee wurde ausgeweitet, die Medien einer faktischen Zensur und der Kontrolle des Kreml unterworfen. All dies unter Umständen, unter denen die soziale Lage der Bevölkerung miserabel ist.

Hatte es Anfangs noch vereinzelt internationale Kritik am russischen Vorgehen in Tschetschenien gegeben, so ist diese seit dem 11. September weitgehend verstummt. Als Gegenleistung für die Unterstützung der USA im Afghanistankrieg erhielt Putin freie Hand in Tschetschenien. Washington betrachtet das russische Vorgehen gegen die tschetschenische Bevölkerung seither als legitimen Bestandteil des "Kriegs gegen den Terror". Bundeskanzler Gerhard Schröder sprach sich für eine "differenziertere Haltung" aus. Jegliche Anspielung und Aufforderung zur Einhaltung der Menschenrechte gehört nun von offizieller Seite der Vergangenheit an.

In Russland hatte die Unterstützung für den Tschetschenienkrieg vor der Geiselnahme spürbar nachgelassen. Umfragen zufolge sprachen sich unmittelbar vor der Geiselnahme nur noch 40 Prozent der Russen für den Krieg aus. Vor drei Jahren waren es noch nahezu 80 Prozent. Spontan versammelten sich am Donnerstag und Freitag Hunderte auf dem Roten Platz vor dem Kreml und demonstrierten gegen die Fortsetzung des Krieges, der mit der Geiselnahme auch die Hauptstadt erreicht hatte.

Loading