Nachdem Massenunruhen in ganz Argentinien innerhalb von knapp zwei Wochen vier Präsidenten zum Rücktritt gezwungen haben, hat inzwischen eine Allianz aus diskreditierten peronistischen Politikern die Macht übernommen. Unterstützt wird sie dabei von der zweiten großen bürgerlichen Partei Argentiniens, der Radikalen Bürgerunion (UCR). Die jüngst eingesetzte Regierung von Präsident Eduardo Duhalde hat ein neues Wirtschaftsprogramm angekündigt, mit dem der Lebensstandard von Millionen Argentiniern aus der Arbeiter- und Mittelklasse noch erheblich stärker gesenkt werden soll.
Nur wenige Tage, nachdem das Land hinsichtlich seiner Auslandsschulden in Höhe von 141 Milliarden Dollar offiziell für zahlungsunfähig erklärt wurde, kündigte die Regierung am 7. Januar die Abwertung des argentinischen Peso um fast 30 Prozent an. "Wir befinden uns im Zusammenbruch. Argentinien ist bankrott", erklärte Wirtschaftsminister Jorge Remes Lenicov.
Der Abwertung, die in der vorausgegangenen Woche bereits als eine Selbstverständlichkeit angesehen wurde, war eine weitgehende Preiserhöhung und Warenmangel vorausgegangen; selbst lebenswichtige medizinische Präparate wie beispielsweise Insulin für Diabetiker wurden knapp.
Obwohl die neue Regierung behauptet, dass Supermärkte und der Einzelhandel versprochen hätten allein die Preise von Importwaren zu erhöhen, rechnen viele Argentinier mit einer Rückkehr zur Hyperinflation, wie sie das Land in den 1980-er Jahren erlebte. Jeder, der über Geld verfügte, gab es in den Tagen, bevor die Abwertung beschlossen wurde, mit vollen Händen aus.
Die Zahlungsunfähigkeit und die Abwertung bedeuten einen schweren Schlag gegen die Ideologen, die im "freien Markt" die Lösung für die gewaltige wirtschaftliche und soziale Krise in Argentinien und den übrigen sogenannten Entwicklungsländern sehen.
Argentinien war das leuchtende Vorbild der Politik des freien Marktes, wie sie sowohl von Washington als auch vom Internationalen Währungsfond (IWF) über Jahre gepredigt wurde. Unter der peronistischen Regierung von Präsident Carlos Menem wurde der argentinische Peso vor 11 Jahren zu einem festen Umtauschkurs von eins zu eins an den Dollar gebunden. Ein Minister erklärte damals, man sei nun in eine "körperliche Beziehung" mit den Vereinigten Staaten getreten. Der ökonomische Schritt wurde begleitet von Menems sklavischer Unterstützung für den amerikanischen Krieg gegen den Irak.
Argentinien wurde zur Quelle extrem hoher Profite für ausländische Großunternehmen, internationale Banken und Geldmarkt-Fonds, als das Land staatliche Unternehmen privatisierte und zweistellige Ertragsraten auf festverzinsliche Wertpapiere anbot, mit denen die steigenden Staatsschulden gedeckt wurden.
Menem, der bis vor kurzem wegen seiner illegalen Waffenverkäufe nach Ecuador und Ex-Jugoslawien - nur eine der vielen illegalen Machenschaften seines Verbrecherregimes - noch unter Hausarrest stand, wurde damals von Vertretern der Weltbank und amerikanischen Politikern als Lateinamerikas weitblickendster Führer gefeiert.
Die gleiche Politik führte zur weitgehenden Verarmung der argentinischen Bevölkerung. Die offizielle Arbeitslosenquote erreicht inzwischen 20 Prozent und mehr als 40 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze.
Als der Wert der US-Währung in den vergangenen fünf Jahren um 35 Prozent stieg, führte die feste Dollarbindung des Peso dazu, dass argentinische Exporte wegen ihrer vergleichsweise hohen Preise vom Markt verdrängt wurden. Die Reallöhne der argentinischen Arbeiter sanken im gleichen Zeitraum um etwa 35 Prozent.
Als der IWF und die Bush-Regierung Argentinien weitere Kredite verweigerten, versuchte Menems Nachfolger Präsident Fernando De la Rua (UCR) Anfang Dezember 2001, eine weitere Reihe von Sparmaßnahmen durchzusetzen. Daraufhin brachen Unruhen in der Bevölkerung aus. Mindestens 26 Menschen starben bei Konfrontationen mit der Polizei und bei Zusammenstößen vor Supermärkten und Läden, die in beinahe allen Landesteilen geplündert wurden.
