Mit dem neuen Album "Mensch" meldete sich der Sänger Herbert Grönemeyer diesen September nach vier Jahren wieder in der Öffentlichkeit zurück. Nach dem tragischen Tod seiner Frau und seines Bruders, die 1998 beide einem Krebsleiden erlagen, hatte sich der 46-jährige Musiker völlig ins Private zurückgezogen. Der grandiose Erfolg seiner neuen CD zeigt die große Popularität, die er auch über eine lange Pause hinweg besitzt.
Spätestens seit der Veröffentlichung seines Albums "Bochum" 1984 zählt Grönemeyer zu den bekanntesten deutschen Rockmusikern. 1956 wurde er in Göttingen geboren, bald darauf zog die Familie nach Bochum um, wo Grönemeyer aufwuchs und schon früh musikalisches Interesse entwickelte. Bereits zu Schulzeiten spielt er in verschiedenen Bands und liefert seine ersten Kompositionen für das Bochumer Schauspielhaus ab. Danach wird er als Schauspieler und musikalischer Leiter des Bochumer Schauspielhauses unter Peter Zadek engagiert. Außerdem nimmt er ein Studium der Rechts- und Musikwissenschaften auf. Das erste Album veröffentlicht er 1979.
Als Schauspieler wurde Herbert Grönemeyer vor allem durch seine Rolle in Wolfgang Petersens Spielfilm "Das Boot" bekannt, welcher vom Schicksal einer deutschen U-Boot-Besatzung während des zweiten Weltkrieges handelt.
Nach seinem Durchbruch mit "Bochum" konzentrierte er sich ganz auf die Musik, weitere bekannte Alben, welche in der Folgezeit erschienen, waren "Sprünge" (1986), "Ö" (1988), "Luxus" (1990), "Chaos" (1993) und "Bleibt Alles Anders" (1998), außerdem die englischen Alben "Luxus", "Chaos" und "What’s all this".
Grönemeyer bildet eine Ausnahme gegenüber den meisten die Medien beherrschenden Popstars, bei denen es sich um reine Kunstprodukte handelt und deren Erfolg auf einer ausgeklügelten Marketingstrategie beruht. Er versteht sich als Künstler, der seine Gefühle, seine Stimmungen und persönlich Erlebtes in den Songs verarbeitet.
Viele seiner bekannten Songs, wie "Was soll das", sind selbstironisch und besitzen Situationskomik. Er nähert sich Menschen von einer Seite, die viele in der heutigen Leistungsgesellschaft als "schwach" betrachten, wo sie Gefühle zeigen und verletzlich sind. Meistens ist Liebe das Thema seiner Songs, und meiner Meinung nach sind diese Songs seine größte Stärke. Titel wie "Morgenrot", "Halt Mich" oder "Flugzeuge im Bauch" bringen ein starkes, ehrliches Gefühl zum Ausdruck. Sie zeigen dabei Menschen von ihrer stärksten, edelsten und großherzigsten als auch von ihrer verletzlichsten und damit schwächsten Seite. In diesen Momenten sind die Grenzen von Menschen zueinander am stärksten aufgehoben.
"Morgenrot" ist eine fanatische Liebeserklärung, mit dem Versprechen, jemand Anderem das Leben so schön wie möglich zu machen. "Halt Mich" schildert das Gefühl, sich ganz in seiner Liebe fallen zu lassen, und "Land Unter" gegenseitiges Vertrauen und das Festhalten zweier Menschen in "aufgewühlter See" und "Sturm". Dagegen zeigt "Flugzeuge im Bauch" einen Menschen, der merkt, dass er seinem Partner nichts mehr bedeutet, dieser ihm nur noch was vorspielt, und der sich gefühlsmäßig tief verwundet versucht loszureißen.
Die neue CD "Mensch" ist vor allem eine Verarbeitung und Auseinandersetzung mit den Schicksalsschlägen der letzten Jahre. Grönemeyer lebt im Moment als alleinerziehender Vater mit seinen beiden Kindern in London. Über das neue Album erklärt er, dass er sehr verzagt und zögerlich mit den Aufnahmen begann, und sich schließlich auch ein Limit setzen musste.
Die Songs spiegeln die Erfahrung von echtem Verlust und Trauer wieder, und machen es zum Melancholischsten seiner Alben. Ein Song schildert das Gefühl der inneren Leere und des auf sich selbst zurückgeworfen Seins eines schwer verletzten Menschen. Im Mittelpunkt steht jedoch ein trotziger Optimismus, der sich nicht unterkriegen lassen will und der Musik Leichtigkeit und fast Heiterkeit verleiht. Der titelgebende Song "Mensch" ist der populärste der CD. Er bildet eine Hommage an die positiven, sozialen Eigenschaften des Menschen, die Fähigkeiten mitzufühlen, weiterzumachen, sich nicht unterkriegen zu lassen.
Woher kommt es, dass diese Themen und die Verarbeitung oft sehr persönlicher Erlebnisse so viele Menschen ansprechen?
