Zwei Tage vor den Bundestagswahlen wurde der Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele (Bündnis 90 / Die Grünen) auf offener Straße von einem Neonazi niedergeschlagen.
Ort des Geschehens war die Berliner S-Bahnstation Warschauer Straße in Ströbeles Wahlbezirk Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg Ost. Ströbele war gerade dabei, morgens an einem Infostand der Grünen Flugblätter zu verteilen, als ihn der Täter um 7.30 Uhr ohne jede Vorwarnung niederschlug. "Er kam von hinten und hat ihm mit einer Teleskopstange, einem so genannten Totschläger, auf den Hinterkopf geschlagen", sagte sein Wahlkampfleiter Dietmar Lingemann. Mit solchen Waffen kann man einen Menschen töten, indem man ihm die Nackenwirbel zerschlägt. Der Täter traf nicht genau, sodass Ströbele mit einer Gehirnerschütterung davonkam.
Ströbele sagte später, er habe zuerst gedacht, er sei von einem Lastwagen erfasst worden. Er konnte sich wieder aufrappeln und dem flüchtigen Täter folgen. Dieser wurde kurze Zeit später von Bauarbeitern festgehalten und von einer herbeigerufenen Polizeistreife gestellt.
Die Polizei gab anschließend bekannt, dass es sich um einen führenden Berliner Neonazi namens Wendt - der Vorname wird in der Presse als "Bendix J." oder "Hans-Christian" angegeben - handelte. In früheren Berichten der Polizei war Wendt als Symbolfigur für einen kontinuierlichen militanten Neonazismus bezeichnet worden, der immer wieder unter dem Begriff "Weißer Arischer Widerstand" operiere.
Wendt, der aus Wandlitz (dem bevorzugten Wohnort der DDR-Regierungsangehörigen nordöstlich von Berlin) stammt und schon zu DDR-Zeiten der Neonazi-Gruppe "Vandalen" angehörte, saß bereits in den neunziger Jahren wegen politisch motivierter Straftaten im Gefängnis. Gegenwärtig laufen mehrere Verfahren gegen ihn wegen gefährlicher Körperverletzung, Hausfriedensbruch und wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen.
Der 35-Jährige gehört zu den Gründungsmitgliedern der mittlerweile verbotenen "Nationalen Alternative". Er gilt in der rechten Szene als Waffen- und Sprengstoffexperte. Nach Angaben eines Aussteigers aus der Neonazi-Szene soll er als "Wehrsportbeauftragter" für die NA tätig gewesen sein und bei Übungen auch scharfe Munition eingesetzt haben.
Im Oktober 1995 wurde Wendt wegen Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Er hatte den österreichischen Neonazi Peter Binder zu einer ehemaligen russischen Kaserne geführt, wo dieser Sprengstoff aus alten Panzerminen ausgebaut haben soll.
Wendt belastete Binder 1995 vor dem so genannten Briefbombenprozess in Wien. Ihm und einem weiteren Angeklagten wurde darin vorgeworfen, die Briefbombenserie im Dezember 1993 organisiert zu haben, bei der mehrere Menschen schwer verletzt worden waren. Dem Wiener Bürgermeister Helmut Zilk, einem Sozialdemokraten, war damals durch eine Briefbombe die linke Hand zerrissen worden. Binder bestritt die Tat, bekannte sich aber ausdrücklich zu seiner faschistischen Gesinnung. In diesem Verfahren wurden enge Beziehungen zwischen der deutschen und der österreichischen Neonazi-Szene sichtbar.
Außerdem soll Wendt den Neonazi Kay Diesner ausgebildet haben, der 1997 in Berlin mit einer Pumpgun auf das PDS-Mitglied Klaus Baltruschat in dessen Buchladen schoss und anschließend einen Polizisten tötete. Baltruschat ist seither schwer behindert.
Trotz dieser Vorgeschichte entschied der Haftrichter gleich am Tag des Anschlags, während Ströbele noch im Krankenhaus war, den Festgenommenen wieder auf freien Fuß zu setzen. Er sah die Voraussetzungen für einen Haftbefehl zwar gegeben, entschied aber auf Verschonung von der Untersuchungshaft. Der zuständige Justiz-Staatssekretär Christoph Flügge (SPD) rechtfertigte diese Entscheidung mit dem Argument, dass der Täter eine feste Wohnung und einen Arbeitsplatz habe und von daher keine Flucht- oder Verdunklungsgefahr bestehe. "Nur in ganz gravierenden Fällen", erläuterte Flügge gegenüber der Presse, "kann Untersuchungshaft auch unabhängig vom Vorliegen dieser Haftgründe verhängt werden, zum Beispiel bei Mordverdacht."