Die landesweiten Erschütterungen gipfelten in einem Massenprotest auf dem Plaza de Mayo in der Hauptstadt Buenos Aires, der De la Rua zur Flucht aus dem Präsidentenpalast zwang.
Die Ernennung Duhaldes zum Präsidenten folgte dem Rücktritt eines anderen Peronisten, Adolfo Rodriguez-Saa, der kaum eine Woche im Amt gewesen war und seinen Abschied nahm, als die Massendemonstrationen in Buenos Aires die Absetzung sämtlicher Politiker forderten. Zwei parlamentarische Vertreter übernahmen für jeweils einige Stunden das Amt des Präsidenten.
Der Aufstieg Duhaldes, der eine "Regierung der nationalen Rettung" bilden möchte, hat eine ironische Komponente. Als Präsidentschaftskandidat hatte er bei den Wahlen 1999 gegen seinen Kontrahenten De la Rua derart schlecht abgeschnitten, dass sein Ergebnis einen Negativrekord in der Parteigeschichte der Peronisten darstellt.
Er war früher Vizepräsident in der Regierung Menem, dessen korruptes Regime wegen der Einführung der Dollarbindung des Peso weithin dafür verantwortlich gemacht wird, die Wirtschaft des Landes erdrosselt zu haben.
Duhalde wird sich nicht, wie vor kurzem noch vorgesehen, im März einer Wahl stellen, sondern möchte die letzten zwei Jahre der Amtszeit von De la Rua Präsident bleiben, ohne dies von der Bevölkerung legitimieren zu lassen.
Die Abwertung bedeutet, dass die Reallöhne der Arbeiter um ungefähr weitere 30 Prozent gekürzt werden. Das volle Gewicht der neuen Politik wird die Arbeiterklasse, die Arbeitslosen und große Teile der verarmten Mittelklasse treffen - alle, die keinen Zugang zu ausländischen Währungen haben.
Der Allgemeine Arbeiterbund (CGT), die peronistische Gewerkschaftsbewegung, hat deutlich gemacht, dass es von seiner Seite aus keine Opposition gegen diese Politik geben wird. Die korrupten und wohlhabenden Bürokraten, die den Gewerkschaften vorstehen, sind Teil desselben politischen Apparats wie Duhalde, der selbst ein Gewerkschaftsanwalt ist.
Obwohl die Runde von Protesten, die den Aufstieg Duhaldes begleitete, nicht direkt noch mehr Tote nach sich zog, lässt ein Zwischenfall erahnen, wie gespannt die gesellschaftlichen Beziehungen im gesamten Land sind. In La Floresta, einem Stadtteil von Buenos Aires, ermordete ein pensionierter Polizist, der als Sicherheitsdienst an einer Tankstelle arbeitete, drei junge Menschen im Alter zwischen 20 und 25 Jahren, weil sie die Polizeibrutalität bei den Protesten in der Hauptstadt angeprangert hatten.
Am Nachmittag umzingelten aufgebrachte Anwohner und Freunde der Opfer die Polizeistation, in der der Mörder festgehalten wurde. Benachbarte Straßen wurden mit brennenden Reifen blockiert, während sich die Demonstranten versammelten, auf Töpfe schlugen und "Polizisten sind Mörder" riefen. Dies wiederum rief eine brutale Reaktion der Polizei gegen die Demonstranten hervor.
An Silvester versammelten sich fast 2.000 Demonstranten aus ganz Buenos Aires in La Floresta, um mit einem Fackelmarsch der Ermordeten zu gedenken und die Polizeibrutalität anzuprangern.
Die Auswahl Duhaldes zum neuen Präsidenten gab derweil den Protesten vor dem Parlament eine neue und verhängnisvolle Wendung. Als er ernannt wurde, rannte ein 200 Mann starker Schlägertrupp seiner Anhänger aus dem Parlament heraus in die protestierende Menge und stieß mit den linken Demonstranten zusammen. Die Schläger, die mit Steinschleudern und Schrauben, Muttern und Kugellagern als Munition bewaffnet waren, verwundeten mehr als 30 Linke. Die Polizei schloss sich dem Angriff an und setzte Tränengas und Schlagstöcke gegen die linken Demonstranten ein, während sie die "Gruppen trennte".
