Im ödesten Gebiet der geistigen und moralischen Wüste, die sich amerikanischer Journalismus nennt, fristet ein ganz besonderes Wesen sein Dasein: der "pundit" - ein Kolumnist, der seine Artikel an mehrere Zeitungen verkauft. Er gilt als eine Art Guru und verabreicht dem Publikum die nötige Dosis an Zynismus, Lügen, Ignoranz, Habgier und Chauvinismus, um die öffentliche Meinung zu betäuben, in die Irre zu führen oder aufzuhetzen.
Im Zusammenwirken mit unzähligen Gönnern und Freunden unter den Geheimdiensten und den Mächtigen in Politik und Wirtschaft, mit denen sie Geheimnisse und Vertraulichkeiten austauscht, übersetzt diese Spezies die weitläufigen Interessen der herrschenden Elite in die ihnen angemessene Propaganda. Natürlich gibt es einige Ausnahmen - wie Paul Krugman, der in seinen Kommentaren für die New York Times gelegentlich persönlichen Mut zeigt und in nicht wenigen Kolumnen das zweifelhafte (den Begriff "kriminell" vermeidet er) Finanzgebaren führender Vertreter der Bush-Regierung einschließlich des Präsidenten und des Vizepräsidenten aufgedeckt hat. Krugman ist allerdings nur deshalb bemerkenswert, weil er aus dem Rahmen fällt. In ihrer Mehrheit werden die Kolumnen der amerikanischen Zeitungen von reaktionären und skrupellosen Halunken verfasst.
Anlass für diese Überlegungen ist eine Kolumne, die am 19. September in der Washington Post erschien. Der Verfasser, George F. Will, gehört zu den fragwürdigsten Figuren des amerikanischen Journalismus. Seit nahezu 25 Jahren hat sich Will, ohne je zu wanken, einem höheren Ziel verschrieben: Er verteidigt die Interessen der Reichen, die ihm wiederum den Dienst an ihrer Sache üppig entlohnten, so dass auch George F. Will selbst ein sehr reicher Mann geworden ist.
Wills Kolumne ist ein Lehrbeispiel für einen beliebten Kniff der reaktionären Kolumnisten: Falsche historische Analogien werden herangezogen, um das Verhalten des amerikanischen Imperialismus zu rechtfertigen. In einem Artikel, der vor kurzem auf der World Socialist Web Site erschien, stellten wir fest, dass die Regierung und die Presse in den USA ständig die Kapitulation Großbritanniens und Frankreichs vor Hitler im Rahmen des Münchner Abkommens von 1938 als Rechtfertigung für einen amerikanischen Krieg gegen den "Aggressor" Saddam Hussein anführen, obwohl gerade das Verhalten der Führer des amerikanischen Imperialismus die meisten Parallelen zu Hitlers Rolle in München aufweist. [http://www.wsws.org/de/2002/sep2002/irak-s19.shtml]
Letzte Woche entdeckte die Presse eine neue historische Analogie zwischen dem Völkerbund in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg und den Vereinten Nationen. Auslöser war die Rede von Präsident Bush vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Er hatte darin gewarnt, dass die UN ebenso untergehen würden wie der Völkerbund, wenn sie nicht den Krieg der USA gegen Irak unterstützten. Bush versuchte allerdings nicht, diese Analogie faktisch zu belegen.
Daher sah sich George F. Will berufen zu erklären, was unser werter Geschichtsforscher - der Präsident der Vereinigten Staaten - nun eigentlich gemeint hat.
"In Form des Irak erleben die Vereinten Nationen ihr Abessinien", doziert Will. "Das war der Name Äthiopiens, als Italien unter Mussolini im Oktober 1935 dort einmarschierte. Die Vorläuferorganisation der Vereinten Nationen, der Völkerbund, erwies damals seine Ohnmacht als Werkzeug zur Aufrechterhaltung der internationalen Ordnung."
