Das Zugunglück von Brühl

Schwindende Sicherheit bei der Deutschen Bahn AG

Die Erinnerungen an das tragische ICE-Unglück von Eschede, bei dem im Juni 1998 101 Menschen den Tod fanden, sind noch nicht verblasst, da rückt die Deutsche Bahn AG mit einer neuen Katastrophe ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit.

Am vergangenen Sonntag, in der Nacht zum 6. Februar 2000, entgleiste im Bahnhof von Brühl in der Nähe von Köln der Nachtexpress D 203 während seiner Fahrt von Amsterdam nach Basel mit etwa 300 Reisenden an Bord. Die bisherige Bilanz: Acht Menschen starben, ein weiterer schwebt noch in Lebensgefahr. 46 Schwerverletzte lagen noch am Dienstagabend in umliegenden Krankenhäusern. Insgesamt wurden 149 Menschen verletzt.

Aufgrund von Gleisbauarbeiten wurde der Zug vor der Einfahrt in den Bahnhof Brühl auf das Gegengleis gelenkt, um die mit sechs Kilometern ungewöhnlich lange Baustelle zu passieren. Dazu verringerte der Lokführer die Geschwindigkeit auf vorgeschriebene 40 Kilometer pro Stunde. Danach beschleunigte er den Zug wieder auf etwa 120 Kilometer pro Stunde, obwohl die Geschwindigkeitsbeschränkung nach wie vor Gültigkeit hatte.

Bei der Durchfahrt durch den Bahnhof passierte der Zug eine weitere Weiche, die ihn wiederum auf ein Nachbargleis ablenken sollte, aber nur mit maximal 60 Kilometer pro Stunde belastbar ist. Die hohe Geschwindigkeit brachte den Zug zum Entgleisen. Er raste die Böschung hinunter und verfehlte haarscharf eine Baumgruppe. Die Lok bohrte sich in die Wand eines der nahegelegenen Einfamilienhäuser. Die nachfolgenden Wagen wurden zum Teil mitgerissen und dabei stark zerstört, andere stellten sich im Bahnhof quer und wurden gegen die Pfeiler der Bahnhofsüberdachung gepresst. Die Bergungsarbeiten sind zur Stunde noch im Gange.

Diesmal schien die Ursache des Unglückes schnell ausgemacht. Der Lokführer hatte sich nicht an die signalisierte Höchstgeschwindigkeit gehalten, sondern auf das Dreifache beschleunigt. Der gefundene Fahrtenschreiber zeichnete eine Geschwindigkeit von 122 Kilometern pro Stunde zum Zeitpunkt des Unfalles auf, die Katastrophe war so unvermeidlich.

Dennoch ist in diesem Zusammenhang das Sicherheitskonzept der Deutschen Bahn erneut ins Zentrum der Debatte gerückt und, wie sich zeigen wird, nicht zu unrecht. Zum Einen sind die Beweggründe des Lokführers für seine Handlung noch nicht klar, aber ganz sicher vorhanden. Er selbst konnte noch nicht vernommen werden. Obwohl nahezu unverletzt, liegt er mit einem schweren Schock in der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses. Auf der anderen Seite stellt sich natürlich die Frage, ob ein Sicherheitskonzept, das diesen Namen verdient, nicht auf Fehler dieser Art vorbereitet sein sollte.

Sowohl die Untersuchungen der Staatsanwaltschaft, die Ermittlungen gegen den Lokführer wegen fahrlässiger Tötung eingeleitet hat, als auch des Eisenbahn-Bundesamtes, das parallel dazu der Unfallursache nachgeht, konzentrieren sich besonders auf die Frage, weshalb der Lokführer den Zug vor dem Bahnhof derart stark beschleunigt hat.

Wie der Westdeutsche Rundfunk (WDR) am Mittwochabend berichtete, haben die Ermittlungen des Bundesamtes bereits einige Hinweise zutage gefördert, wonach der Lokführer durch widersprüchliche Anweisungen zumindest stark irritiert worden sei. So soll in dem bahnamtlichen Verzeichnis "Vorübergehende Langsamfahrstellen (LA)" für die Schadenstelle eine Geschwindigkeit von 120 Kilometern pro Stunde ausgewiesen worden sein.

Die LA dokumentiert jedem Lokführer von seiner eigenen Streckenkenntnis abweichende Informationen zur Strecke, besonders eben solche Stellen, wo eine geringere Geschwindigkeit als sonst üblich vorgeschrieben ist. Dazu muss man wissen, dass im Normalfall jeder Lokführer, noch bevor er das erste Mal eine Strecke selber fahren darf, diese sehr genau kennen muss, das heißt, er weiß in aller Regel, wann und wo er wie schnell fahren darf.