Die Straßenschlachten zwischen rechten peronistischen Schlägern und linken Demonstranten sind ein unheilvolles Echo der sozialen und politischen Widersprüche, die das Land in den 1970-er Jahren zerrissen. Aus ihnen gingen damals die Todesschwadrone, die zuerst von der peronistischen Bürokratie organisiert wurden, und schließlich eine der blutigsten Militärdiktaturen Lateinamerikas hervor.
Ökonomische Kernschmelze
An der Wirtschaftsfront hat Duhalde die Beschränkungen aufrechterhalten, die Kontoinhabern nur das Abheben einer bestimmten Summe erlauben, auch wenn er versprochen hat, dass das Regime in den kommenden Wochen die monatliche Höchstsumme von 1.000 Dollar auf 1.500 Dollar erhöhen will.
Derzeit verfügen die Banken kaum über Reserven. Hätte die Regierung nicht am 1. Dezember den Ansturm auf die Banken beendet, so wären die argentinischen Banken erwiesenermaßen zahlungsunfähig gewesen. Ohne eine Dollarspritze aus der amerikanischen Staatskasse oder vom Internationalen Währungsfond könnte der weitere Druck auf die argentinische Währung dazu führen, dass die Banken Sparguthaben konfiszieren oder Kontoinhabern Pfennige für den Dollar geben. Die Banken haben vorgeschlagen, Sparguthaben für einen Zeitraum bis zu einem Jahr einbehalten zu können, wofür sie drei Prozent Zinsen zahlen würden. Nach einigen Berichten könnte die Regierung diese Periode auf sechs Monate verkürzen.
Vor dreizehn Monaten begann die Regierung De la Rua, scharfe Sparmaßnahmen, Steuererhöhungen und drastische Haushaltskürzungen durchzusetzen. Bei einer Wirtschaft, die seit mehr als einem Jahr nicht gewachsen war, bedeutete dies drastische Kürzungen in den Bereichen Bildung und Gesundheit. Die Maßnahmen drückten außerdem auf die Preise. Unter den Bedingungen der Deflation zahlten Kreditnehmer den Geldverleihern eine tatsächlich viel höhere reale Zinsrate als die vereinbarte, weil jeder Peso um so mehr Wert hatte, je später er zurückgegeben wurde.
Die Wirtschaft stagnierte weiter, die Steuereinnahmen gingen zurück und die massiven Auslandsschulden konnten nicht bedient werden. Der sinkende Verbrauch schreckte Investoren ab. Das Finanzkapital begann sich aus dem Land zurückzuziehen, was den Banken weitere Gelder nahm. Die Maßnahmen der Regierung, die gemäß den Vorschriften des Internationalen Währungsfonds handelte, schützten die Besitzer festverzinslicher Wertpapiere, verschlimmerten aber die Rezession. Der IWF bestand auf der Rückzahlung der Schulden ungeachtet des Umstandes, dass Argentinien wegen der Wucherzinsen mittlerweile mehr an Zinsen und Bedienungsgeld gezahlt haben dürfte, als das Land jemals ursprünglich an Krediten aufgenommen hatte.
Da der argentinische Peso fest an den Dollar gebunden war, schränkte die Flucht des Dollars aus der Wirtschaft die Binnennachfrage und die Steuereinnahmen zusätzlich ein, so dass weder der Staat noch der Privatsektor ihren Verpflichtungen weiter nachkommen konnten. Derzeit hat Argentinien insgesamt Rückstände in Höhe von 200 Milliarden Dollar, die sich aus privaten (62 Milliarden), staatlichen (132 Milliarden) und kommunalen (27 Milliarden) Schulden zusammensetzen. Für die absehbare Zukunft wird ein zunehmender Teil der Renten und Löhne in staatlichen Wertpapieren ausgezahlt werden.
Wenn sich das Geld verknappt, werden alltägliche Transaktionen unmöglich. So kündigte beispielsweise der Pharmazeutische Verband (COFA) des Landes in der vergangenen Woche an, dass die Lagerbestände vieler Medikamente bald erschöpft sind, da Großhändler nicht mehr liefern, wenn sie nicht in Dollar bezahlt werden.