Offensichtlich werden hier Dinge wiedergegeben, nach denen es in der Gesellschaft ein Bedürfnis und an denen es auch einen Mangel gibt. Wenn man die Entwicklung weltweit und vor allem auch in Europa und Deutschland betrachtet, so hat sich in den letzten zwanzig Jahren das soziale Klima tiefgreifend gewandelt. Die soziale Schere klafft immer mehr auseinander. Die Rücksichtslosigkeit der Schichten, die von dieser Entwicklung profitieren, hat stark zugenommen.
Andererseits leben viele Menschen unter immer unsichereren Bedingungen: Der Druck an den Arbeitsplätzen steigt, viele sind von Entlassungen bedroht oder Jugendliche finden erst überhaupt keinen Job. Diese äußeren Bedingungen prägen natürlich das persönliche Leben. Unter Umständen, unter denen das gesellschaftliche Klima zunehmend rauer wird, wächst das Bedürfnis nach ehrlichen menschlichen Gefühlen, an denen ein offensichtlicher Mangel herrscht, und viele ziehen sich enttäuscht aus der Gesellschaft nach innen zurück.
Gleichzeitig bilden Grönemeyers Lyrik und Musik ein willkommenes Gegenmittel gegen die Resignation und Religiosität, die andere populäre deutsche Popkünstler wie Xavier Naidoo kennzeichnen. Grönemeyers große Popularität beruht darauf, dass er realistischer wiederspiegelt, was viele Menschen denken und fühlen, als die Kunstprodukte der Medienindustrie und das offiziell von Politikern verbreitete Bild.
Während Guido Westerwelle mit verkrampfter Jugendlichkeit und den Parolen "Spaß" und "Mehr Netto" an den Egoismus gesellschaftlicher Schichten appelliert, die von gesellschaftlicher Verantwortung nichts hören wollen, während Schröder und Stoiber streiten, welche sozialen Kürzungen "die Bevölkerung will" und der Focus titelt "Wen würde Ihr Geldbeutel wählen", kehren viele dem ganzen Politik- und Unterhaltungszirkus enttäuscht den Rücken und suchen mehr oder weniger bewusst nach Alternativen, welche ihren wirklichen Stimmungen und ihren Bedürfnissen entgegenkommen. Dem entspricht Grönemeyer mit seinem positiven Menschenbild und dem Appell an die mitmenschlichen, sozialen Eigenschaften des Menschen, welche er im Intimen, wie der Liebe, sucht.
Dass diese Eigenschaften so stark im Intimen gesucht werden, liegt an einer verbreiteten Desillusionierung über das gesamte politische Establishment unter Umständen, unter denen eine echte sozialistische Alternative in der Öffentlichkeit systematisch diskreditiert wird. Grönemeyer ist eigentlich ein sehr politischer Mensch, zumindest verfolgt er die politische Entwicklung in Deutschland sehr aufmerksam und scheut sich nicht, seine Meinung dazu zu sagen. Wenn er in seiner Musik Stellung nimmt, dann jedoch nur, indem er sich von der momentanen Politik distanziert, wie in "Reines Herz", wo er den Zynismus und das Machtdenken von Politikern kritisiert, oder indem er appelliert "Kinder an die Macht...".
Das Angebot eines Fernsehsenders, an einer Talkshow nach dem Rededuell der beiden Kanzlerkandidaten teilzunehmen, hat er abgelehnt. Beide seien gleich flach, und keiner von beiden habe eine Vision für ein kompliziertes, zerrissenes Land. Oder wie er in einem Interview im August erklärt hat, sind beide "Auslaufmodelle einer politischen Kaste, die einfach auch gar nichts mehr um sie herum versteht."
Während er die rechte und rassistische Politik der konservativen Parteien offen ablehnt, weigert sich Grönemeyer - anders als andere Pop-Sänger wie Wolfgang Niedecken (BAP) und Klaus Meine (Skorpions) - die SPD als "kleineres Übel" zu unterstützen: "Der Herr Schröder ist ein Mann fast ohne Visionen, die einzige, die er je hatte, war die Kanzler zu werden... Der hat sich noch nie Gedanken über politische Visionen gemacht."
Bereits die Jahre zuvor hat er sich oft in Interviews zur Situation in Deutschland geäußert: Die Sprachlosigkeit zwischen Ost und West werde immer ausgeprägter, und speziell im Osten fühlten sich die Leute vom Medientrallala (Schröders) zunehmend verschaukelt. Rechtsradikalismus im deutschen Osten habe vor allem etwas mit dem Gefühl des Alleingelassenseins zu tun und mit der "Überheblichkeit des Westens, der die Menschen im Osten nicht respektiert und sich auch nicht mit deren Geschichte auseinandersetzen will". "Intellektuell, politisch und kulturell gibt es niemanden, der der Situation gewachsen ist, weder für Deutschland noch für Berlin." Seiner Meinung nach geht das Menschliche zunehmend in Egotrip und Ich-AG verloren.
Grönemeyers eigenständige Ansichten, sein Einstehen für die eigene Meinung und sein Widerwille gegen die Oberflächlichkeit und Banalität der modernen Musikindustrie sind begrüßenswert und erfrischend. Gleichzeitig straft seine Popularität den Mythos Lügen, das breite Publikum habe kein Interesse an anspruchsvollerer Musik und Lyrik, der von den großen Musikkonzernen zum Zweck der Profitmaximierung verbreitet wird.