Doch versucht die Bahn den Lokführer noch immer voll verantwortlich zu machen, da, wie ein Sprecher erklärte, "ganz egal" sei, "was da (in der LA) drin stand, die Signalisierung ist für den Lokführer oberstes Gebot."

Aber auch die Signalisierung war wenig geeignet, dem Lokführer sichere Anweisung zu geben, wie der WDR berichtet. Einmal soll durch ein mobiles Baustellensignal tatsächlich eine Geschwindigkeit von 120 Kilometern pro Stunde angezeigt worden sein. Zum anderen fehlte auf der Strecke der Baustelle, die immerhin sechs Kilometer lang war, ein in bestimmten Abständen vorgeschriebenes Zwischensignal, das den Fahrer an die Geschwindigkeitsbeschränkung hätte erinnern können und ihn zum Abbremsen bewogen hätte.

Jeder Autofahrer weiß, dass an Autobahnbaustellen in Kilometerabständen eventuelle Geschwindigkeitsbeschränkungen erneut angezeigt werden, obwohl das erste Zeichen durch nichts aufgehoben wurde, das heißt, man plant dort bewusst ein, dass nur kurz wahrgenommene Signale sehr schnell wieder aus dem Bewusstsein der Fahrer schwinden können. Umso mehr ist eine solche Erinnerung bei einem Lokführer nötig, der bei Nacht allein in monotoner Fahrtätigkeit die Verantwortung für Hunderte von Reisenden trägt.

Die Verantwortlichen der Deutschen Bahn werden sich erst am kommenden Freitag den Vorwürfen stellen und eine Erklärung dazu abgeben.

Es wäre allerdings äußerst beschränkt, wollte man die Verantwortung der Deutschen Bahn AG für die jüngste Katastrophe ausschließlich an Fehlern festmachen, die unmittelbar die Verwirrung des Lokführers zur Folge hatten. Diese Fehler sind selbst nur die Folge einer Unternehmenspolitik, in der seit Jahren die Sicherheit von Mitarbeitern und Reisenden systematisch untergraben wird.

Wie schon die Untersuchungen zu dem ICE-Unglück von Eschede zeigten, kam dort eine Kombination von zahlreichen einzelnen Mängeln zum Ausbruch, die einen gemeinsamen Nenner hatten, nämlich Kostenreduktion zum Zwecke der Konkurrenzfähigkeit auf immer härter umkämpften Märkten im Transportwesen insgesamt.

Seit die Deutsche Bundesbahn den Weg der Privatisierung gegangen ist, gab es eine Reihe von Entwicklungen, die Katastrophen wie in Eschede oder jetzt in Brühl als unvermeidlich erscheinen lassen.

Wenn der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn AG, Hartmut Mehdorn, sagt: "Die Sicherheit ist unser teuerstes Gut", ist das durchaus wörtlich zu nehmen: die Sicherheit als Potenzial für künftige Einsparungen.

Die Deutsche Bahn, mit 240.000 Beschäftigten größtes Transportunternehmen Europas, hat in den vergangenen vier Jahren bereits 120.000 Stellen abgebaut, darunter etwa 10.000 Lokführer. Das Ergebnis ist, dass z.B. in der Sparte Reise und Touristik die Beschäftigten über 100 Überstunden vor sich herschieben. Der Großteil der Beschäftigten lässt sich einen Teil der Überstunden ausbezahlen, anstatt sie in Freizeit wahrzunehmen, "weil es nicht anders geht", wie ein Sprecher der Gewerkschaft berichtet.

Im Januar diesen Jahres gab es bereits Ankündigungen weiterer Einsparungen in Höhe von drei Milliarden Mark bis zum Jahr 2004, was nach Gewerkschaftsangaben etwa 70.000 Stellenstreichungen bedeutet, darunter mit 6.800 ein Drittel (!) aller Lokführer.

Des weiteren wurde im Zuge der Privatisierung die Bundesbahn in zahlreiche Gliederungen zerlegt, so z.B. Fernverkehr, Nahverkehr und Güterverkehr von einander getrennt, unter anderem mit der Folge, dass Lokführer auf Fernzügen auf die Monotonie dieser Tätigkeit festgelegt bleiben, wo sie früher zwischen den einzelnen Bereichen im Wechsel eingesetzt werden konnten. Übermüdungserscheinungen konnte so leichter vorgebeugt werden.