Will hat genügend Wissenschaftler an der Hand, die ihm bei der Abfassung seiner Kolumnen helfen. Sie hätten ihm raten sollen, den Völkerbund lieber beiseite zu lassen. Wenn man die Ereignisse von 1935 ernsthaft untersucht, wenn man die Fakten und den historischen Zusammenhang zu ihrem Recht kommen lässt, dann sprechen sie gegen die USA.
Zunächst einmal haben sich die Vereinigten Staaten dem Völkerbund niemals angeschlossen. Präsident Woodrow Wilson hatte zwar entscheidende Anstöße zu seiner Bildung gegeben, doch der US-Senat hatte dem Gründungsvertrag die notwendige parlamentarische Zustimmung verweigert.
Diese Ablehnung illustrierte eine grundlegende Schwäche in den politischen Fundamenten des Völkerbunds, die auf die Realitäten einer imperialistischen Weltordnung zurückzuführen war: Er verfügte über keine wirksamen Mittel, eine größere kapitalistische Macht zu veranlassen, ihre nach eigenem Ermessen entscheidenden nationalen Interessen einem internationalen Konsens unterzuordnen.
Als sich in den 1930-er Jahren die Weltwirtschaftskrise verschärfte, die mit dem Börsenkrach an der Wall Street 1929 eingesetzt hatte, wurde der Völkerbund von unlösbaren Konflikten zwischen den großen imperialistischen Mächten zerrissen. Ein angeblicher Terroranschlag im Jahr 1931 (auf einen Abschnitt der Südmandschurischen Eisenbahn) wurde von der japanischen Armeeführung als Vorwand für einen Einmarsch in der Mandschurei benutzt. China rief daraufhin den Völkerbund um Beistand an. Doch die Japaner behaupteten entgegen der Wahrheit, dass China seine vertraglichen Verpflichtungen gebrochen habe, und lehnten jeden Vermittlungsversuch ab.
Die übrigen großen imperialistischen Mächte, insbesondere Großbritannien und Frankreich (auch die Vereinigten Staaten, obwohl sie nicht Mitglied im Völkerbund waren), hielten es nicht für ratsam, das japanische Reich zu diesem Zeitpunkt herauszufordern. Wenn nicht die Interessen einer anderen Großmacht in dem Maße betroffen waren, dass diese zu einem Krieg bereit war, sah der Völkerbund keinen Anlass, irgendeiner imperialistischen Großmacht in den Arm zu fallen, wenn sie ein schwaches, halbkoloniales Land drangsalierte. (1)
Der berüchtigte Einmarsch Italiens in Äthiopien im Oktober 1935 war eines von vielen Beispielen für die imperialistische Heuchelei und Brutalität, die dem Ausbruch des Weltkriegs zum Ende des Jahrzehnts den Weg ebnete. Der Einmarsch Italiens, den Mussolini als Diktator anordnete, um seinem krisengeschüttelten Regime den Glanz militärischen Ruhmes zu verleihen, wäre ohne die stillschweigende Zustimmung Großbritanniens und Frankreichs nicht möglich gewesen. Die französische und die britische Regierung hofften damals noch, Mussolinis Unterstützung gegen die für sie weitaus gefährlicheren imperialistischen Bestrebungen des Naziregimes in Berlin zu gewinnen, und unterstützten daher hinter den Kulissen Mussolinis Eroberungspläne in Ostafrika. Sie gaben Mussolini eindeutig zu verstehen, dass Großbritannien und Frankreich der allmählichen Umwandlung Abessiniens in ein italienisches Protektorat nicht widersprechen würden.
Mussolini aber ging es um eine militärische Eroberung, und seine Invasionspläne führten zu einer Belastung seiner Beziehungen mit Frankreich und Großbritannien - die nicht den Gebietsansprüchen des Diktators widersprachen, sondern den Mitteln, mit denen er sie erreichen wollte. Italien bestand jedoch darauf, dass es das Recht habe, in Äthiopien nach Belieben zu verfahren, da diese Frage seine vitalen Interessen betreffe und für die Sicherheit und Zivilisation Italiens von äußerster Wichtigkeit sei.