Die Beschränkungen, die den Banken auferlegt sind, und die Entscheidung von vergangener Woche, den Schuldendienst auszusetzen, haben Argentinien vom Weltmarkt abgeschnitten. Angesichts der Komplexität des globalen Handels kann keine moderne Wirtschaft lange auf Kredite verzichten, ohne dass sich katastrophale Folgen einstellen. Unter den derzeitigen Bedingungen wird Argentinien bald nicht mehr über die wichtigsten Materialien verfügen, die die Industrie des Landes zur Produktion benötigt.
Exporteure verlangen nun von Argentinien die Vorausbezahlung von Waren in Dollar, die nur mit sehr hohen Verlusten auf einem parallelen Schwarzmarkt erworben werden können.
Hinsichtlich des stark umkämpften Getreidemarkt befürchtet man, dass argentinische Exporteure Marktanteile an ihre internationalen Konkurrenten verlieren werden, vor allem auf dem internationalen Markt für Weizen und Sojabohnen.
Viele der argentinischen Früchte werden auf Kommissionsbasis exportiert und in gigantischen Tiefkühllagern im holländischen Hafen Rotterdam gelagert. Von dort aus werden sie über einen gewissen Zeitraum hinweg verkauft, so dass die Exporteure flexibel und schnell auf vorteilhafte Preise reagieren können. Unter den derzeitigen Bedingungen können die Lager nicht mehr aufgefüllt werden.
Noch ernster ist die Lage beim Export von Investitionsgütern, wie beispielsweise das vor kurzem nach Australien gelieferte Atomkraftwerk. Solche Waren werden gewöhnlich durch komplexe und langfristige finanzielle Abkommen bezahlt, die durch die Einschränkung des Finanzflusses unmöglich geworden sind.
Obwohl Duhalde eine Politik versprochen hat, die die argentinische Industrie beschützt und Firmen, die Angestellte entlassen, zu Kompensationszahlungen verpflichtet, behält er doch die "Nulldefizit"-Politik seines Vorgängers bei und hat geschworen, die Zinszahlungen für Auslandsschulden wieder aufzunehmen, sobald seine wirtschaftlichen Notmaßnahmen gegriffen haben.
Die Folgen der finanziellen Implosion spürt man bereits in Brasilien, Chile und Spanien, Ländern mit engen wirtschaftlichen Verbindungen zu Argentinien. Spanische Banken und Unternehmen mit großen Investitionen in Argentinien sahen nach der Abwertung des Peso ihre Aktien an der Madrider Börse abstürzen. Duhaldes Vorschläge, dass Schulden bis zu einer Summe von 100.000 Dollar in Peso umgewandelt werden sollen und dass Rechnungen öffentlicher Versorgungsbetriebe (Strom, Wasser, Gas) nicht erhöht werden dürfen, um die Währungsabwertung auszugleichen, machen einen Zusammenbruch der Banken und schwere Verluste für ausländische Unternehmen, die im Zuge der Privatisierung ehemalige Staatsbetriebe übernommen hatten, nur noch wahrscheinlicher.
Spanisches Kapital hat mit großem Abstand die meisten Investitionen in Argentinien getätigt und insgesamt 41 Milliarden Dollar ins Land gebracht, um die ehemaligen Staatsbetriebe in den Bereichen Telekommunikation, Öl, Gas und Strom zu übernehmen.
Zwischen den Hammerschlägen der sozialen Proteste von vergangener Woche und den unnachgiebigen Forderungen des IWF nach einer weiteren Kürzung der Ausgaben einigte sich die herrschende Elite Argentiniens mit dem Wissen und Einverständnis der amerikanischen Bush-Regierung auf die jetzt zusammengestellte "Regierung der nationalen Rettung". Duhaldes Ernennung wurde von der Wall Street vorteilhaft aufgenommen: Argentinische Wertpapiere stiegen im Preis und der argentinische Aktienindex Merval zog nach der Einsetzung Duhaldes an.
Nichtsdestotrotz hat die Bush-Regierung signalisiert, dass sie nicht vorhat, Argentinien mit neuen Bürgschaften unter die Arme zu greifen. Dass Washington einen seiner ehemals engsten Alliierten in Südamerika im Stich lässt, macht ein Übergreifen der Schulden- und Wirtschaftskrise auf andere lateinamerikanische Länder noch wahrscheinlicher.
Gleichzeitig ist es unvermeidlich, dass es angesichts einer vollständig diskreditierten Regierung und fortwährend schrumpfender Einkommen von Arbeiterklasse und Mittelklasse in Argentinien zu weiteren sozialen Zusammenstößen kommt, die jene der vergangenen Wochen an Härte noch übertreffen werden.