Ein anderer Aspekt, der nicht ohne Auswirkungen auf die Sicherheit bleiben konnte, ist die Auslagerung der Verantwortung für Gleisbauarbeiten an private Unternehmen, die kaum oder gar keine Kenntnis vom Bahnbetrieb haben. In der Vergangenheit waren in solchen Bautrupps stets erfahrene Eisenbahner vertreten, deren Kompetenz eine wirksame Sicherung von Baustellen garantieren konnte. Zahlreiche mittelschwere Unfälle in den letzten Jahren standen im Zusammenhang mit Gleisbauarbeiten, und es verdichten sich die Vermutungen, dass auch der jüngste Unfall in Brühl eine Ursache in der mangelhaften Absicherung solcher Arbeiten hatte.

Die Ausbildung von Lokführern hat in den letzten drei Jahren eine Veränderung erfahren, die ebenfalls der Sicherheit wenig zuträglich ist. Während früher eine Lokführerausbildung 18 Monate dauerte, so ist es heute möglich, mit einem bereits erlernten technischen Beruf innerhalb von nur sieben Monaten das Recht zu erwerben, Züge mit bis zu 1.200 Reisenden und mit Geschwindigkeiten bis zu 200 Kilometern pro Stunde allein zu lenken.

Der unglückliche Lokführer des D 203 selbst war zwar in 18 Monaten ausgebildet worden und anschließend bei einem privaten Bahnunternehmen fünf Jahre in Beschäftigung, wurde aber nach seiner Rückkehr zur Deutschen Bahn im August 1999 in nur drei Monaten auf den Fernverkehr vorbereitet. Zu seiner Lehrzeit war es übrigens noch Vorschrift, dass zwei Lokführer gemeinsam auf einer Lok arbeiten und außerdem junge Lokführer sechs Monate lang unter Überwachung eines erfahrenen Kollegen eine sogenannte "gelenkte Beschäftigung" ausführen. Heute ist das nicht mehr so.

Nicht zuletzt werfen die angewandten technischen Ausrüstungen bei der Bahn ein grelles Licht auf das Sicherheitskonzept des Unternehmens. Helmut Holzapfel, Professor für Verkehrsplanung in Kassel, bezeichnet den Sicherheitsstandard der Deutschen Bahn unumwunden als "hinterwäldlerisch". Seit Dekaden würden die bestehenden Schienensicherungssysteme nicht weiterentwickelt.

Ein Lokführer kann, einmal auf das Gegengleis abgelenkt - wie bei Baustellen und auch im aktuellen Fall üblich -, buchstäblich "machen, was er will", ohne durch Vorkehrungen wie z.B. die induktive Sicherung, die auf dem Gegengleis nicht funktioniert, daran gehindert zu werden. Diese induktive Sicherung bremst ansonsten den Zug automatisch ab, wenn der Lokführer Vorschriften oder Signale einmal nicht beachtet oder übersieht.

Die Liste sicherheitsrelevanter Mängel ließe sich noch weiter fortsetzen. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass das Management der Deutschen Bahn ganz andere Zielsetzungen hat, als die Sicherheit der Reisenden oder der Beschäftigten, ja, dass die Sicherheit diesen Zielsetzungen im Wege steht.

Hartmut Mehdorn gab dies auch wie selbstverständlich im Morgenmagazin des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF) bereits am Tage nach dem Unfall zur Kenntnis. Bei den genannten Einsparungen gehe es "nur darum - wie überall in der Industrie üblich - die Effizienz des Unternehmens jedes Jahr um fünf Prozent zu steigern". Eine Steigerung, die es erreichen muss in harter Konkurrenz mit den Transportunternehmen auf der Straße, in der Luft und mit anderen privaten Eisenbahngesellschaften.

Wenn man sich diese Konkurrenz genauer betrachtet, so kann einem nur bange werden um die künftige Sicherheit bei der Eisenbahn. Die Gewerkschaft ÖTV befragte im vergangenen Sommer Berufskraftfahrer zu ihrer Arbeitsbelastung. Das Ergebnis war schockierend. 44% aller Befragten arbeiten zwischen 60 und 80 Stunden in der Woche, wovon wiederum 86% angaben, mehr als einmal beinahe eingenickt zu sein. 40% aller Befragten können die vorgeschriebenen Ruhezeiten nicht einhalten. Übermüdung kennt fast jeder, Sekundenschlaf und Beinahe-Unfälle sind weit verbreitet.

In anderen Transportbranchen ist die Lage nicht minder katastrophal. Piloten sitzen bis zu vierzehn Stunden im Cockpit, Taxifahrer haben 12-Stunden-Schichten zu fahren mit maximal 45 Minuten Pause. Es lässt sich leicht erahnen, welche Belastungen in der Zukunft auf die Lokführer und andere Beschäftigte der Deutschen Bahn zukommen werden, mit allen Konsequenzen für das "sicherste Verkehrsmittel der Welt".

Siehe auch:
ICE-Unglück von Eschede. Verantwortung der Deutschen Bahn AG erwiesen
(28. Mai 1999)
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