In der Absicht, ihre indirekte Unterstützung für die italienische Aggression zu vertuschen, sorgten Großbritannien und Frankreich für eine bedeutungslose Stellungnahme des Völkerbunds, die den Einmarsch in Äthiopien verurteilte. Diesem zahmen Protest folgten keinerlei Taten, weil keine der imperialistischen Großmächte ein wirkliches Interesse daran hatte, die Unabhängigkeit Äthiopiens zu verteidigen. Kaiser Haile Selassie richtete einen kläglichen Appell an den Völkerbund, er solle ihn unterstützen in diesem "ungleichen Kampf zwischen einem Staat mit mehr als 42 Millionen Einwohnern, der über die finanziellen, industriellen und technischen Mittel verfügt, um todbringende Waffen in unbeschränkter Zahl herzustellen, und auf der anderen Seite einem kleinen Volk von zwölf Millionen ohne Waffen und ohne Ressourcen..."
Der Völkerbund, ein willenloses Werkzeug in den Händen des britischen und französischen Imperialismus, kam Äthiopien nicht ernsthaft zu Hilfe. Die beschränkten Wirtschaftssanktionen, die er gegen Italien verhängte, klammerten die Öllieferungen aus, von denen Mussolinis Armee abhängig war. Hauptlieferant von Öl an Italien war kein anderer als die USA, die ihre Ölexporte nach Italien während des Äthiopien-Krieges verdoppelten. (2)
Der Völkerbund "scheiterte" nicht, weil sich schwache und unterentwickelte Länder nicht an internationale Gesetze gehalten hätten. Er brach deshalb zusammen, weil es keine Mittel gab, mit denen die imperialistischen Großmächte gezwungen werden konnten, bei der Verfolgung ihrer Interessen auf die Anwendung von Gewalt zu verzichten.
Wenn man überhaupt eine Analogie zu den Ereignissen von 1935 herstellen möchte, dann ist der Irak in der Rolle Äthiopiens. Die USA spielen die Rolle Italiens. Und England und Frankreich - sind eben England und Frankreich.
Dies, Mr. Will, war ihre Geschichtslektion für heute.
Anmerkungen:
1) Der amerikanische Historiker William Keylor schildert knapp und präzise die imperialistische Reaktion auf den japanischen Einmarsch in der Mandschurei. Das Außenministerium der USA, schreibt er, "riet amerikanischen Firmen weiterhin davon ab, mit dem nicht unerheblichen Rest von China, der von der Kuomintang kontrolliert wurde, Handel zu treiben oder dort zu investieren. Die amerikanischen Exporte strategischer Güter nach Japan gingen während der gesamten dreißiger Jahre ungemindert weiter." Nicht weniger ehrlos war das Verhalten des britischen Imperialismus. "Großbritannien zeigte noch weniger Neigung, eine Verstimmung Japans zu riskieren, nur um es von einem Gebiet fernzuhalten, das für Großbritanniens nationale Interessen keine besondere Bedeutung hatte. Einige Regierungsvertreter in London begrüßten sogar Tokios zunehmendes militärisches Engagement in Nordchina, weil es gelegen kam, um von der Region Ostasien abzulenken, die von Hongkong bis in den Süden nach Singapur reichte und für Großbritannien aus wirtschaftlichen und strategischen Erwägungen heraus von erheblichem Interesse war. Während des gesamten mandschurischen Zwischenfalls war die britische Politik in Ostasien von dem Bemühen geprägt, eine beiderseitig zufriedenstellende Aufteilung der gesamten Region in anglo-japanische kommerzielle und strategische Einflusssphären herbeizuführen." ("The Twentieth Century World: An International History", New York / Oxford 1996, S. 233)
2) ebd., S. 151