Die Kriminalpolizei hatte zunächst wegen Mordversuchs ermittelt, geht jetzt aber nur noch von Körperverletzung aus, da keine Zeugen die Tat direkt beobachtet haben.
Die Presse fügt sich in ihrer Berichterstattung weitgehend der Abwiegelung des Vorfalls. Auch aus den etablierten Parteien werden bislang keine weiter gehenden Fragen gestellt. Die Sprecher äußerten ihr Entsetzen und übermittelten Besserungswünsche, ansonsten geht man zur Tagesordnung über.
Dabei wirft der ganze Ablauf des Geschehens äußerst ernste Fragen auf.
Der Infostand Ströbeles an der Warschauer Straße war nicht öffentlich angekündigt worden, und die daran Beteiligten hatten den Termin für Freitag (20. September ) Morgen kurzfristig vereinbart. Trotzdem sprechen die Person des Täters, der Zeitpunkt der Tat und die Person des Opfers gegen einen Zufallsschlag, wie ihn die Polizei vermutet. Ein über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannter Neonazi wartet früh morgens mit einem Totschläger bewaffnet an einer Ecke in einem Viertel, das als Hochburg der Linken und Alternativen gilt, und trifft auf einen bundesweit bekannten linken Abgeordneten - das wäre eine unwahrscheinliche Häufung von Zufällen.
Unter den Berliner Grünen kursiert die Überlegung, dass der Angreifer womöglich den SPD-Kandidaten Andreas Matthae im Visier gehabt hatte, der für morgens um 10 Uhr einen Informationsstand in der Nähe der S-Bahn-Station angemeldet hatte. Matthae ist eher unbekannt und unauffällig; er gilt allerdings als Linker, weil er sich für ein Bündnis zwischen SPD und PDS einsetzt.
Besorgnis erregend ist in diesem Zusammenhang die enge Verflechtung zwischen den Geheimdiensten und der rechtsradikalen Szene in Deutschland, die in den vergangenen Jahren immer wieder an die Öffentlichkeit gekommen ist. Als Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums für Geheimdienste hat Hans-Christian Ströbele wiederholt die Aktivitäten des Verfassungsschutzes und des Innenministeriums in Bezug auf die rechte Szene kritisiert und eine bessere Aufklärung der Abgeordneten gefordert.
Im vergangenen Februar warf er Innenminister Otto Schily (SPD) eine unzureichende Informationspolitik im Hinblick auf die Vertrauensleute des Verfassungsschutzes vor, die in der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) aktiv waren. Das Verbotsverfahren gegen die NPD drohte damals daran zu scheitern, dass mehrere Führungsmitglieder, deren Aussagen als juristische Belege für die Verfassungsfeindlichkeit der NPD angeführt wurden, Vertrauensleute des Verfassungsschutzes waren. Ein Beispiel war der frühere NPD-Landesvorsitzende in Nordrhein-Westfalen, Udo Holtmann.
Im August forderte Ströbele in Presse-Erklärungen die Bundesregierung auf, das Parlamentarische Kontrollgremium über die Tätigkeit eines weiteren mutmaßlichen V-Mannes namens Mirko H. zu informieren, der in Songtexten auf einer CD neben ausländerfeindlicher Hetze zum Mord an Bundestagsabgeordneten aufrief ("...stürmt den Reichstag, räuchert sie aus, macht der Rattenbande den Garaus"). "Die bekannt gewordenen Vorgänge", heißt es in einer Presse-Erklärung aus Ströbeles Büro vom 14. August, "werfen - ähnlich wie im NPD-Verbotsverfahren - die Frage auf, wer diese Nazi-Aktivitäten letztlich mitverantwortete und ob der Staat solche Mordaufrufe nicht leicht hätte unterbinden können bzw. müssen."
Dasselbe gilt für den Mordanschlag auf Hans-Christian Ströbele selbst. Man muss die Frage stellen, ob es Beziehungen zwischen Wendt oder zwischen Wendts Umfeld und dem Verfassungsschutz gibt, die eine Erklärung für die offenkundigen Ungereimtheiten dieses Falls bieten.